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XII

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Es war in der dritten Juliwoche 1990. Die Währungsunion war gerade mal 14 Tage alt. Die Bundesrepublik hatte sich zuvor, mit Rückendeckung ihrer Verbündeten und der Schützenhilfe der frei gewählten Volkskammer der Noch-DDR, für den Anschluss und gegen einen Zusammenschluss beider Teile Deutschlands auf Augenhöhe entschieden. Mit weitreichenden Folgen. Damit wurde der Weg frei gemacht für den größten Coup in der Deutschen Geschichte nach der Umwandlung Ostpreußens vom Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum am 8. April 1525, in dessen Folge der gesamte dortige Kirchenbesitz an Fürstenhäuser säkularisiert wurde.

Den mit einseitiger Geschichtsbetrachtung aufgewachsenen DDR-Bürgern sagte der Begriff Säkularisierung zwar genauso wenig wie Ostpreußen, dafür denen, die sich Investoren nannten, vielleicht schon. Zugreifen hieß es, denn „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Und dann kamen sie, die Glücksritter, wie Schmeißfliegen, die einen frischen Haufen Scheiße wittern. Jetzt setzte sie tatsächlich ein, die Revolution. Das Wort „friedlich“ wurde erst einige Zeit später von den Gutmenschen beigefügt und vorangestellt. Aus der Sicht der Profiteure ist das sogar unbedingt richtig. Jeder Zweite im Beitrittsgebiet allerdings verlor in der Folge dieser Ereignisse seinen Arbeitsplatz, seine Ausbildung oder seine Heimat, und wird das vielleicht etwas weniger friedlich im Gedächtnis behalten haben.

In meiner und Janas Familie zum Beispiel traf es alle Angehörigen, obwohl niemand von uns der SED auch nur nahe gestanden hatte. Richtig so! Denn wir alle, der eine mehr, der andere etwas weniger, wollten ja die Freiheit. Und die bekamen wir, und andere auch! Jetzt bekam die Losung „jeder nach seinen Fähigkeiten“ eine völlig neue Bedeutung. Was wird danach kommen? Nicht mehr unser Problem! Uns wird es ja bald nicht mehr geben. Nur eins klingt mir noch in den Ohren, der Schlachtruf vom Leipziger Ring: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!“ Ja, sie kam zu uns, die D-Mark, und wir gingen trotzdem, nur weniger freiwillig!

Den Anfang bei der Arbeitslosigkeit machte, wie ich bereits andeutete, überraschend unser Sohn Waldemar Henry. An einem dieser hellen Sommerabende 1990 kam er mit hängendem Kopf nach Hause. In seiner Firma waren die Aufträge stark weggebrochen, hieß es. Die neue „vorläufige Geschäftsleitung“ versuchte das Unternehmen wieder marktfähig zu machen, versicherte der Chef. Deshalb hatte sich die neue Leitung für eines der Modelle entschieden, die die Statistik, vor allem mit Blick auf das Ausland, schöner färbten, am Faktischen aber nichts änderten. Es hieß „Kurzarbeit Null“ und bedeutete, der Arbeitslose tauchte nicht sofort in der Statistik auf. Geld bekam er auch, nur nicht von der Firma, sondern vom Steuerzahler. Arbeiten durften die Betroffenen nach diesem Modell nicht.

Arbeitslosigkeit kannten wir ja aus der DDR-Zeit nicht. Beinahe hätte ich gesagt leider. Deshalb war uns auch nicht sofort klar, was das wirklich bedeutete. Entsprechend unterschiedlich waren die Reaktionen in der Familie. Jana meinte, wenn es nur vorübergehend sei, dann wäre das ja nicht so schlimm. Die Lage würde sich schnell stabilisieren, dann ginge es richtig aufwärts hier im deutschen Osten. Das hat der Kanzler uns ja versprochen. Wir sollten uns an sein Wort von den „blühenden Landschaften“ erinnern. Das hatte sie tatsächlich so gemeint, wie sie es sagte. Sie ja! Ich wollte mich nicht aufregen, deshalb sagte ich ganz pragmatisch: „Junge, du bist doch Mitglied im vorläufigen Betriebsrat. Jedenfalls hast du es so erzählt. Da kannst du gar nicht entlassen werden. So steht es im Betriebsverfassungsgesetz, habe ich gehört. Du hättest es vielleicht einmal lesen sollen, wenn du dort schon mitmachen musst.“ Waldemar Henry sah mich mitleidig an. „Das habe ich, mein Alter, darauf kannst du Gift nehmen. Aber erstens bin ich nicht entlassen. ‚Kurzarbeit Null‘ heißt das Modell. Verstehst du nicht, stimmt es?“ – „Nein!“ Weiter sagte ich nichts. Waldemar Henry erklärte es mir. „Das ist eine neue Erfindung, die sie aus dem Westen mitgebracht haben. Ich bin entlassen, aber auch nicht. Ich brauche nicht mehr in die Firma zu gehen, bekomme aber trotzdem mein Geld. Ich erscheine nicht in der Arbeitslosenstatistik, bin aber arbeitslos. Kapiert? Wie lange das so geht, weiß ich nicht.“ Er sah deprimiert auf seine Fußspitzen.

