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Hut ab vor den Ahnen

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Auf dem Weg zum Bus erzählte ich meinem Enkel, dass ich als junger Student einmal in Stonehenge war. „Auch ein Sonnenkultort aus der Steinzeit und noch größer. Aber etwas später entstanden. Kein Grabhügel. Da stehen große Steine im Kreis, bis an die sieben Meter hoch und jeder an die zwanzig Tonnen schwer. Einige sind aus Wales herangeschafft worden. Wie sie das ge…“

„Wo genau liegt Stonehenge?“, unterbrach mich Luca.

Mich freute die wache Intelligenz des Jungen. Was hilft ihm meine Ortsangabe Wales, wenn er nicht weiß, wieweit es von dort nach Stonehenge ist.

„In Südengland. Das sind über 225 Kilometer.“

„Wie haben sie die denn transportiert?“

„Auf dem Wasserweg vielleicht, mit untergelegten Baumstämmen gerollt … wer weiß, wie noch. Welche Feiern wurden da wohl begangen? Und hier auch. Beide Orte waren Sonnenkultstätten. Das steht fest. Newgrange war ausgerichtet auf die Wintersonnenwende und Stonehenge auf die Sommersonnenwende. Du weißt, wann die ist?“

„Opa, wenn die Wende von der Wintersonne am 21. Dezember ist, dann muss doch die andere vom Sommer genau ein halbes Jahr später sein, oder früher, wie du willst. Am 21. Juni natürlich.“ Er fand es unter seiner Würde, schien mir, dass ich ihm eine solche leichte Frage gestellt hatte.

„Opa, wir feiern doch Weihnachten, weil Sonnenwende ist. Wann Jesus genau geboren wurde, weiß ja keiner.“

„Jaaa“, sagte ich gedehnt. Worauf wollte er hinaus?

„Aber Weihnachten ist doch erst am 25. Dezember. Nie am 21.“

„Ich will dir erzählen, was ich dazu gelesen habe“, sagte ich. „Hast du schon einmal von Julius Caesar gehört?“

Natürlich hatte er. Wie konnte ich ihn nur so etwas fragen. Er wusste sogar, dass der am 15. März im Jahr 44 v. Chr. getötet worden war. Mit 23 Messerstichen.

„Meinst du, die hat damals einer gezählt?“ Ich wollte ihn skeptisch machen gegenüber all dem, was so kolportiert wird.

Er sagte nur trocken „Muss ja wohl.“

Ich erklärte ihm, dass Julius Caesar den römischen Kalender reformiert hatte. In diesem sogenannten Julianischen Kalender wurde der 25. Dezember als der Tag der Wintersonnenwende angegeben. Das war damals korrekt. Weil dieser Kalender aber naturwissenschaftlich nicht hundertprozentig genau war, entstand im Laufe der folgenden Zeit eine Diskrepanz zwischen dem, was der Kalender sagte, und dem, was die Natur tat. Es musste erneut eine Korrektur her.

Diese erfolgte durch die von Papst Gregor XIII. 1582 n. Chr. vorgenommene Kalenderreform. Dadurch verschob sich der längste Tag des Jahres auf den 21. Dezember. Da man das Weihnachtsfest aber auf dem 25. Dezember belassen hat, weil es an diesem Tag ja seit Jahrhunderten gefeiert wurde, war nun der ursprüngliche Zusammenhang zwischen der Gottesgeburt und der Sonnenwende zerrissen.

„Aha“, sagte er nur und versank ins Nachdenken. Nach geraumer Zeit sagte er: „Ich glaube, dass das damals in der Steinzeit für die Leute ganz schön schwer gewesen war.“

„Du meinst die Arbeit? Diese schweren Steine …“

„Nein. Also ja, das auch. Aber ich meine, die müssen doch Angst gekriegt haben, wenn die Sonne immer kürzer scheint und es immer kälter und dunkler wird.“

„Ja. Ich glaube schon, dass die Leute deutlich gespürt haben, wie unsicher das Leben ist. Und dann werden Orte wie Newgrange oder Stonehenge ihnen Halt gegeben haben. Wenn man bei ihnen seine Sonnenfeste gefeiert hat, werden die Leute gefühlt haben, dass es da eine große Ordnung in ihrem Leben gibt, die einfach gilt, die größer ist als das Auf und Ab unsres kleinen menschlichen Lebens. Verstehst du, was ich meine, Luca?“

„Glaub schon“, sagte er. „Sag mal, Opa, warum gibt es die nur hier?“

Ich verstand nicht.

„Na die Sonnenorte. Hier in Irland und England.“

„Die gibt es auch woanders, Luca. In Deutschland befindet sich sogar der älteste auf europäischen Boden. In Goseck. Dicht daneben hat man die berühmte Himmelsscheibe von Nebra gefunden. Hast du von der mal was gehört?“

Hatte er nicht. „zu Hause googel ich gleich mal“, sagte er und erkundigte sich genau nach dem Namen: Nebra.

Ich erzählte ihm, dass sich in Goseck eine Ringpalisade aus Holz befand, die zwei Öffnungen aufwies. Durch das Südosttor fielen am 21. Dezember, nach unserem heutigen Kalender, die ersten Morgenstrahlen der winterlichen Sonne und durch das Südosttor abends die letzten bei deren Untergang.

