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Wann fährt das nächste Sonnenschiff?

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Joelino hatte uns bald nach unserer Rückkehr aus Irland mal wieder besucht. Joelino ist unser neunzehnjähriger Enkelsohn aus Berlin. Wir spielten, wie wir es gerne taten, zusammen Mensch-ärgere-dich-nicht. Erstaunlich, was dieses einfache Spiel mit seinen ganz einfachen Regeln für eine Dramatik erzeugen kann. Spiegelt es das Leben wider? Jeder muss sehen, wo er bleibt? Der andere ist der Konkurrent, den man aus dem Weg räumen muss? Tut man es nicht, wird man „gepustet“, verliert also seinen Stein. Ist das Leben so? Muss es so sein? Sollte man ein Anti-Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel erfinden mit lebensfreundlicheren Regeln? Wäre das auch noch so spannend?

„Ich brauche jetzt eine Fünf“, sagte Joelino und bekam sie. Mein einziger Stein, den ich draußen hatte, musste zurück ins Töpfchen. Joelinos Weg zum Ziel war frei.

„Eine Drei wäre gut“, wünschte er sich ein paar Züge später. Wieder bekam er, was er brauchte. Wie machte er das? Da war kein Trick.

Man möchte an magische Kräfte glauben. Ich küsste die Sechs, aber sie kam nicht, und ich konnte nur zusehen, wie meine beiden Mitspieler ohne mich ihr Spiel machten. Kurz vor dem Ende hatte ich zwei Steine drin, meine Frau drei, Joelino auch, aber sein Stein hatte noch einen weiten Weg bis zum Ziel, der meiner Frau stand vor dem Ziel. Sie brauchte nur noch eine Eins. Sie würde gewinnen. Da machte ich eine Sechs und kam raus, noch einmal eine Sechs und danach eine Drei und warf ihren Stein hinaus. Zurück ins Töpfchen. Der Blick meiner Frau sprach Bände. Joelino machte Sechsen und Fünfen hintereinander und kam rasch voran. „Jetzt noch eine Sechs und eine Drei“, wünschte er sich. Oder befahl er dem Würfel? Er machte sie und war wieder einmal Sieger.

Es gibt keine Magie. Der Würfel ist nicht beeinflussbar. Er fällt, wie er fällt. Joelino hat auch nicht seine Seele einem Spielteufel verschrieben, der ihn dafür gewinnen lässt. Das alles ist unaufgeklärter Aberglaube. Aber ich kann nachvollziehen, dass man so etwas gedacht hat und dass unkritische Menschen womöglich noch immer so denken.

Das ist auch ein Stück Religion. Religion, die sich in Beschwörung, Opfer, Magie, Riten und Ähnlichem zeigt, mit denen sie den Lauf des Lebens beeinflussen will. Diese Art von Religion ist etwas sehr Menschliches. Was hat man denn sonst der Zufälligkeit des Lebens entgegenzusetzen? Es fällt uns schwer, die Dinge anzunehmen, wie sie kommen und wie sie sind, die Ungerechtigkeiten des Lebens auszuhalten. Aber dieser religiöse Weg ist ein hilfloser Pseudoweg. Wir versprechen uns von ihm, was er gar nicht halten kann.

Ich will die Ungerechtigkeiten des Lebens nicht einfach unbesehen aushalten, nehme ich mir vor, wieder einmal. Ich will sie wahrnehmen, ganz realistisch wahrnehmen. Ja. Aber dann will ich mich auch fragen, ob ich an dieser oder jener Stelle für mehr Gerechtigkeit sorgen kann. Nicht gegen Windmühlen kämpfen, aber verbessern, was veränderlich ist. Die Dinge nicht einfach nur passiv gelten lassen. Das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel lehrt mich doch auch, dass so das Leben nicht sein soll.

Und noch etwas lehrt mich das Spiel. Meine Aggressionen rauszulassen. Sie kommen unweigerlich, weil ich mich wieder einmal wie so oft ungerecht behandelt fühle. Die anderen machen ihre Runden, und ich bin der Dumme. Hier beim Spielen kann ich meine Aggressionen ablassen, und indem ich mich zu ihnen bekenne und ihnen eine freie Bahn gebe, baue ich sie ab. Sie können in meinem realen Leben keine zerstörerische Rolle mehr spielen.