„Und das schluckst du?“ Ich brauste in meiner Naivität auf! Waldemar Henry begann laut zu lachen. „Du wirst sie schon noch kennenlernen, die neuen Herren, mein lieber Papa Heinrich.“ Was sollte ich darauf antworten? Ich schluckte wieder meinen Ärger hinunter und blieb still. Irgendwie stimmte es ja überein mit meinen heimlichen Befürchtungen. Währenddessen hatte Ilona gelangweilt einen kleinen Spiegel und einen Stift aus ihrer Beuteltasche genommen und zog die Konturen ihrer Lippen nach. „Das ist doch kein Drama, Leute“, sagte sie gelassen. „Solange er Kohle einsteckt, musst er sich doch nicht schinden, wenn es auch ohne das geht. Weißt du was“, wandte sie sich an Henry, „ich frage morgen unseren Chef, ob die vielleicht bei der Stadt auch so ein Modell in der Tasche haben. Wie sagtest du heißt es, ‚Kurzarbeit Null‘? Klingt nicht schlecht. Ich glaube, das wäre etwas für mich. Führen sie das auch bei uns ein, würde es mich sowieso als Erste treffen nach der Sozialauswahl. Kein Kind, kein Kegel, nicht einmal einen richtigen Mann. Einen ohne Job, ja. Außerdem bin ich vorlaut, sagt unser Boss. Da melde ich mich lieber gleich freiwillig! Knete abholen ohne Arbeit. Da gibt es Schlimmeres. Wir machen uns noch ein paar schöne Tage, bis …“, den Rest verschluckte sie.

Da niemand antwortete, fragte sie nach einer Weile: „Was hältst du davon, mein arbeitsloser Hauptmieter?“ Waldemar Henry sah sie unsicher an. Es klang irgendwie kalt, mitfühlend jedenfalls nicht. Dann lachte sie. „Es ist ja nicht lebenslänglich. Gibt es keine Knete mehr, suchen wir uns eben was Neues, wo die Mauer doch jetzt weg ist. Ich denke, ich finde schon was. Wenn nicht hier, dann eben anderswo. Im Übrigen habe ich die Schnauze sowieso voll von dem allgemeinen Katastrophengeschwätz hier.“ Jana und ich sahen uns ratlos an. Was hätten wir den Beiden auch raten sollen?

Der einzige, der scheinbar klaren Verstand behielt, war zu meiner großen Verblüffung der Betroffene selbst, unser Sohn Waldemar Henry. Vielleicht wollte er die Initiative in seiner Beziehung zurückgewinnen, vielleicht ahnte er auch mehr als er sagte. Jedenfalls sprach er sehr gelassen. So, als teile er uns mit, dass er jetzt in den Konsum fahren und Bier holen würde. „Ich habe auch die Schnauze voll von all dem, was jetzt hier im Osten vor sich geht.

Genau wie du, mein Mäuschen! Immer mehr Schlipsmänner stiefeln in den Betrieben wie in ihrem Vorgarten rum. Sie spionieren und quatschen dumm. Das nennen sie beraten. Wer dagegen aufmuckt, fliegt! Die führen sich jetzt schon auf, als wären sie die neuen Herren. Gnade uns Gott, wenn die es werden sollten. Dann ist Deutschland wirklich einig Vaterland, nämlich das ihrige. Sie sind die Herren, wir die Knechte. Nein danke, mit mir nicht! Da kommt mir der de facto Rausschmiss gerade recht. Die alten Genossen waren schlimm, aber vor dem, was jetzt kommt, hilft uns kein Gott, kein höheres Wesen. Die werden nicht Ruhe geben, bis ihnen auch der letzte Nagel hier im Osten gehört.“ Ilona sah ihn merkwürdig spöttisch an, als ihr Lebensabschnittsgefährte seine Meinung auszubreiten begann.

