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MEINE ELTERN

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Vati hat das Haus gekauft, als meine älteste Schwester schon geboren war. Meine Mutter trennte sich kurzzeitig von meinem Vater und lebte eine Weile bei ihrer ältesten Schwester. Doch Vati holte sie mit dem Haus wieder zurück. Mutti arbeitete damals noch als Rollgangfahrerin im Stahlwerk. Bis zum dritten Kind war sie dort tätig. Meine drei älteren Schwestern gingen derweil in die Wochenkrippe.

Als ich auf die Welt komme, entschließt sich meine Mutter, nicht mehr im Stahlwerk in drei Schichten arbeiten zu gehen. Jetzt bekommt nur noch einer in unserer Familie ein Einkommen und das Geld ist immer knapp. Da meine Mutter über kein eigenes Geld verfügt, ist Vati unser großer Boss. Er meint, wenn er die Mäuse nach Hause bringt, kann er auch bestimmen, was damit geschieht. Das gefällt Mutti gar nicht und sie will es auch nicht akzeptieren. Sie ist der Meinung, dass sie genauso viel zu Hause arbeiten muss wie Vati auf seiner Arbeit. Außerdem, meint sie, ist oft mehr Geld für Vatis Bedürfnisse übrig, als für ihre und die der Kinder. Doch da kann sie sagen, was sie will, Vati lässt sich in dieser Hinsicht nicht erweichen. So muss sie noch ein bisschen nebenbei arbeiten gehen, um sich und uns manch kleinen Wunsch erfüllen zu können.

Mutti ist sehr geschickt. Sie kann nähen, tapezieren, bekommt jeden Nagel in die Wand und kann arbeiten wie ein Pferd. Sie ist sich nicht zu fein, Gelegenheitsarbeiten anzunehmen, die sonst keiner machen will. So arbeitet sie im Winter in der Firma Korten und im Sommer auf dem Feld in Werder. Beides sind harte Jobs mit wenig Verdienst. Aus Werder bringt sie Obst in Hülle und Fülle mit. Da können wir uns satt essen, und der Rest wird eingeweckt. Manchmal weckt sie tagelang bis spät in die Nacht ein. Zum Schluss ist ihr ganz übel und sie möchte die Arbeit am liebsten hinschmeißen, weil sie das Einwecken so satt hat. Das ist aber die Ausnahme. Meistens ist sie gern im Haus tätig und sie singt bei der Arbeit alle Volkslieder, die sie als Kind lernte. Auch die, die man nicht singen sollte, wie zum Beispiel „Schwarzbraun ist die Haselnuss“. Dann sagt sie im Flüsterton: „Das darfst du draußen nicht singen, das ist verboten.“

Zu Hause bekommt sie alles im Griff. Nur außerhalb unserer vier Wände fühlt sie sich etwas verloren. Naja, Mutti schämt sich dafür, dass sie nicht so gut Deutsch sprechen kann. Das behindert sie sehr im Umgang mit anderen Leuten. Die Behördengänge muss deshalb Vati erledigen. Ich finde das mit der Sprache gar nicht so schlimm. Es gibt ihr eher eine persönliche Note, wenn sie ihr „Polnisch rückwärts“ redet. Eigentlich hört es sich ganz niedlich an. Wie Mutti eben. Aber mir glaubt sie ja sowieso nicht.

Mutti hat eine Freundin, die redet genau so wie sie. Mit der fährt sie nach Werder. Die Frau hat zwei Söhne mit roten Locken, die sind ein klein wenig älter als ich und ziemlich aufgeweckt. Ihr Mann ist super nett. Und sie wohnen in unserer Siedlung, nicht weit von unserer Kirche entfernt. Manchmal schaut Mutti nach dem Gottesdienst bei ihnen vorbei.

Einmal fahre ich mit den beiden Jungs und dem Vater in ihrem Trabbi mit. Ich betätige aus Versehen einen Knopf, der meine Tür nicht mehr aufgehen lässt.

„Ach du Schreck, was hast du denn jetzt angestellt?“, fragt der Mann ganz erschrocken und rüttelt an seiner Tür. „Mann, die geht auch nicht mehr auf!“

Ich reagiere panisch, weil wir jetzt nicht mehr aus dem Auto rauskommen und versuche verzweifelt, meine Tür zu öffnen. Da fangen die drei an zu lachen und ich merke, dass ich veräppelt werde. Mit hochrotem Kopf sitze ich auf der hinteren Bank bei den Jungs, während sie mir erklären, dass der Knopf nur herausgezogen werden muss und dann ist alles wieder in Ordnung. Wahrscheinlich sehen wir in dem Moment aus wie Drillinge. Mein rotes Gesicht und der wilde Ausdruck darin passen gut zu ihren roten Locken.