Und das Spiel lehrt mich auch, was eine harte theologische Einsicht ist, die mir nicht leicht fällt: dass es Gottes Gerechtigkeit auf Erden nicht gibt. Es gibt sie nicht, die Mühlen Gottes, die zwar langsam, dafür aber vortrefflich fein mahlen und am Ende alles zu einem gerechten Ausgleich bringen.

Nach dem Spielen kamen wir ins Gespräch über die Frage, welchen Sinn Religion hat oder noch haben kann, wenn uns heute die Wissenschaften aufklären über den vielfältigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung.

„Wie siehst du das, Klaus?“, fragte mich Joelino, „Ihr wart doch in Newgrange gewesen. Ich habe gelesen, welche Bedeutung dieser Ort und andere Sonnenkultorte einmal hatten. Hat die Wissenschaft dem Sonnenkult den Garaus gemacht?“

„Wenn Religion nur erklären will, wie etwas ist, dann brauchen wir sie nicht mehr“, behauptete ich. „Das hat sie früher, als Wissenschaft und Religion noch eins waren, gemacht. Mehr schlecht als recht. Aber immerhin, sie hat Erklärungen geliefert. Das macht die Wissenschaft, seit es sie gibt, ich meine: seit man mit der Vernunft nach Gründen fragt, viel besser. Also, wenn du wissen willst, wie alles entstanden ist, wie es sich mit der Sonne und der Erde verhält, wie sich das Leben hier auf Erden entwickelt hat, am Ende der Mensch – dann frage den Wissenschaftler, vor allem den Naturwissenschaftler, nicht den Theologen.“

„Wenn die Religion für dich gar nicht mehr zuständig ist für Erklärungen von historischen oder naturwissenschaftlichen Geschehnissen, dann gibt es zwischen beiden auch keine Konkurrenz?“

Joelino sah mich gespannt an. Er erwartete eine klare Antwort.

„Richtig. Wenn sich mit wissenschaftlichen Gründen behaupten lässt, dass, um ein Beispiel zu nennen, Jesus nicht am 25. Dezember geboren wurde, und auch nicht im Jahre 1, dann ist es nur peinlich, wenn ein Pfarrer seine überlieferte kirchliche Tradition dagegen hält und verlangt, man solle an sie glauben. Und ebenso ist es peinlich, wenn er die Frage in der Schwebe lässt, weil sich alles nie so ganz erklären ließe, und damit suggeriert, die Bibel hätte doch Recht.“

„Wozu soll denn aber Religion noch gut sein, wenn sie nicht mehr erklären darf?“, hakte Joelino nach.

„Was heißt darf? Ihre Erklärungen taugen einfach nichts mehr“, behauptete ich. „Antike Mythologien sind nicht mehr beweiskräftig, seit die Wissenschaften uns überzeugendere Gründe bieten. Aber ein Mythos wollte doch nie nur erklären. Er wollte immer mehr. Und ich denke, dass das, was er mehr wollte, sogar seine hauptsächliche Absicht war.“

„Und was soll das sein? Was soll es denn über Erklärungen hinaus noch geben?“

Wenn mein Enkelsohn so fragt, ging mir in diesem Moment auf, fragt er voll und ganz als ein Kind unserer wissenschaftsgläubigen Zeit. Er fragt so, als könne und müsse die Wissenschaft für alles und immer und endgültig zuständig sein. Natürlich darf und soll sie alles hinterfragen. Aber mit ihrer Fragestellung kann sie nur herausbekommen, was sich in ihrem Raster einfangen lässt. Sie fragt und forscht und entdeckt und probiert eine Antwort und fragt wieder und forscht und so fort. Und was sie da herausbekommt, hilft uns weiter, auch wenn, nein, gerade wenn sie bisherige Meinungen umstößt. Denken wir nur an Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, Einstein und die vielen, vielen anderen, die uns gelehrt haben, die Welt neu zu sehen. Und irgendwann kommen wieder andere und stoßen das Bisherige um, weil sie es noch besser wissen. Jede Antwort gebiert neue Fragen.

