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Wenn´s nicht mehr ist als eine Vase und ein Spiegel

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Am 9. November 1938 war vor einigen Jahrzehnten unbeschreiblich viel zu Bruch gegangen. Der Schaden der „Reichskristallnacht“, die von ganz oben offiziell gewollt, und als angeblicher „spontaner Volkszorn“ in Szene gesetzt war und an der Polizei, SA, Feuerwehr und viele Bürger mitgewirkt haben, belief sich auf Tausende von verwüsteten jüdischen Wohnungen, Geschäften und abgebrannten Synagogen. Etwa hundert Menschen wurden ermordet, an die 30.000 ins KZ gesteckt. Für den materiellen Schaden, der den Juden entstanden war, mussten sie selber aufkommen. Ihre Versicherungsansprüche wurden vom deutschen Staat eingezogen. Zusätzlich hatten sie 1 Million Reichsmark Kontribution zu zahlen. Der immaterielle Schaden war noch furchtbarer. Mit einem Volk, das solch einen offiziellen Terror in seiner Mitte ohne Widerspruch zuließ, konnte Hitler nun alles machen, was er im Sinn hatte. Der Weg nach Auschwitz war frei.

Ausgerechnet an einem neunten November viele Jahrzehnte später, richtete ich in der Wohnung eines jüdischen Freundes ebenfalls einen nicht unbeträchtlichen Schaden an. Bei der Verabschiedung nach einem lebendigen, wohltuenden Gespräch gab ich aus Übermut etwas an. Ich könnte mir, auf einem Bein stehend mit geschlossenen Augen, einen Schuh anziehen.

Ich verlor das Gleichgewicht und fiel gegen einen antiken Flurschrank, auf dem eine Vase stand, die herunterstürzte und in viele Stücke zersplitterte. Ein Stück davon sprang gegen einen wunderschönen Jugendstilspiegel und hinterließ in dessen rechter Ecke zwei Sprünge.

Der Mischlingshund, der sich für die Wohnung der Gastgeber verantwortlich fühlte, nahm mein Missgeschick persönlich. Er schnappte nach meinem rechten Bein und hinterließ dort durch die Hose hindurch seine Visitenkarte. Dem Gastgeberehepaar war meine Tollpatschigkeit peinlicher als mir selber, und wegen ihres Hundes sahen sie sich eher in meiner Schuld als mich in der ihren. Das mit dem Hund sah ich als halbwegs ausgleichende Gerechtigkeit an, und den von mir verursachten Schaden, so versprach ich, würde ich umgehend mit meiner Versicherung besprechen. Jedenfalls wollte ich, soweit so etwas möglich war, Wiedergutmachung betreiben. Der materielle Wert der Vase betrug etwa 250 _, ihr immaterieller Wert war unersetzlich. Die Vase war eine Erinnerung an den Vater meines Freundes. Meine Frau und ich hatten ihn noch kennengelernt. Seine menschliche Wärme und sein Humor taten uns gut. Er war religiös völlig desinteressiert und hat nie wirklich nachvollziehen können, warum mir, wo ich doch eigentlich ein „ganz normaler und vernünftiger Mensch bin“, Religion und Theologie wichtig sind.

Sein Sohn ist da anders. Als er in einem Restaurant seine Eheschließung mit einer katholischen Berufskollegin feierte, habe ich den beiden ganz spontan, um es auf Jiddisch zu sagen, die Broche gegeben.

Weder eine Feier in einer Synagoge noch in einer Kirche war für die beiden möglich gewesen. Was ich sagte, als ich ihnen meine Hände auflegte, war in keiner Weise irgendwie aufgesetzt, unpassend oder gar peinlich. Es war das Normalste von der Welt, zwei Menschen Kraft und Zuversicht zuzusprechen, ihren Dank und ihre Freude zur Geltung zu bringen, sie hineinzunehmen in die Menschenfreundlichkeit, die sich mit dem biblischen Gott verbindet. In dieser Situation war kein Ort der Welt, auch keine Kirche oder Synagoge, dafür geeigneter gewesen als dieses Restaurant.

Sie waren neugierig, wie ich die Sache mit Jesus sehe. „In acht Wochen ist Weihnachten, das Fest seiner Geburt. Wen feierst du da? Wie siehst du Jesus? Wer ist er für dich?“ So hatten sie mich gefragt, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. „Komm doch mal zu ´ner Tasse Kaffee rum und sag´s uns.“

Nun war ich da gewesen, und ich habe mich ihrer Frage gestellt, was mir dieser rätselhafte Mann aus Nazareth bedeutet.

Sie kommt aus süddeutscher katholischer Tradition. Wenn sie an Heimat denkt, denkt sie an das, was ihre Kindheit ausgemacht hat. Und dazu gehörten wie selbstverständlich auch die Prozessionen mit Schützenverein und Feuerwehr, die Messen und die Heiligen, vor allem aber die Gottesmutter Maria und ihr Sohn Jesus Christus und natürlich Gottvater im Himmel. Das alles ist bei ihr mit Dank verbunden für die Wärme dieser volkstümlichen Religiosität.

Als sie heranwuchs, kamen in ihr Zweifel auf, wie wörtlich das alles zu nehmen sei. Empfangen durch den Heiligen Geist? Geboren von der Jungfrau Maria? Aber auch wenn ihr erwachsener Verstand seine Fragen stellte, irgendwie wird dieser Jesus schon der Sohn Gottes sein und vor allem: Das Fest seiner Geburt ist ein wunderschönes Fest.

Und nun verliebt sie sich als selbstständige und selbstbewusste Frau in einen Juden und der sich in sie. Und der wird die Frage nicht los, was die Christen gegen die Juden hatten und haben. Warum sie sie mit einer so abgrundtiefen Abneigung angesehen haben, dass sie den Juden am Ende jedes Recht, auf der Erde zu leben, abgesprochen haben und – das ist die bange Frage: Immer noch absprechen?

Und das alles wegen dieses Jesus, dieses Juden, der eine neue Religion gegründet hat – oder doch nicht? Der ein Mensch war – oder doch nicht so ganz? Ein Gottessohn oder am Ende doch nicht so ganz richtig?

Nicht die schlechtesten christlichen Köpfe haben versucht, Jesus als Juden wiederzuentdecken. Wenn er aber ein Jude war, durch und durch, wie kann er dann der Grund und das Haupt der christlichen Kirche sein?

Und es waren und sind auch nicht die schlechtesten jüdischen Köpfe, die versucht haben, Jesus als Juden neu zu entdecken. Martin Buber, Schalom Ben Chorin, Pinchas Lapide, David Flusser … Ich erinnere mich noch heute dankbar und bewegt daran, wie wir, eine Gruppe evangelischer Theologiestudenten, 1961 in Israel am Strand von Nathanja zusammen mit dem jüdischen Professor David Flusser, alle nur mit einer Badehose bekleidet, mit unseren Bibeln oder Synopsen auf den Knien, über diesen Jesus diskutiert haben. Ich habe noch im Ohr, wie er darauf bestand, dass die Verkündigung Jesu durch und durch jüdisch sei.

Und der große Martin Buber, der uns in seinem Haus willkommen geheißen hatte, konnte sagen: „Jesus habe ich von Jugend auf als meinen großen Bruder empfunden.“

Wer ist dieser Mann – für mich?

Weihnachten? Um Gottes Willen!

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