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1. Galizisches Sztetl und besetzte Stadt 1.1 Tarnów im Vorkriegspolen 1.1.1 Die Entwicklung zum Sztetl

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Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten in Tarnów 25.000 Juden. Dies entsprach einem Bevölkerungsanteil von rund 45 Prozent.1 Die nach Lwów, Krakau und Stanisławów viertgrößte jüdische Gemeinde im einstigen Galizien wies somit im Vergleich zu anderen umliegenden Städten den prozentual höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil auf.2 Die Geschichte der Juden in Tarnów reicht Jahrhunderte zurück; bereits Mitte des 15. Jahrhunderts ließen sie sich dort nieder.3 Als im Jahr 1772 große Teile Südpolens durch Österreich besetzt worden waren, wurde die Stadt Teil des neu proklamierten Westgalizien. Zu jener Zeit zählte die jüdische Gemeinde lediglich rund 900 Mitglieder.4 In der Folgezeit wuchs die jüdische Bevölkerung in Galizien stetig an. So kamen nach 1881 Juden aus Russland in das galizische Gebiet, die sich aufgrund antisemitischer Ausschreitungen nach der Ermordung des Zaren Alexander II. im eigenen Land nicht mehr sicher fühlen konnten.Im Jahr 1903 flohen rumänische Juden aufgrund von Pogromen nach Galizien, und 1905 immigrierten erneut russische Juden in Folge der Revolution. Demgegenüber wanderten in den 1880er und 1890er Jahren viele galizische Juden in die Vereinigten Staaten aus. Darüber hinaus emigrierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Personen im Zuge der zionistischen Bewegung nach Palästina.5 Im Jahr 1900 zählte Tarnów insgesamt 31.691 Einwohner. Von diesen waren 18.960 römisch-katholisch, 12.586 mosaischen Glaubens, 110 griechisch-katholisch, 33 protestantisch und zwei Personen griechisch-orthodox.6

Während des Ersten Weltkriegs kämpften viele jüdische Männer auf Seiten Österreichs. Tarnów war von 10. November 1914 bis 5. Mai 1915 russisch besetzt. Während der über sechs Monate andauernden Besatzung Galiziens kam es zu Ausschreitungen gegenüber Juden, die auf offener Straße ausgeraubt und geschlagen wurden. Die Erfahrung der Gewalt war vor allem Grund dafür, dass sich viele galizische Juden nach Ende des Ersten Weltkriegs in den Städten niederließen. Dort empfanden sie es sicherer als auf dem Lande. Dies führte dazu, dass sich nach 1918 die Zahl der jüdischen Bevölkerung in den Städten Galiziens stark erhöhte.7 Gemäß einer Volkszählung von 1921 lebten in Tarnów zu dieser Zeit insgesamt 35.347 Menschen. Hiervon waren 15.608 Personen jüdischen Glaubens, was 44,1 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Von diesen fühlte sich allerdings circa ein Drittel der polnischen Nationalität zugehörig. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die assimilatorischen Tendenzen jener Zeit. Bereits zehn Jahre später zählte die jüdische Gemeinde 20.000 Mitglieder.8 Somit war beinahe die Hälfte der Einwohner mosaischen Glaubens, was auch das Erscheinungsbild der Stadt in hohem Maße beeinflusste. In einigen Straßenzügen lebten bis zu 90 Prozent Juden. Zudem war sowohl der gesamte östliche Teil der Stadt, das Viertel Grabówka, wie auch die Gegend um den Rynek, den Marktplatz der Stadt, jüdisch geprägt.9