Aber die Wissenschaft lehrt mich doch nicht, mit meinem Leben klarzukommen. Sie stellt fest, aber sie sagt mir doch nicht, wie ich mich verhalten soll. Das aber macht doch mein Leben aus, dass ich frage, was ich tun soll, worauf ich hoffen darf, was das alles mit mir und den anderen hier auf Erden überhaupt soll. Was bedeuten mir Liebe, Schuld, Vergebung? Wie bekomme ich Zuversicht ins Leben? Was lässt mich geborgen sein mitten in den Schwierigkeiten des Lebens?

Wenn es darum geht, kann man nicht, wie die Wissenschaft es tut, in Zahlen, Formeln und Daten reden. Dann braucht man Bilder, Symbole, Gleichnisse, Metaphern, Anspielungen, poetische Übertreibungen und Ähnliches, was sich alles nicht exakt definieren lässt. Das ist für mich eine religiöse Sprache. In ihr reden auch die Künstler, alle, die vom Leben bewegt sind. Die Frage nach dem, was das Leben ausmacht und wie es gelebt werden kann und soll – das ist für mich im Tiefsten Religion, Religion in einem sehr positiven Sinn. Religion in diesem Sinne ist eine andere Wahrnehmung unserer Wirklichkeit, als sie die Wissenschaft bietet. Man kann nicht sagen, dass sie eine falsche oder eine überflüssige Wahrnehmung ist.

„Joelino“, versuchte ich zu erklären, „wenn die Tage dunkler und kälter wurden, ist die Frage, warum das so ist, doch noch gar nicht die eigentlich gemeinte Frage. Die lautet vielmehr: Habe ich noch eine Chance? Darf ich hoffen, dass mein Leben, das Leben überhaupt, in diesem Kampf zwischen Dunkelheit und Licht nicht auf der Strecke bleibt?

Die Menschen früher werden sich doch besorgt gefragt haben:

Was, wenn die Sonne im Winter stirbt und nie mehr wiederkommt? Schaut doch mal zum Himmel. Von Woche zu Woche verliert sie an Kraft. Jetzt ist sie nur noch kurze Zeit zu sehen. Und blass und klein ist sie auch. Und oft versteckt sie sich hinter dichten Wolken und Schnee, wie ein Sterbender sich in seine Ecke zurückzieht und nicht mehr gesehen werden will.

Der Mythos, den die Schamanen, also Menschen mit spirituellen, magischen, auch hellseherischen oder medizinischen Fähigkeiten, damals den Menschen erzählt haben, war wesentlich Tröstung der Verzagten, Ermutigung der Zweifelnden, Aufmunterung der Unsicheren. Es war nicht einfach nur Erklärung dafür, dass, wie die Erfahrung jedes Jahr zeigt, die Sonne immer wieder an Kraft gewinnt.“

„Welcher Mythos wurde eigentlich erzählt“, wollte meine Frau wissen.

„Dass tief im Innern der Erde ein neues Sonnenkind geboren wird. Die längste Nacht ist geweiht, ist eine Heilige Nacht, denn es ist die Nacht der Geburt der neuen Sonne“, sagte ich. „Darf ich euch ein paar Verse vorlesen, mit denen ich mir die Weihnacht von Newgrange deutlich gemacht habe?“

Beide nickten. Ich ging in mein Arbeitszimmer und holte mein Notizbuch und las:

„Nebelige Nässe. Widrige Winde.

Alles ist grau und voll Grauen, ist tot.

Klirrende Kälte. Düsternis. Dunkel.

Lang sind die Nächte. Es wächst uns kein Brot.

Komm, Schamane, erzähl uns vom Leben,

Nicht das, das war. Das, was kommt, kommen muss!

Oder sind wir für immer verloren?

Ist da kein Weg mehr nach vorn? Ist nun Schluss?

Tief unter‘m Schnee im Innern der Erde

liegt in der Nacht, die so lang ist wie nie,

die Mutter Sonne in Wehen. Geboren

wird neu ihr Sonnenkind, klein noch, doch sie

gibt ihm Kraft, es wird wachsen und wachsen,

zunehmen wird es an Macht und Gestalt.

Und dann blüht dir wieder ein Leben.