Am liebsten hätte ich jetzt gesagt, dass er vorher darüber hätte nachdenken müssen, als er, wie alle, kritiklos der D-Mark hinterher gerannt sei. Doch als ich in Janas entsetzte Augen sah, schwieg ich lieber. Außerdem war ich ja auch mitgerannt. Dann sagte Jana so leise, dass ich es kaum verstand: „Junge, was hast du vor? Unsere Familie bricht auseinander, merkst du das nicht?“ Waldemar Henry schwieg. Nach einer unendlich scheinenden Pause erklärte er uns gelassen, dass Opa Waldemar ihm empfohlen habe, lieber gleich in den Westen zu gehen, bevor der Massenansturm der Arbeitslosen einsetzt. „Genau das werde ich tun.

Opa hat mir gesagt, dass er nach der Kriegsgefangenschaft zuerst ein paar Monate in Freudenbach im Siegerland gearbeitet hat. Dort hätte er auch eine Braut, Elli hieß sie wohl, gehabt. Das mit ihr konnte aber nichts werden, weil ihre Eltern gegen ihn waren und zu Hause seine Erna auf ihn wartete. Dass es eine Erna gab, wusste Elli aber nicht. Die sei zwar jetzt ein paar Jahrzehnte älter und verheiratet, doch er gehe ihr immer noch in ihrem früher so schönen Kopf herum, behauptet er. Das wisse er genau. Außerdem habe sie ein schlechtes Gewissen, weil sie glaubt, es hätte ihm das Herz gebrochen, als ihre Eltern ihn damals rausgeworfen hatten. Er hat ihr schon geschrieben und sie um Hilfe für mich gebeten. Die wird sich für mich einsetzen, hundert pro, hat Opa gesagt.“ Als ich ihn misstrauisch ansah, ergänzte er: „Das heißt, gesagt hat er es anders, so mehr in der Altmännersprache, aber gemeint hat er es so, wie ich es sage. Gute Fachleute werden immer und überall gebraucht. Nur hier nicht, weil die aus dem Westen hier alles plattmachen wollen. Die Konkurrenz soll ‚vom Markt‘ genommen werden, nennen sie das ‚Plattmachen‘ heute. Je schneller, umso besser!“

Waldemar Henry stand auf und ging hin und her. „Sobald die Antwort da ist, fahre ich und Ilona hole ich nach.“ Dann wandte er sich ihr direkt zu, die ihm bis jetzt mit nachdenklichem Gesichtsausdruck aber schweigend zugehört hatte. „Einverstanden, Mäuschen? So lange kannst du ja hier bei meinen Eltern bleiben.“ Mit uns vorher darüber zu sprechen, hielt er offenbar nicht für nötig.

Nach dieser sehr bestimmt vorgetragenen Erklärung folgte erst einmal ein allgemeines Schweigen. Auch mir fiel kein überzeugendes Gegenargument ein. Nach einer halben Ewigkeit sprach schließlich das Mäuschen, eiskalt und bestimmend: „Schön, dass ich das jetzt auch erfahre.“ Waldemar Henry wurde verlegen und sagte, dass er ihr das alles heute im Bett habe erzählen wollen. „So! Wolltest du das? Und du glaubst, ich mache, was du mir da vorschlägst und bleib allein in deinem blöden Kinderbett und warte monatelang auf einen Arbeitslosen? Nein, mein Lieber! Mach du nur deins, lass dich nicht aufhalten. Für das Bett hast du ja Fräulein Faust. Ich komme schon zurecht. Morgen wickle ich erst mal meinen Job ab. Ich werde einfach nicht mehr hingehen. Die Stütze sollen sie mir überweisen. Schluss, aus! Viel Glück, Henry. Es war ja ganz schön mit dir, manchmal wenigstens. Aber die Zeiten haben sich geändert. Für ein hübsches Mädchen gibt es immer Chancen. Vorausgesetzt, sie ist ohne Ballast! Du verstehst, was ich meine?“ Das letzte kam mit blankem Hohn an. Damit stand sie auf, packte Spiegel und Lippenstift provozierend langsam in ihre Beuteltasche, zog ihren Mantel über, sagte: „Tschüss alle miteinander“, und verließ unsere Wohnung und unser Leben.

