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3.4 Entwicklungen in der jüngeren Sexualitätsund Partnerschaftsethik

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Wenn die Entwicklung der Sexualmoral in den letzten 50 Jahren zum Thema gemacht wird (vor allem unter dem Stichwort der „sexuellen Revolution“), dann wird je nach Standpunkt des Betrachters eine Geschichte der Befreiung oder aber eine des Werteverfalls und der falschen Emanzipation erzählt.2 Beide Erzählungen erscheinen plausibel. Und ihr gemeinsamer Referenzpunkt ist das allgemeine moralische Bewusstsein zu Beginn dieser Entwicklung einschließlich der formulierten Überlegungen und Standards, in denen dieses Bewusstsein als damals noch geltendes Recht, als Moralkodizes für bestimmte Stände und Gruppen, als philosophische und theologische Traktate über Liebe, Ehe und Sexualität oder als Erwartungen an den „Anstand“ und die „Sitte“ Niederschlag gefunden hat.

So verständlich die Bezugnahme auf die Ausgangssituation als Vergleichspunkt für die Beschreibung und Einordnung der inzwischen eingetretenen Entwicklung ist, so wenig wird sie der Erfassung der Gesamtentwicklung gerecht, weil sie von vornherein nur auf die Verlustbilanz fixiert ist, für Zuwächse hingegen blind. Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass es solche Verluste gibt.3 Zugleich aber gibt es unzweifelhaft auch Zuwächse an Wertorientierungen und normativen Erwartungen im Bereich von sexuellen Interaktionen und Partnerschaft. Einige Beispiele:

So hat „Zartheit/Zärtlichkeit“ heute bis in die ethische Literatur hinein nicht nur die Bedeutung „Austausch von Berührungen“, sondern steht auch für Behutsamkeit, empathische und rücksichtsvolle Nähe im Umgang miteinander. Auch wenn sich erotische Mitteilungen und Gesten von Partnern um keine von außen aufgestellten oder durch die Sitte tradierten Grenzen zu kümmern scheinen, unterliegen ihre Subjekte der Erwartung, darin „authentisch“ zu sein, also echt, kongruent mit sich und ihrem Denken, nicht vorgespielt oder inszeniert. Auch „Gerechtigkeit“ ist heute bei der Gestaltung der Partnerschaft für viele ein verbindliches Ideal, das insbesondere die gleiche Teilhabe an Ressourcen, Entwicklungsmöglichkeiten, beruflichem Erfolg und Verteilung der Lasten umfasst. Jener moralische Zuwachs jedoch, der wohl am kontinuierlichsten und am markantesten in Erscheinung tritt, ist die wachsende Bedeutung der Forderung nach sexueller Selbstbestimmtheit. Nicht erst die Vergewaltigung in Gestalt von erzwungenem Geschlechtsverkehr und die Verletzung der sexuellen Integrität von Bewusstlosen und Menschen mit Behinderung, sondern jede Annäherung, auch die durch anzügliche Worte, körpersprachliche Erniedrigung und Berührung, die aufgrund der Ausnutzung von zufälliger Nähe, von Hilflosigkeit, von Abhängigkeit, Scham, Drohung mit Nachteil u. Ä. zustande gekommen sind, gelten heute als Angriff auf die Freiheit des Leidtragenden.4 Und zwar unabhängig davon, wo das geschieht, ob im Kollegen- oder im Bekanntenkreis oder sogar in der Familie, auf der Straße oder im Gedränge eines öffentlichen Verkehrsmittels.

In diesem verstärkten Bewusstsein schlägt sich einerseits die Ratio des neuzeitlichen Verständnisses vom Subjekt wie auch des Freiheitsdenkens nieder. Andererseits ist kaum zu übersehen, dass es die Logik des Rechts und des Strafrechtsschutzes ist, die in dieser Hinsicht für die Moral und für die ethische Behandlung eine transformierende Kraft entfaltet hat. Das könnte zu der Vermutung Anlass geben, die bislang von der Moral ausgeübte Regelungsfunktion sei heute durch das Recht abgelöst worden. Wenn man freilich genauer hinschaut, sind gerade die Möglichkeiten, rechtlich zu erfassen, welche Handlungen und Verhaltensweisen im konkreten Fall als Grenzverletzungen empfunden werden, und dies dann auch noch einmal als Tatbestand beweisfest zu machen, in hohem Maße von moralischen Kategorien abhängig wie: Freiheit des Wollens, Lüge und Täuschung, Überredung und Verführung, Respekt und Diskretion, Nähe und Distanz, „Anmache“ und Kompliment. Sowohl diese Kategorien selbst als auch die nähere Bestimmung, was als Angriff empfunden wird, korrelieren mit einem Um- und Vorfeld von Moral, das kultiviert werden muss und seinerseits der Kontrolle bzw. Korrektur durch Reflexion und Diskurs offensteht. Wenn es vor Gericht nur noch um die Frage geht, ob die Bestellung von Dateien mit Bildern nackter Kinder gerade noch nicht die Linie der Strafbarkeit überschritten hat oder eben doch schon, ist die Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmungsfreiheit faktisch längst in Kauf genommen, und es geht nur noch um die Details der Ausschnitte und die Art der Strafe.

Die beispielhaft vorgestellten neuen und anerkannten moralischen Verbindlichkeiten verändern das Feld der Sexualitäts- und Partnerschaftsmoral sowie das ihrer Reflexion erheblich. Aber sie lösen es nicht einfach ab, so als wären Sexualmoral und Sexualethik insgesamt obsolete Regelwerke aus vormoderner Zeit. Vielmehr ergänzen und durchdringen sie die Sexualitäts- und Partnerschaftsmoral, sodass neue Sensibilitäten und Prioritäten in Erscheinung treten. Diese sind nicht inkompatibel mit den überlieferten Institutionen Ehe und Familie, sondern haben ein Eigenrecht und eine Autorität, die weder von den überlieferten Institutionen abgeleitet ist, noch von ihnen beschränkt werden kann.

Ehe, Partnerschaft, Sexualität

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