Fürchte dich nicht. Trau ihrer Gewalt.“

„Das haben die Menschen damals geglaubt?“ Meine Frau war skeptisch.

„Das hättest du auch geglaubt. Es war ja immerhin eine Erklärung.“

„Aber die stimmt doch nicht.“

„Ja, aber sie wussten es nicht besser“, sagte ich. „Wir heute wissen es besser. Übrigens das, was sich im Großen einmal im Jahr abspielt, geschieht durchaus vergleichbar in kleiner Weise jeden Tag, wenn die Sonne im Westen untergeht. Wird sie am nächsten Morgen wieder im Osten erscheinen?“

„Aber das wussten die Leute doch, dass sie am nächsten Morgen wieder aufgeht?“, warf meine Frau ein.

„Dass auf den Winter der Frühling kommt, wussten sie auch. Aus Erfahrung“, warf Joelino ein.

„Ja, aber kannst du dich immer auf deine Erfahrung verlassen?“, gab ich zu bedenken. „Man brauchte Vergewisserung. Man wollte wissen, warum das so ist, wie es ist, damit man sicher sein kann, dass es morgen und übermorgen und alle Tage auch noch so ist.“

„Wie haben die Leute sich das erklärt, dass die Sonne im Westen untergeht und morgens im Osten wieder da ist?“, wollte meine Frau wissen. Die alten Mythen schienen sie zu interessieren.

„Die einfachen Leute konnten es sich gar nicht erklären. Aber die Schamanen verfügten über die alten weisen Traditionen, die eine Antwort gaben. Sie werden etwa Folgendes gesagt haben:

Die Sonne geht unter, gewiss. Das macht euch Angst. Aber seid gewiss: Sie kommt wieder. Sie wird nie endgültig untergehen. Wenn sie im Westen am Himmel verschwindet, nimmt sie ein Fisch in Empfang und bringt sie zum Sonnenschiff. Das fährt auf dem Urmeer der Unterwelt nach Osten, wo eine Schlange sie empfängt und zum Sonnenwagen geleitet. Dann beginnt sie wieder ihre tägliche Fahrt über den Himmel. Du kannst ihr vertrauen!

„Nachtverkehr. Ein Schiff. Zuverlässig. Pünktlich. Und das ohne Fahrplan!“ Joelino amüsierte sich.

„Als Erklärung taugt das nicht mehr, weil wir es inzwischen besser wissen. So ein Transportschiff gibt es natürlich nicht. Hat es auch nie gegeben. Aber …“

Bevor ich dazu kam, mein mir so wichtiges „Aber“ zu erläutern, fiel mir Joelino ins Wort: „Wenn das mit dem Sonnenschiff nicht stimmt, dann darf der Priester das auch nicht sagen! Sonst betrügt er die Menschen.“

„Natürlich war für den Priester solch ein Sonnenschiff wirklich vorhanden“, warf ich ein. „Wir wissen heute, dass das ein Irrtum war. Aber viel wichtiger ist doch die Frage, was der Schamane eigentlich vermittelte, wenn er einem von seinen Ängsten geplagten Menschen von solch einem Boot erzählt hat? Versteht ihr?“

Joelino und meine Frau schauten mich skeptisch an.

„Er hat seinem verunsicherten Zuhörer doch Mut verschafft. Er hat ihm vermittelt, dass es eine Ordnung gibt, auf die Verlass ist. Dass er Vertrauen wagen darf ins Leben. Dass er nicht alles selber machen und nicht alles selbst in der Hand haben muss, damit es gut wird im Leben. Dass er sich ruhig zur Nacht niederlegen kann und ganz gewiss darauf vertrauen kann, dass morgen für ihn neu die Sonne aufgehen wird. Traue dem Leben zu, dass es dir gut tut. Mach dir dein Leben nicht kaputt durch dein Bestreben nach Sicherheit. Das hat er seinem ängstlichen Zeitgenossen doch in Wahrheit gesagt … und sich selbst wohl auch ein bisschen.“

„Man darf doch nicht trösten mit etwas, was gar nicht stimmt.“ Ich sah Joelino an. „Definitiv nicht!“, fügte er hinzu.