Waldemar Henry war so getroffen, dass er zunächst nicht wusste, was er tun sollte. Erst rief er ihr ein paar Mal hinterher, war aber wohl doch zu stolz, um ihr nachzulaufen. Genützt hätte es sicher sowieso nichts, denn der Hinweis auf seine neue Stellung als Arbeitsloser ließ ja an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Jana und ich schwiegen. Den Fall mussten die jungen Leute schon untereinander klären. Ich war sowieso der Meinung, dass es besser für beide wäre, dass sie sich gleich noch hier trennten. Jana schwieg zunächst, dann sagte sie bedrückt: „Henry, wenn du fährst, packe ich dir deine Sachen. Rucksack oder doch lieber den Koffer? Hast du Geld?“ Er schüttelte mit dem Kopf. Ich war mir nicht sicher, was er meinte. Dass er kein Geld hatte oder die Kofferfrage nicht sofort gelöst werden müsste. Doch er klärte uns schnell auf. „Wir müssen die Antwort von Opas früherer Elli abwarten.“ Dann ging er schwerfällig in sein einsam gewordenes Kinderzimmer.

Was für ein Quatsch, dachte ich, Opas Uraltbraut wird sich bedanken, falls sie überhaupt antwortet. Ich sollte mich irren. Bereits zwei Tage später traf ein Telegramm ein. „Er kann kommen“, hieß es darin, sonst nichts. Einen weiteren Tag später fuhren Jana und ich unseren Sohn zum Bahnhof nach Leipzig. Waldemar Henrys Zug ging „8 Uhr 3 Minuten“. Den Abschied von ihm hatte ich mir zwar vorgestellt, manchmal sogar gewünscht, vor allem wegen seiner Ische und meinen Badegewohnheiten, aber eben doch nicht so abrupt, so endgültig. Jana weinte, Waldemar Henry war es peinlich, deshalb gab ich ihm nur die Hand. Auf einmal wurde mir klar, dass Jana und ich wieder allein sein würden. Das war zwar seit Langem mein geheimer Wunsch, aber jetzt, als es so weit war, kam mir plötzlich sogar unsere Wohnung groß und leer vor. Für lange Abschiedsszenen blieb keine Zeit. Wir waren auf den letzten Drücker eingetrudelt. Waldemar Henry stieg sofort ein, ich reichte ihm den Koffer nach oben und zwei Minuten später setzte sich der Zug Richtung Westen in Bewegung. Jana schluchzte an meiner Brust und ich sah in die Richtung, in die der Zug langsam verschwand. So etwas wie Trauer stieg in mir hoch. Nicht über Waldemar Henrys Abreise, sondern weil ich zu spüren glaubte, dass ein Riss durch unser Leben begonnen hatte. Dabei ahnte ich nicht einmal, dass Waldemar Henry lediglich so etwas wie die Vorhut war des in den Westen ziehenden Arbeitslosenheeres. Zwei Millionen sollten es bald sein. Die Pendler nicht mitgerechnet. Gedrückt fuhren wir nach Hause.

Das erste Lebenszeichen von Waldemar Henry aus Freudenbach kam etwa drei Wochen später. Er teilte uns mit, dass die frühere Braut von Opa Waldemar ihr Wort gehalten habe. Sie hätte ihm geholfen. Als Interimslösung habe sie einen ansehnlichen Raum über ihrem Waschhaus für ihn frei gemacht. Dort könne er wohnen, bis er etwas gefunden hätte. Einen kleinen Kredit von 500 D-Mark zu acht Prozent Zinsen hätte sie ihm für das Nötigste auch gegeben. Sogar ungefragt, damit er zumindest die Miete an sie bezahlen konnte. Einen Tag später wären Waldemar Henry und Opas ehemalige Elli gemeinsam auf Arbeitssuche gegangen. Sie wusste sofort zu wem, denn gleich der erste Versuch sei erfolgreich verlaufen. Er hätte einen Job als Kraftfahrer und Transportarbeiter für 1200 D-Mark brutto in einem mittleren Baubetrieb im Nachbarort bekommen. Meier & Meier hieß die Firma. Viel sei das zwar nicht, aber sein neuer Chef habe ihm eine winzige, dafür bezahlbare Anderthalb-Raum-Dachgeschosswohnung bei einer Bekannten besorgt. Die wiederum habe ihm gleich ein paar Möbel überlassen, die er sogar auf Raten abzahlen könne. Alles in allem wären die Leute nett zu ihm und hilfsbereit auch. Sein Lebensziel sei das zwar alles nicht, aber für den Anfang hätte es schlechter kommen können. Er sei noch dabei, seine Dachgeschosswohnung vorzurichten. Aus Ellis über dem Waschhaus liegenden Raum sei er aber schon ausgezogen. Gewissermaßen lebe er jetzt auf einer Baustelle.