Apropos rote Haare. Die Haare erinnern mich an das Buch „Der Zauberer Faulebaul“. Der luchst einem Jungen, der zu faul ist zum Lernen, seine wunderschönen roten Locken ab und lässt ihn dafür, ohne lernen zu müssen, gut in der Schule sein. In diesem Buch könnten die beiden die Hauptrolle spielen, vom Aussehen und auch vom Charakter her.

Mein Vater ist sehr gewissenhaft und pünktlich, was seine Arbeit betrifft. Gestiefelt und gespornt fährt er mit dem Fahrrad von zu Hause los, als wenn es etwas zu tun gibt, was ganz wichtig und unverschiebbar ist. Nach der Arbeit ist er kaputt und legt sich mit einem Kissen auf dem Bauch hin. Oberstes Gesetz ist es jetzt, ihn nicht beim Schlafen zu stören. Auch wenn er aus der Nachtschicht kommt, müssen wir mucksmäuschenstill sein.

Vati ist auf eine gewisse Regelmäßigkeit in seinem Leben bedacht. So darf er auf keinen Fall seine geliebte Tagesschau verpassen. Egal was passiert. Punkt 19 : 00 Uhr muss er vorm Fernseher sitzen.

Vati verreist auch gerne. Wenn seine Arbeit ihm ein paar freie Tage beschert, dann kann es passieren, dass er nach Hause kommt und sagt: „Mutti, zieh die Kinder an, wir fahren jetzt zu Oma!“ Das findet meine Mutti gar nicht witzig. Oft ist sie mitten in der Arbeit und soll dann alles stehen und liegen lassen? Aber eins ist gewiss: Vati fährt! Mit oder ohne Mutti. Manchmal wählt Mutti die letzte Variante. Einmal wollte Vati auch Hals über Kopf wegfahren und bedrängte meine Mutter so doll, dass sie sich furchtbar anstrengen musste, ihre Arbeit zu schaffen. Dabei kam sie mächtig ins Schwitzen. Als sie das Fenster öffnete, um den frisch gebohnerten Fußboden schneller trocknen zu lassen, stand sie natürlich im Zug und wurde dadurch furchtbar krank. So hat sie es jedenfalls erzählt. Das will sie auf keinen Fall noch einmal riskieren.

Vati wird des Öfteren von seinem Betrieb zur Kur geschickt. Dann fährt er sehr leidend hin und kommt voller Schaffenskraft wieder nach Hause zurück. Dreimal dürft ihr raten, was Mutti dazu sagt.

Doch einmal kommt er nicht wie gewohnt nach ein paar Wochen sichtlich erholt, sondern vorzeitig und etwas deformiert in einem Krankenwagen zurück. Er erzählt uns dazu folgende Geschichte. Vati will am Sonntagmorgen die Kirche besuchen. Doch das Kliniktor ist noch verschlossen. Da hopst er einfach aus dem Fenster und über die Klinikmauer. Das ist scheinbar keine gute Idee, denn er bricht sich dabei ein Bein. „Was mache ich nur?“, denkt sich mein Vater verzweifelt. „Wenn die Klinikleitung das rausbekommt, muss ich den Kuraufenthalt selber bezahlen. So viel Geld habe ich nicht!“ Er liegt im Dreck in seinem guten Anzug und jammert vor Schmerzen vor sich hin. Aber auch seine Lage lässt ihn verzweifeln. Da sehen ihn seine Zimmergenossen vom Fenster aus und erkennen die Situation. Sie ziehen ihn wieder über die Mauer zurück und auch noch durchs Fenster wieder hinein. Mein Vater kann die Schmerzen beim Hin- und Herzerren kaum ertragen, aber da muss er jetzt durch. Zum Schluss legen sie ihn unterhalb einer Treppe im Heim ab. So sieht es so aus, als wäre er die Treppe hinuntergestürzt und hätte sich dabei das Bein gebrochen. Als der Arzt kommt, fragt er skeptisch: „Was? Hier soll Herr Wedding hinuntergefallen sein? Da stimmt doch etwas nicht!“ Die Zimmergenossen halten vor Schreck den Atem an und mein Vater schaut niedergeschlagen und voller Schmerzen ganz dumm aus der Wäsche. „Na, wollen wir das mal glauben“, meint der Doktor und macht sich daran, alles für Vatis Genesung in die Wege zu leiten. Mein Vater wird seinen Zimmerkameraden und dem Arzt, der mitspielte, immer dankbar sein.

„Das hätte ganz schön ins Auge gehen können“, sagt er am Ende ernst. Doch dann sitzt ihm wieder der Schalk im Nacken und er meint grinsend: „Da bin ich wohl noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.“

Die Ratte kommt

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