„Joelino, als wir in Dublin waren, haben wir Maya und Elisa, die etwas aufgekratzt waren, ins Bett gebracht und ihnen ein Schlaflied gesungen, Nori und ich. Wir haben davon gesungen, dass der Mond da oben wohnt, ein Haus hat und abends aus seinem Haus heraustritt und sich seine Schäfchen ansieht. Das sind die Sterne, die sich alle gegenseitig lieb haben wie Schwestern und Brüder. Wer hat die schönsten Schäfchen, die hat der gold‘ne Mond … Kennst du das Kinderlied noch?“

Er nickte schwach.

„Nichts von dem, was wir dort im Lied gesungen haben, stimmt, naturwissenschaftlich gesehen. Ist doch richtig?“

Er nickte.

„Haben wir die beiden Zwillingsschwestern also betrogen? Richtig betrogen, denn den Schamanen kann man ja noch entschuldigen. Der wusste es ja nicht besser. Aber Nori und ich wissen es besser. Und trotzdem haben wir dieses Lied gesungen und damit Dinge behauptet, die doch gar nicht stimmen.“

„Die beiden sind noch klein, da …“ er führte den Satz nicht zu Ende.

„Haben Kinder kein Recht auf Wahrheit?“, halte ich dagegen. „Was wir gesungen haben, war falsch. Aber was wir mithilfe eines falschen Liedes vermittelt haben, war wahr. Denn die Geborgenheit, die wir ihnen aufgezeigt haben, war nicht gespielt, vorgetäuscht, nur behauptet. Die war so echt, wie unsere Liebe zu den beiden echt ist. Der Wissenschaft geht es um Richtigkeiten. Das ist aber nur ein Aspekt im Leben.“

Mir kam eine Idee. „Leonore und Joelino, macht doch mal bitte beide eure Augen zu. Stellt euch einen wunderschönen Sonnenuntergang vor. Seht ihn mit eurem inneren Auge. Okay?“

Beide schlossen ihre Augen. Ich wartete einen Moment. Dann fragte ich sie: „Was ihr euch jetzt vorstellt, findet ihr das schön?“

Sie nickten.

„Fühlt ihr euch dabei wohl?“

„Ja“. Meine Frau fügte noch hinzu: „Sehr sogar.“

„Lasst die Augen noch geschlossen. Der Sonnenuntergang in euren Köpfen ist schön. Fast wie ein echter, stimmt‘s?“

„Hm.“

„Und Ihr wisst doch, dass das alles nur eine optische Täuschung ist!“, sage ich extra laut und hart. „Dass das alles gar nicht so ist, wie ihr denkt.“

Beide rissen die Augen auf, enttäuscht und, wie es mir schien, verärgert.

„Stimmt doch!“, sagte ich. „Durch die Erdrotation entsteht der Eindruck, die Sonne würde etwas machen, was sie gar nicht tut; noch dazu gehen, untergehen, wozu man ja Beine bräuchte. Ihr merkt, wie wir in Bildern reden, reden müssen, selbst das Wort Sonnenuntergang ist nicht exakt. Er ist doch nur ein Eindruck, der in uns entsteht, weil die Erde, auf der wir stehen, sich sozusagen nach hinten wegbewegt. Frage: Das, was ihr über die Erdbewegung wisst – nimmt euch das den Zauber, den ein Sonnenuntergang für euch hat?“

Sie schwiegen.

„Nein“, sagte Joelino.

„Nein, der Sonnenuntergang ist trotzdem schön“, sagte meine Frau.

„Aber ich bin ein Schuft, denn ich habe euch betrogen!“, behauptete ich grinsend.

Die beiden lachten mich verlegen an.

„Mir geht es ja genau wie euch“, sagte ich beschwichtigend. „Das, was sich da am Abendhimmel abspielt, kann ich erklären. Aber diese Erklärung betrifft sozusagen nur die Außenseite der ganzen Sache. Nicht, wie sie mich betrifft und was sie mit mir macht, was sie mir bedeutet, wozu sie mich führt.