Ein sehr freundlicher Fahrer mit schwarzer Hautfarbe und einem lustigen Lachen im Gesicht bat uns, schon mal in den Bus einzusteigen. Die kurze Fahrt sollte nach Knowth gehen, wo eine Reihe von Hügelgräbern zu sehen wären, dicht an dicht, eines von durchaus beträchtlichen Ausmaßen, wenn auch kleiner als das von Newgrange, aber ebenfalls mit einem Ganggrab.

Wir stiegen in den Bus und nahmen Platz.

Ich fragte meinen Enkel: „Hatte der Führer in der Grabanlage eigentlich etwas von Toten erzählt, die dort begraben sind? Ich habe nicht alles verstanden, was er gesagt hat.“

Luca wächst als geborener Dubliner zweisprachig auf. Deutsch und Englisch sind seine Muttersprachen, wie die seiner Geschwister auch.

„Äh, ja … ich glaube … nee, eigentlich nicht. Nur von Knochenresten und Asche.“

„Das ist in Knowth ganz anders“, sagte ich. „Ich habe gelesen, dass es da viele Gräber gibt. Knowth war also zumindest auch eine Begräbnisstätte. Aber Newgrange? Vielleicht fanden in Newgrange nur Begräbniszeremonien statt, und begraben hat man die Toten dann woanders. Das könnte erklä…“

„Oder, Opa“, fiel er mir ins Wort, „man hat die Toten geklaut. Also die Gräber aufgebrochen und alles weggenommen an Schmuck und Waffen und was man ihnen mitgegeben hatte. Und die Knochen hat man zerstreut.“

„Wer sollte so was machen?“ fragte ich ihn. „Wir sind hier doch nicht in Ägypten. Da hört man immer wieder von ausgeraubten Gräbern.“

Er musste nicht lange überlegen. „Die Wikinger zum Beispiel. Die haben Irland doch öfter überfallen.“

Ich war auf die Idee noch gar nicht gekommen.

Als im Bus höchstens noch zwei, drei Plätze unbesetzt waren, stellte sich der Fahrer auf eine sehr unterhaltsame Weise vor. Dann forderte er uns auf zu erraten, woher er käme. Seine Haut war schwarz. Allerlei Ländernamen wurden genannt, der richtige war nicht darunter. Nach gewisser Zeit sagte er:

„Gut, ich will es euch sagen. Aus Liberia. Der Name bedeutet Freiheit, wisst ihr das? Liberia ist von ehemaligen Sklaven, die man nach Amerika verschleppt hatte, gegründet worden. Wir sind der erste freie Staat Afrikas.“

„Und warum sind Sie dann hier? In Irland?“

Ich drehte mich zum Fragesteller um, der auf seinem Handy weiter herumtippte, als er sprach. Er trug ein T-Shirt, auf dem ich Eire und die irische Flagge sehen konnte.

Der Fahrer sagte: „Nun, es gibt in unsrem Land große Probleme. Schon seit der Gründung. Die Einwanderer aus Amerika, die in Afrika ihre Freiheit suchten, wurden von den Einheimischen in Afrika als Fremdlinge angesehen. Dieser Konflikt ist noch immer nicht gelöst. Es gab lange und blutige Bürgerkriege. Über eine viertel Million sind umgekommen. Deshalb bin ich hier. Aber trotzdem … ich vergesse nicht, wo ich herkomme. Und damit meine ich mehr als bloß einen Ort auf dem Globus. Ihr solltet das auch nicht tun. Ihr dürft nie eure Wurzeln vergessen. Also auch nicht eure Eltern und Großeltern, eure Ahnen. Hier gibt es Gräber über Gräber. Tausende Jahre alt. Wer von euch ist ein Ire oder eine Irin?“

Ein paar Hände gingen hoch.

„Das sind eure Vorfahren. Von denen stammt ihr ab. Wisst ihr das? Ich meine, wisst ihr das so, dass es euch wichtig ist? Glaubt ihr das?“

Die meisten waren mit ihren Handys und Smartphones beschäftigt.

„Ihr wollt doch leben, nicht wahr? Die damals wollten auch leben. Was haben sie gemacht? Ihr werdet staunen, weil euch das nicht einfallen würde. Sie haben riesige Hügelgräber gebaut. Wohnungen für ihre Toten. Eine wahnsinnige Anstrengung. Ein Riesenunternehmen. Macht ihr das auch für eure Toten? Nein?“

„Fahren Sie endlich los. Wir haben heute noch andere Besichtigungstermine“, rief ein unwilliger Fahrgast. Viele nickten.

Der Fahrer schaute einen Moment sehr traurig aus. Dann setzte er sein wunderbares Lächeln auf und sagte: „Ich wollte euch nur sagen, wo wir jetzt hinfahren. In die Vergangenheit. Und zugleich in die Zukunft. Denn die Toten waren auch mal, was wir alle noch sind. Und in der Zukunft werden wir sein wie sie.“

Weihnachten? Um Gottes Willen!

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