Jetzt wäre er aber erst einmal untergebracht. Bald werde er sich trotzdem nach einem besseren Job mit mehr Kohle umhören. Vielleicht in seinem gelernten Beruf als Dreher. Falls das nicht klappe, wenigstens einen, bei dem er ein wenig schwarzarbeiten könne. Übrigens ersetze der Staat den Firmen für die ersten drei Monate die Lohnkosten, wenn sie einen rübergekommenen Ossi einstellten. Danach müsse er wohl ohnehin weitersehen. Über Ilona schrieb er kein Wort. Jana war glücklich, ich schüttelte über die letzte Mitteilung nur den Kopf.

Von Ilona hörten wir bald etwas, allerdings zunächst nur indirekt. Die Umstände, unter denen das geschah, waren für mich allerdings mehr als unangenehm. Zufällig traf ich den Vater ihres früheren Freundes, Krause Franz, in der Kaufhalle. Wir kannten uns, wie man sich eben so kennt in einem Wohngebiet. Ausweichen konnte und wollte ich auch nicht. Franz allerdings begrüßte mich wie einen alten Freund und fragte mich übergangslos, was denn bei uns zwischen Ilona und Henry vorgefallen sei. Vor drei Wochen wäre sie spätabends verheult bei ihnen aufgetaucht und hätte weinend erzählte, dass sie bei uns rausgeflogen sei. Über die Gründe habe sie nicht sprechen wollen. Er, also Krause Franz, habe sie, als Vater ihres einstigen Verlobten, zwar umgehend vor die Türe setzen wollen. Etwas anderes hätte sie ja nicht verdient, so wie sie damals mit dem armen Jungen umgesprungen sei. Damals, als sie von ihm weg und zu unserem ins Bett gewechselt sei. Aber wer hört schon auf die Sprache der Vernunft? „Meine Alte“, erzählte er, immer wütender werdend, „und vor allem dieser dämliche grüne Blödian“, damit meinte er seinen Sohn, „freuten sich, dass sie wiedergekommen war und schwupp zog sie wieder bei uns ein. Na, Schwamm drüber, wer nicht hören will, muss eben fühlen.“

Ich antwortete Krause Franz kurz und knapp, denn ich wollte ja mit ihm keine Feindschaft: „Nach einem eher harmlosen Streit hat sie ganz plötzlich und ohne richtigen Anlass unsere Wohnung verlassen. Dazu gedrängt oder gar gefeuert hat sie niemand. Das kann ich auf meinen Eid nehmen“, sagte ich noch und fügte dann einen versöhnlichen Schluss hinzu. „Ja, Franz, da wächst eine neue Generation heran, mit eigenen Spielregeln. Die kennen wir nicht, die müssen wir auch nicht verstehen.“ Ich wollte weiter, doch Franz wollte reden. Er nickte mir freundlich zu und sagte:

„Etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.“ Und dann legte er los. „Etwa 14 Tage später ist sie plötzlich wieder ausgezogen. Unserem Jungen, dem Blödian, hat sie lediglich einen unverschämten Zettel hinterlassen, das verdammte Luder. Sozusagen eine Quittung für seine Gutmütigkeit. Auf dem stand, Heinrich, ich will es dir nicht verschweigen, da ihr ja ebenfalls Betroffene seid. Obgleich ich mich als Vater für meinen Sohn schäme. Sie sei weg, stand auf dem Zettel, als hätten wir es nicht bemerkt. Er solle nicht traurig sein und sie vor allem nicht suchen. Das sei sinnlos! Es ginge nun mal nicht mit ihnen beiden. Sie hätte es mit ihm noch einmal versuchen wollen, aber er habe in der Zeit, in der sie weg war, nichts dazugelernt, gar nichts. Ihm fehle eben jegliche Bettbegabung. Es wäre besser für ihn, er würde sich keine neue Freundin suchen, sondern erst mal in einem Puff gewisse Erfahrungen sammeln, bevor er auch noch andere Mädchen langweile.

