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In memoriam

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So fing es an. Es war der Tag, an dem ich den Einstieg fand in das, was man heute die „Friedliche Revolution“ nennt. Wenn du meine ungeordneten Selbstbetrachtungen einmal in die Hand bekommen solltest, werde ich „die schönste aller Welten“, wie sie ein französischer Dichter, dessen Name mir leider entfallen ist, einst ironisch nannte, bereits verlassen haben. Es wäre eine Lüge, wollte ich behaupten, dass ich dem Unausweichlichen gelassen entgegen sehe. Nein, manchmal packt mich die Angst, dann wieder die Resignation, meist aber ist es nur eine unglaubliche Leere. Besonders wenn ich darüber nachdenke, was von den über siebzig Jahren, die ich auf dem Boden unseres teuren Vaterland zugebracht habe, aufzeichnungswürdig sein könnte. Viel ist es nicht. Nichts für andere, wenig für mich selbst. Doch das ist wohl nichts Besonderes. Ja, ich hatte mir noch manches vorgenommen. Es wird unerledigt bleiben! Kein Problem! Bedenke ich, was für Unfug, Eitelkeiten und Lügen heute täglich in die Welt gesetzt werden, dann, mein alter Freund, muss man dem nicht unbedingt noch etwas hinzufügen.

Vor einigen Jahren habe ich begonnen, Tagebuch zu führen und Briefe zu schreiben, die ich niemals abschickte. Warum? Weil ich es für mich aufschrieb, was ich schreiben wollte. Du erinnerst dich, dass du mir das einmal vorgeschlagen hast? Der Gedanke gefiel mir damals. Heute auch noch. Deshalb habe ich tatsächlich irgendwann damit begonnen. Das war, als es mir schlecht ging. Später, rückblickend, habe ich dieses und jenes sogar ergänzt. Ich weiß, es war meine Flucht aus einer Welt, die mir immer unverständlicher wurde.

Und jetzt, in Sichtweite meines Abschieds, trage ich alles zusammen. Nein, kein Buch, eher ein paar Aufzeichnungen für meine Selbstfindung, mehr ist es nicht, soll es auch nicht sein. Deshalb habe ich auch Jana nicht gebeten, dir die Geschichte meines Nachwendelebens zu übergeben. Doch sie wird es tun. Da bin ich fast sicher. Tut sie es nicht, ist es auch gut. Erledigt! Falls aber doch, dann betrachte das Aufgeschriebene bitte als Erbteil deines mehr oder weniger gescheiterten Freundes.

Noch ein Wort zur Sprachlosigkeit. Eine Eigenschaft, die ich mit unserer letzten DDR-Regierung gemeinsam hatte. Sie in ihrer letzten Phase, ich in meiner ersten. Es steckt eben mehr in uns als Erinnerungen.

Gedanken sofort in Sprache umzusetzen, ist mir nicht gegeben. Daher die Tagebücher und deshalb die nicht abgeschickten Briefe. Ja, sprechen wäre leichter gewesen und richtiger auch. Nur, mit wem hätte ich sprechen sollen, außer mit dir? Du aber warst nicht greifbar. Nicht, wenn ich gerade einmal reden wollte. Mit Jana, meiner Frau? Mit ihr hätte ich sprechen müssen. Selbstverständlich! Aber früher, viel früher, nicht erst, als wir uns fremd und fremder wurden. Und erst recht nicht, nachdem ich ein viertel Jahrhundert meine Gedanken dem Papier anvertraut hatte. Jetzt geht es nicht mehr. Mir bleibt nur das Papier.

Hätte, könnte, würde! Wer spricht schon gern über das, was einen bedrückt? Ich konnte mich einfach nicht entschließen, das Maul aufzumachen, frei nach Martin Luther. Schreiben ist einfacher. Papier widerspricht nicht. Deshalb flüchtete ich in „mein Reich“, immer dann, wenn es kompliziert wurde. Und kompliziert war es eigentlich immer für mich. Deshalb blieb das Papier mein schweigender Beichtvater, nur das Papier. Ein viertel Jahrhundert! In schweren und auch in guten Stunden. Die Briefe, die ich geschrieben habe, die meisten an dich, waren immer für mich selbst bestimmt. Abgeschickt habe ich keinen. Warum? Ich sagte es ja, weil ich keine Antworten wollte. Die gibt es nämlich nicht. Dann kam sie, die tückische Krankheit, die mir das Ende ankündigte, unerbittlich und in relativ kurzen Etappen. Jetzt geht es nicht mehr, selbst wenn ich wollte.

Also wenn Jana sich so verhält, wie ich es annehme und wünsche, bekommst du nicht nur meine konfusen Gedanken, Notizen, Briefe und Aufzeichnungen in sieben Ordnern, sondern sie bereits aufgearbeitet. Gewiss, ein nachträglicher Spaß wäre es schon, zu wissen, dass du dich durch all das durchfressen musst, was ich in 25 Jahren zusammengetragen habe. Aber du bist ja mein Freund. Deshalb nehme ich dir viel Arbeit ab und verarbeite die Aufzeichnungen selbst in diese Skizze. Vorausgesetzt, meine Zeit reicht. Die Originale zu lesen, bleibt dir ja unbenommen.

Das Aufgeschriebene ist vor allem für Jana bestimmt. Wenn du es gelesen hast, wirst du wissen, warum. Für dich natürlich auch, denn du sollst mein Ansprechpartner sein und mein Medium. Vielleicht kannst nur du Jana dazu bringen, die kurzen Aufzeichnungen zu lesen. Als Erklärung. Mir würde viel daran liegen. Auch das gehört zu meinem Vermächtnis. Es ist nur schwer, den richtigen Einstieg zu finden. Vielleicht beginne ich unkonventionell, wechselnd mit dem Anfang und dem Ende? Egal! Du wirst mich schon verstehen.