Tarnów war vor allem durch die Wirtschaft und den Handel gekennzeichnet und bildete das eigentliche gewerbliche Zentrum des alten Galiziens. Neben unterschiedlichen Betrieben der Glas-, Holz- und Stickstoffindustrie erlangte die Stadt vor allem durch ihr Textilwesen Bekanntheit. In Tarnów gab es zahlreiche kleinere und mittlere Handwerksbetriebe.10 Einige Wirtschaftszweige wie die gesamte Bekleidungsindustrie mit über 60 Unternehmen in den 1920er Jahren wurden von Juden geprägt. Die Stadt war zudem vor 1914 das größte Zentrum der Hutmacherei in der Habsburger Monarchie, wobei die Produzenten auch überwiegend jüdischen Glaubens waren. Darüber hinaus florierten der jüdische Handel und die Industrie in der Stadt. 80 Prozent der lokalen Läden wurden von jüdischen Inhabern betrieben. Die jüdische Beteiligung in der Industrie lag zwischen 50 und 90 Prozent, was von der jeweiligen Gewerbebranche abhängig war.11 Aber nicht nur aus wirtschaftlicher Perspektive war die jüdische Gemeinde innerhalb des städtischen Gesellschaftsgefüges fest verankert. Auch ein Großteil der intellektuellen und kulturellen Elite der Stadt war jüdischen Glaubens. Viele Juden waren als Rechtsanwälte, Lehrer oder auch Physiker tätig. Allerdings bildete diese gut situierte Elite nicht die Regel. Die meisten Juden lebten in ärmlichen Verhältnissen.12

Unabhängig von sozialem und wirtschaftlichem Status bot das kulturelle und gesellschaftliche Leben ein großes Angebot an Freizeitbeschäftigungen. So gab es zahlreiche jüdische Verbände, kulturelle Einrichtungen sowie Sportvereine. Allein von Letzteren existierten neun in der Stadt.13 Religiöse gemeinnützige Einrichtungen unterstützten die Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Die erste Organisation dieser Art stellte die seit 1889 existierende „Bikur Cholim“ dar, die sich um die Gesundheitsversorgung der ärmeren Bevölkerung kümmerte. Demgegenüber versorgte „Bejs Lechem“ die Armen mit Nahrung und Kleidung. Die Vereine und sozialen Einrichtungen konnten nicht gänzlich für die soziale Fürsorge der Bedürftigen aufkommen. Ein Krankenhaus, ein Waisenhaus, ein Altenpflegeheim sowie Kindergärten wurden von staatlicher Seite finanziert.14

Ein wichtiger Bestandteil jüdischen Lebens bildete selbstverständlich die Religion, für deren Ausübung es diverse Einrichtungen und Plätze gab. In Tarnów existierten über 40 jüdische Gebetsorte wie Synagogen und kleinere Gebetshäuser. Die größte unter ihnen war die „Synagoga Nowa“, die „Neue Synagoge“.15 Glaubensrichtungen in der Stadt waren äußerst heterogen. Das Spektrum reichte vom orthodoxen Judentum, über den Chassidismus16, bis hin zur Haskalah.17 Aber auch die politischen Orientierungen waren sehr verschieden. Stark vertreten waren Zionisten sowie Bundisten.18 Aktiv beteiligte sich die jüdische Bevölkerung am lokalpolitischen Geschehen. So wurden am 9. Mai 1867 zum ersten Mal Juden in den Stadtrat gewählt. Die elf Männer stellten beinahe ein Viertel des Rats.19 In Bezug auf die jüdische Teilhabe am politischen Leben in der Stadt markierte 1906 eine wichtige Zäsur. In diesem Jahr wurde Elias Goldhammer zum ersten jüdischen Vizebürgermeister der Stadt ernannt. Bis 1939 sollte das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters jeweils von jüdischen Männern bekleidet werden.20


Abb. 1. Jüdische Männer in Tarnów, vermutlich 1930er Jahre.

Tarnów hatte sich seit dem 15. Jahrhundert ganz allmählich zu einem Zentrum jüdischen Lebens in Galizien entwickelt. Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stellte die jüdische Gemeinde nicht nur beinahe die Hälfte der Einwohner der Stadt, sondern sie trug in außerordentlichem Maße zum ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen und politischen Leben Tarnóws bei. All dies konnte jedoch die Distanziertheit und die Spannungen, die zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung häufig vorherrschten, nicht unterbinden.

Die Shoah im Distrikt Krakau

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