Genau so, Wort für Wort, hat sie es geschrieben, das verdammte Aas, das verdammte! Kannst du dir das vorstellen, Heinrich? Was sind das nur für Weiber heutzutage?“ Franz spuckte voller Verachtung aus. „Pfui Teufel auch!“ Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Ich schwieg lieber. Peinlich berührt wollte ich so schnell wie möglich verschwinden, bevor mich der redselige Franz noch zum Mitwisser von weiteren Intimitäten meiner „eventuell einmal Schwiegertochter“ machte. Wer konnte wissen, ob sie nicht auch noch eine Bettbeurteilung über Waldemar Henry zu Papier gebracht hatte? Ich nickte Franz schnell zu und verabschiedete mich von ihm, ohne den üblichen Handschlag. Er machte zwar eine Handbewegung, als wollte er mich noch einmal aufhalten, sagte aber nichts mehr.

Das nächste, was wir von Ilona erfuhren, erzählte sie uns, nur ein paar Wochen später, selbst. Das heißt, sie erzählte es Jana. Völlig überraschend hielt eines Abends ein silbergrauer Porsche vor unserem Neubaublock. Das war nicht gerade ein häufig gefahrenes Model in Wolfen Nord, deshalb erregte er viel Aufsehen. Aus ihm kletterte Waldemar Henrys frühere Gespielin, die Ische Ilona, aufgemotzt wie zum Leipziger Opernball, und klingelte an unserer Wohnung. Jana war allein zu Hause. Als sie öffnete und Ilona erkannte, war sie zunächst so verblüfft, dass sie sie sofort hereinließ. Schon damit die Nachbarn nicht mehr als unvermeidbar von dem unerwarteten Besuch mitbekamen, erzählte sie mir später. Ilona wollte eigentlich nur ihre restlichen Sachen holen, sagte sie Jana bei einer Tasse Kaffee und plauderte dann munter über ihr blendend schönes Leben im Westen. Als Waldemar Henry sie damals mehr oder weniger vor die Türe gesetzt habe, sei sie zunächst in ihrer Verzweiflung zu den Eltern ihres früheren Verlobten gegangen. Wo hätte sie denn sonst auch hinsollen mitten in der Nacht? Die hätten sie zwar aufgenommen, aber zu ihrem grünen Jungen ins Bett gesteckt. Jana könne sich ja denken, was sie da jede Nacht erwartet hätte, noch dazu mit so einem Stümper. Das alles sei ihr schwer zuwider gewesen, aber sie hätte nicht gewusst, wohin sonst.

Schließlich habe sie es nicht mehr ausgehalten und sich entschlossen, unserem Waldemar Henry nach Freudenbach im Siegerland zu folgen und ihn um Verzeihung wegen der ganzen Sache bei der Familie Krause zu bitten. Da sie Henry natürlich nicht gleich fand, hätte sie sich erst einmal in eine Pension eingemietet und wäre auf Arbeitssuche gegangen. Nach mehreren Versuchen hätte sie einen Job am Tresen eines Autohauses in der Nähe von Freudenbach angeboten bekommen und den Vertrag auch unterschrieben. „Bei denen boomt es gerade himmlisch“, plauderte sie munter weiter. „Die aus dem Osten kaufen ja alles an Gebrauchtwagen, was noch vier Räder hat. Natürlich zu stark überhöhten Preisen. Deshalb brauchen alle Autohändler zusätzliche Kräfte und gerne nehmen sie auch welche aus dem Osten. Mich, weil ich doch so schön sächsisch spreche, sagte der Juniorchef. Da fühlen sich seine Ostkunden gleich zu Hause, meinte er. Ich verstand schon, was er wirklich meinte, denn er stierte in meinen Ausschnitt, dass ich Angst bekam, seine Glubschaugen würden rausspringen. Meine Bewerbungsunterlagen interessierten ihn nicht weiter. Sofort hatte ich den Job. Entsprechend generös war dann auch mein Anfangsgehalt.“