Joelino, manchmal werde ich ganz still, wenn ich in die untergehende Sonne schaue. Am Strand von Hiddensee, jeden Sommer. Leonore weiß das, weil sie ähnlich empfindet. Dann werde ich mir meiner Kleinheit und Unzulänglichkeit bewusst. Und doch kann ich solch einen Moment annehmen, wie ich ihn empfinde, weil ich ein Teil der großen Schöpfung bin. Ich bin dann sehr glücklich. Und manchmal, wenn die Sonne im Meer versinkt und der ganze weite Himmel ein einziges Farberlebnis ist, dann nimmt mich der Zauber des Lichtes und der Farben hinein in das Wunder, dass es das alles gibt und dass ich das erlebe. Dann möchte ich vor lauter Glück aus mir hinausplatzen.“

Nach dem Abendbrot sprach mich Joelino noch einmal auf das Problem der Religion an. „Was du unter Religion verstehst, ist nicht ganz eindeutig. Kann das stimmen?“

Der Junge hat Recht, sagte ich zu mir. Hat er das durchschaut? Aber ich fragte doch erst einmal „Wieso?“

„Mal schillert der Begriff bei dir ins Negative, bei Magie, Beschwörung und solchen Begriffen. Bei den großen religiösen Institutionen könnte ich mir das bei dir auch vorstellen: Kirchen, Moscheen, Vatikan und so etwas. Stimmt´s?“

Ich schaukelte leicht meinen Kopf, dann sagte ich zögernd „Jaaa.“

„Und dann wieder“, fuhr mein Enkelsohn fort, „hat Religion bei dir einen ganz positiven Klang, ist geradezu ein Zeichen unseres menschlichen Lebens, nein, das Zeichen. Menschliches Leben scheint mir in deinen Augen notwendigerweise religiös zu sein.“

„Du hast gut zugehört, vorhin. In der Tat. Das Phänomen Religion ist sehr komplex und man muss immer deutlich machen, auch durch den Zusammenhang, wie man das Wort gerade gebraucht.“ Ich nickte ihm bestätigend zu. „Mit einer einfachen Definition wird man das Phänomen Religion nicht packen können. – Aber Joelino“, setzte ich nach einer kleinen Pause noch einmal ein, „eine Seite der Religion hast du noch vergessen.“

„Welche?“ wollte er wissen.

„Die aufklärerische Seite. Ich halte die Aufklärung, die Säkularisation, das Mündigwerden der Welt für eine Folge des biblischen Glaubens. Nicht für seine Infragestellung. Die Befreiung der Welt aus ihrem Aberglauben, ihren manchmal geradezu dämonischen Ängsten, ihren Blockierungen, all dieses sehe ich in der Bibel angelegt. Die Bibel betreibt Aufklärung! Neben all dem, was (leider!) sehr unaufgeklärt auch in ihr steht, wie ich zugeben muss.“

Ich erntete einen überraschten und ungläubigen Blick.

„Ich versuche, dir das an einem Beispiel zu verdeutlichen. Die Erde, unsere konkrete Welt, mit allem, was dazugehört, Sonne, Mond und Sterne, ist nach biblischer Sicht ein wunderbarer Ort zum Leben, aber sie soll nicht vergöttert werden. Sie ist nicht Gott, sondern nur sein Werk. Das gilt natürlich auch für die Sonne. Sie ist nur eine große Lampe für den Tag, so, wie der Mond eine kleine Lampe ist für die Nacht. Damit setzt die biblische Religion eine kritische Distanz zu allem. Mit ihr ist der Vergöttlichung von irgendetwas Weltlichem nicht zu machen. Die Gestirne sind keine Götter und die römischen Kaiser oder Hitler oder Stalin erst recht nicht. Alles ist Schöpfung, nicht Gott. Alles verdient Respekt, Achtung, Ehrfurcht, Staunen und ein liebevolles, achtsames Umgehen, aber keine religiöse Überhöhung. Deshalb schreibt ein Jude, in Babylon (!), wo man die Dinge ganz anders sah und wo die Juden gefangen waren: Lasst euch nicht dazu verleiten, Sonne, Mond und Sterne als Götter zu verehren. (5. Buch Mose 4,19). Das war ein Satz, mit dem man damals seinen babylonischen Herren widerstand und sich seiner gewiss wurde als ein freier Mensch, frei noch als Zwangsarbeiter in der Fremde.“

Weihnachten? Um Gottes Willen!

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