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2.3 Eine Moralagentur unter anderen

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Kirchliche Moralverkündigung findet heute üblicherweise kaum mehr in abgeschotteten kirchlichen Binnenräumen statt, sondern auch oder sogar vor allem in der Gesellschaft, in die Kirche eingebettet ist. Die Gesellschaft räumt ihr wohl bei manchen Fragen mehr (z.B. in Fragen der Sozialpolitik und in solchen der medizinischen Ethik), in manchen hingegen (z.B. in Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik) auch weniger moralische Zuständigkeit ein, aber stets nur beschränkt und gleichsam auf „Vorschuss“. Außerdem ist die Kirche in der modernen freien Gesellschaft so gut wie nie die einzige Instanz, die moralische Forderungen formuliert und öffentlich verlautbart. Vielmehr gibt es um sie herum noch weitere moralische Instanzen von zum Teil großem Gewicht wie andere Glaubensgemeinschaften, die sich mit Denkschriften und ereignisbezogenen Stellungnahmen zu Wort melden, die höchstrichterliche Rechtsprechung, zivilgesellschaftliche Organisationen, Verbände, parlamentarische Enquetekommissionen oder auch Ethikräte, wie sie in vielen Ländern eingerichtet wurden.

Für die Kirche bedeutet dies ganz grundsätzlich wie auch in Bezug auf die Realitäten von Partnerschaft, Ehe, Familie und Lebensformen konkret, dass weder ihre Sprecher noch die Theologie eine Alleinzuständigkeit für diese Themen haben. Fast reflexartig werden ihre Kommentierungen und Interventionen zu entsprechenden Themen als die Standpunkte „bloß“ einer gesellschaftlichen „Gruppe“ wahrgenommen und behandelt (etwa in Foren und Talkshows). Jeder Versuch, mittels prominenter Personen oder gar mittels Absprachen mit politischen Parteien Einfluss in eine gewünschte Richtung auszuüben, erregt Verdacht, auf die alte Achse zwischen Staat und Kirche zu setzen und damit demokratische Spielregeln zu unterlaufen. Weil dies so ist, stoßen Versuche, durch kirchliche Sanktionen „von oben“ bestimmte Positionen oder Theologen zu disziplinieren, in der Öffentlichkeit auf Verständnislosigkeit oder lösen Empörung aus.

Der längst erfolgte, aber spätestens seit der Missbrauchsaffäre auch offenkundige Verlust des Moralmonopols der Kirche in der heutigen Gesellschaft bedeutet freilich keineswegs, dass die Kirche überhaupt nicht dezidierte moralische Ansprüche vertreten dürfte oder könnte, sondern zunächst „nur“, dass sie, wenn sie Standards formuliert, nicht davon ausgehen kann, dass diese von allen anerkannt oder auch nur hingenommen werden. Wenn sie es tut, tritt sie vielmehr, ob sie möchte oder nicht, in einen Wettbewerb mit den anderen Anbietern moralischer Orientierung ein, die ihr zustimmen, widersprechen, sie für falsche Prioritäten kritisieren oder sich in ihren Erwartungen enttäuscht sehen. Das Mindeste, was von ihr erwartet wird, ist, dass sie in die öffentliche Verhandlung des Strittigen eintritt und sich daran beteiligt, auszuloten, wie weit die eigenen Positionen von anderen geteilt werden können bzw. ob sie auch andere zu überzeugen vermag, und auch, ob sie glaubwürdig sind, gemessen am eigenen kirchlichen Handeln.

Solches Sich-Einlassen aber ist in Form der amtlichen Bekanntmachung und Belehrung („Instructio“) kaum mehr möglich. Dazu bedarf es vielmehr eines anderen Typus von moralischer Kommunikation. Für diesen charakteristisch ist einerseits das Anhören und Argumentieren, andererseits das Vormachen und Praktizieren. Für viele Gläubige entscheidet sich die Tragfähigkeit des kirchlichen Sprechens über Ehe, Sexualität und Familie und für alle Nichtglaubenden die Glaubwürdigkeit des kirchlichen Sprechens daran, dass sich die Kirche dieser Art von moralischer Kommunikation nicht verweigert. Aber auch für die Kirche selbst steht etwas auf dem Spiel, nämlich ihre Sprachfähigkeit zu diesen Themen – ein Postulat, das heute auch vonseiten vieler Verteidiger der traditionellen kirchlichen Morallehre erhoben wird, aber sich offensichtlich nicht nur durch einen Wechsel der Wörter und einen einladenderen Ton „abarbeiten“ lässt.

In den Äußerungen zahlreicher Gläubiger aus Anlass von Befragungen wird dieser Sehnsucht bzw. diesem Gespür, dass es dringend eines anderen Modus moralischer Kommunikation bedarf, in der Weise Ausdruck verliehen, dass von der Kirche eine Moral verlangt wird, die Orientierung geben, Einsicht schaffen und Begleitung auf den Wegen des Lebens, auch und gerade den schwierigen, leisten soll.

Ehe, Partnerschaft, Sexualität

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