Freunde sind wir seit dem Jahr 1947, wenn ich mich recht erinnere. Was für eine Zeit … Wie es dazu kam, habe ich vergessen. Es ist auch unwichtig. Wir waren und blieben es, abgesehen von kurzen Unterbrechungen in der Sturm-und-Drang-Zeit. Meist war die Ursache ein hübsches Mädchen, für das wir uns beide interessierten. Sie sich aber meist nicht für einen von uns, sondern für irgendeinen Dümmling. Na ja, das passiert eben. Gut so! Denn so blieben die Zerwürfnisse kurz, unsere Freundschaft lang.

Mit Prognosen war ich schon in der Schule nicht der Stärkste. Dazu fehlte mir die Fantasie. Doch ich schätze, zwischen dem Anfang und dem unausweichlichen, weil biologisch bedingtem, Ende unserer Freundschaft werden so annähernd siebzig Jahre liegen. Keine einfachen. Es sind wenige Menschen, denen es vergönnt ist, so lange „eines Freundes Freund zu sein“, wie der Dichter sagt, diesmal ein deutscher.

Seit einiger Zeit weiß ich, dass ich unheilbar krank bin. Vor Jana und unserem Sohn Waldemar Henry habe ich es lange verschwiegen, genau wie vor dir. Ja, manchmal hätte ich schon ganz gern darüber reden wollen. Du kennst sie ja sicher selbst, die Momente des Selbstmitleids, die abends einsetzen, etwa so nach dem fünften Gläschen. Manchmal zumindest! Doch nein, sagte ich mir, es bringt absolut nichts, Menschen, die einem nahe stehen, mit eigenen komplizierten Problemen zu belasten. Das bleibt meine Meinung, denn es ist zu spät, sie zu ändern.

Gesprochen habe ich manchmal über mich und das Ende mit Katarina. So heißt meine angehende Schwiegertochter. Sie ist ein Glücksfall für mich, denn sie fühlt meine tiefe Trauer, mein eigenes Unvermögen, und sie verlangt keine Erklärungen. Eine Seelenverbindung könnte man sagen! Ja, so etwas gibt es. Das erlebe ich gerade. Warum der HERR aber gerade diese und nicht jene Seelen verbindet, weiß ich nicht! In der Bibel fand ich dazu keine Antwort. Ich denke, es ist ein von der Vorsehung installierter Ausgleich dafür, dass heutige Ärzte keine Wunder mehr vollbringen können. Sie können es nicht, weil uns der Glaube an Wunder abhandengekommen ist in der Marktwirtschaft. An Wunder wollen wir nicht glauben, dafür an Hightech und sonstige Geräte. Wir verachten den Teil des Schamanismus in der Medizin, akzeptieren es aber, dass der Arzt zum Unternehmer geworden ist, kaum anders als der Manager, der Fleischer oder der Schweinezüchter. Die Zeit ist zu Geld geworden. Die Ethik zum leeren Begriff.

Na, ich will nicht meckern. Mein Hausarzt heuchelte nicht. Sein Gesicht sagte mir mehr als tausend Worte, als er es endlich vom Computer ab- und mir zuwandte. Den Rest sprach er dann doch aus, hart aber ehrlich. „Nichts mehr zu machen, mein alter Heinrich!“ Das war das Wesentliche. „Ein paar Wochen noch, vielleicht auch Monate. Niemand kann ewig leben. Also nutze die dir bleibende Zeit.“ – „Heilmöglichkeiten?“ Ich fragte es der guten Ordnung halber, nicht weil ich noch Hoffnung hatte. Er schüttelte langsam seinen Kopf. Nie ist mir etwas so endgültig vorgekommen wie dieses Kopfschütteln. Nach dem ersten heftigen Schock war ich ihm dankbar. Nichts ist schwerer zu ertragen als Lügen, höchstens Mitleid. Also warten. Tröstliches fügte er dennoch hinzu: „Mit etwas Glück kannst du noch vier bis sechs Wochen mit erträglichen Schmerzen leben. Was dann kommt heißt Morphium, und wie lange das hilft, weiß der HERR allein.“ Interessant, in welchen Zeiträumen man denken lernt.

Es ist Zeit, die letzte Bilanz zu ziehen. Freunde sind wir sechs Jahrzehnte und ein paar Monate dazu. Wir blieben es, auch als die Welten, in denen wir uns bewegten, immer verschiedener wurden. Dass Freundschaften den Einsturz einer Gesellschaftsordnung überdauern, kommt sicher auch heute noch vor. Doch geschlossen werden sie nach dem Nützlichkeitsprinzip, beendet ebenfalls. Dass unsere Freundschaft den Aufstieg des Einen und den Fall des Anderen überdauerte, dürfte einmalig sein oder zumindest beinahe. Bleib mir gewogen! Ich weiß, dass ich zeitweilig für mein Umfeld, meine Frau, meinen Sohn, auch für meine Schwiegertochter, diesen oder jenen Hauswirt, Nachbarn, Kollegen und auch für dich, ein schwieriger Fall war. Besonders dann, wenn ich mit mir selbst haderte. Und wann tat ich das nicht? Entschuldige, jetzt werde ich sentimental. Hören wir auf! Du hast mich schon verstanden und jetzt fange ich an mit der Geschichte meines Versagens.

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