Ja und dort sei sie schnell die rechte Hand des Juniorchefs geworden. Dessen Frau war ihm gerade mit einem Kunden durchgegangen. Der braucht Trost, habe sie gedacht, fügte sie noch hinzu, weil er ihr sofort deutliche Avancen gemacht und sich auf den ersten Blick regelrecht in sie verknallt habe. „Warum auch nicht, dachte ich damals. Die Westweiber sind doch alle verklemmt, besonders die katholischen. Deswegen sind die Kerle dort so scharf auf Ostbräute.“ Na schön, ein Adonis sei er nicht gerade, der Juniorchef, aber irgendwie wäre sie auch froh gewesen, in jener fremden Gegend Anschluss gefunden zu haben. Deshalb habe sie schließlich nachgegeben und sei zu ihm in seine Strohwitwerbude gezogen. Der hatte eben ziemlichen Notstand, wenn Jana verstehe, was sie meine. Außerdem habe sie sich gesagt, man kann auch viel schlechtere Partien machen als armes alleinstehendes Mädchen aus dem Osten. Überdies habe er versprochen, sie zu heiraten, sobald seine Scheidung durch sei. Was hätte sie denn sonst tun sollen, so alleinstehend wie sie war, im fernen Siegerland? Ja, hätte Henry sie gefunden und er wieder gewollt, hätte man vielleicht neu beginnen können. Aber der war immer noch stinkig und nachtragend. Einmal hätte sie ihn gesehen, aber er wäre, statt auf sie zuzukommen und mit ihr zu reden, auf die andere Straßenseite ausgewichen. So könne man mit ihr auch nicht umspringen. Na und dann kam das Angebot von dem Juniorchef. Sie habe zunächst, vor allem wegen der Erinnerung an Henry, gezögert. Schließlich war man doch ziemlich lange zusammen gewesen. Außerdem will ja alles reiflich überlegt sein. Immerhin habe man einen Ruf zu verlieren in einer so kleinen Stadt.

Bald habe sie gemerkt, dass er, der Juniorchef, es richtig ernst mit ihr meine. Als sie dennoch zögerte, habe er sein Angebot mit einem Heiratsantrag nach der Scheidung, wie sie schon erwähnte, und dem fast neuen Porsche als Brautgeschenk aufgestockt. „Der weiß wenigstens, was unsereiner wert ist, nicht wahr? Der Porsche, das ist übrigens der, der da unten vor der Türe steht. Wenn du möchtest, könnte ich mit dir eine Runde durch Wolfen Nord drehen.“ Mal ehrlich, da könne Henry wirklich nicht mithalten. Sie, Ilona, habe dann auch nicht mehr nein sagen können. „Das verstehst du doch, Jana, oder?“

„Ja, ich verstehe dich, Ilona. Du hast deinen Preis so hoch wie möglich getrieben. Gratulation! Meinen Glückwunsch hat er übrigens, dein neuer Lebensabschnittsgefährte. Das kannst du ihm ausrichten. Er wird sicher bald merken, was er für seinen Porsche bekommen hat. Ich, liebe Ilona, erinnere mich noch recht gut an deinen Abschiedsauftritt hier in dieser Wohnung! Falls es dir nicht mehr erinnerlich ist, es war der Tag, an dem Henry arbeitslos wurde.“ Dann sei sie aufgestanden, sagte Jana, und habe, so eisig sie konnte, zu ihr gesagt: „Jetzt nimm bitte deine restlichen Sachen, steige in deinen Porsche und fahr rüber in den Westen zu deinem Juniorchef, bevor mein Mann nach Hause kommt und dir deine Klamotten aus dem Fenster nachwirft. Und, darum bitte ich dich herzlich, sehr herzlich, lass dich hier nie wieder sehen.“

Als Jana mir abends davon erzählte, habe ich nur den Kopf geschüttelt. Warum ich mich nicht aufregte, weiß ich nicht. Vielleicht weil ich ahnte, dass Ilona angekommen war in der sozialen Marktwirtschaft. Zu Jana sagte ich nur: „Viel hat er nicht verloren, unser Waldemar Henry, nein, viel nicht. Lass uns eine Flasche Wein öffnen!“

Im Malstrom

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