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1.1.5 Praktische Theologie als Theorie „gelebter Religion“?

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„Kommunikation des Evangeliums“ ist derzeit als Leitbegriff praktisch-theologischer Reflexion nicht konkurrenzlos; vor allem im evangelischen Raum wird seit einiger Zeit von einigen Vertretern und Vertreterinnen des Faches „gelebte Religion“ als Programmbegriff favorisiert. Damit verbinden sich gehaltvolle und bemerkenswerte Ansätze der praktischen Theologie. Was Anlass ist, ihnen nur teilweise zu folgen und doch eher einen anders akzentuierten Ansatz vorzuziehen, bedarf darum wenigstens einer kurzen Erläuterung.

Wie durch den Plural angedeutet, begegnen unter dem Stichwort „gelebte Religion“ unterschiedlich ansetzende und sich entfaltende Konzepte der praktischen Theologie (vgl. überblicksartig 48). Unbeschadet dessen lassen sich aber auch einige Gemeinsamkeiten ausmachen: „Wer nach der gelebten Religion fragt“, so hat D. Rössler bereits 1976 einen solchen Ansatz gegenüber herkömmlichen normativen Konzepten abgegrenzt, „sucht nicht Programme oder Anweisungen für das, was Religion sein sollte. Er fragt vielmehr nach dem, was als Religion tatsächlich und lebendig ist … Tatsächliche und gelebte Religion wird dort greifbar, wo sie wahrgenommen wird, wo sie in Ereignissen, in Aktivitäten, in Gebräuchen, Gesinnungen und Einstellungen zum Ausdruck kommt und wo dieser Ausdruck allgemein und selbstverständlich eben als Religion gilt“ (69, 13).7 Deutlicher, als es Rössler seinerzeit vor Augen stand, ist damit die Konsequenz verbunden, dass die praktische Theologie, will sie sich keinen Wirklichkeitsverlust einhandeln, ihren herkömmlichen Denkrahmen ausweiten muss. Dieser Denkrahmen nämlich macht Religion ausschließlich an Kirche oder Christentum fest und ist von daher außer Stande, nachzuvollziehen, dass die neuzeitliche Gesellschaftsentwicklung durch einen enormen Prozess der Ausdifferenzierung auch der Religion und einen daraus resultierenden tief reichenden und folgenreichen Gestaltwandel von ihr – und nicht, wie es fälschlicherweise häufig behauptet wird, durch ihren Verlust – gekennzeichnet ist; diese Ausdifferenzierung vollzieht sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche. Spätestens durch die Präsenz anderer Religionen im alltäglichen Nahbereich und zusätzlich durch das Aufkommen von neuen religiösen Bewegungen u.a. hat das Christentum seine frühere Monopolstellung in diesem Bereich, wie es ihn im europäischen Kulturkreis („Abendland“ genannt) über Jahrhunderte hinweg innegehabt hat, verloren. Allerdings ist eine an den herkömmlichen dogmatischen Kategorien und Vorstellungen orientierte Theologie nicht in der Lage, diesen sozialen und religiösen Wandel adäquat zu erfassen. Darum muss auf nicht-theologische Konzepte und Methoden zur Wahrnehmung bzw. zum Verstehen dessen zurückgegriffen werden, was als Religion unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen auszumachen ist, wo sie eine Rolle spielt und worin diese besteht, in welchen Ausdrucksformen sie sich dokumentiert u.ä.m. Der praktisch-theologische Ertrag einer solchen religionsphänomenologisch bzw. -hermeneutisch angelegten Vorgehensweise wird darin gesehen, dass man einerseits näher an die religiösen Vorstellungen, Fragen etc. gelangt, so wie die Menschen sie in ihrem Alltag erleben und bewegen, also an die von ihnen „gelebte Religion“, und dass man andererseits die teilweise zwar zentralen und unaufgebbaren, aber in ihren überkommenen Vorstellungsgehalten vielfach für heutige Menschen nicht mehr verständlichen und darum als lebensfern empfundenen Glaubensinhalte wieder als für zeitgenössisches Denken und Empfinden nachvollziehbar und womöglich hilfreich erschließen kann.

Es kann darauf verzichtet werden, an dieser Stelle die unter dem Programmbegriff „gelebte Religion“ firmierenden praktisch-theologischen Ansätze im Einzelnen auszuführen.8 Ein zentrales Anliegen verbindet sie auf jeden Fall mit dem hier bevorzugten Stichwort der „Kommunikation des Evangeliums“: so gut wie möglich nahe bei dem zu sein, was die Menschen bewegt, was sie umtreibt etc., und zwar insbesondere dort, wo sich in ihrem Leben Fragen nach Unbedingtem und Unverfügbarem auftun. Um dazu fähig zu werden, ist es unerlässlich, sich den Menschen in ihren konkreten alltäglichen Lebenssituationen – unter Einbezug ihrer jeweiligen Lebensgeschichte und ihres lebensweltlichen Kontextes – zuzuwenden und darum bemüht zu sein, sie so zu verstehen, wie sie sind, und nicht so, wie man sie sich vorstellt oder wünscht.

So wenig hilfreich dafür herkömmliche dogmatische Begriffe aufgrund der hinter ihnen stehenden normativen Vorstellungen sein mögen, so kommt man prinzipiell nicht darum herum, für die Erfassung von Wirklichkeit auf bestimmte Kategorien zurückzugreifen, die ihrerseits erheblich die Perspektive, die man einnimmt, beeinflussen und ausrichten. Was man also als wirklich wahrnimmt, hängt entscheidend von der Wahl des kategorialen und damit theoretischen Bezugsrahmens ab. Das gilt auch für den Programmbegriff „gelebte Religion“; für sein näheres Verständnis und die Verständigung über ihn ist entscheidend, was als „Religion“ bestimmt wird.

Von Interesse ist im Zusammenhang der hier anzustellenden Überlegungen die Reichweite dessen, was mithilfe des Begriffs „gelebte Religion“ erfasst werden soll und kann. Damit erübrigt es sich, sich ein weiteres Mal auf die uferlos anmutende Debatte über eine angemessene Bestimmung des Religionsbegriffs überhaupt einzulassen. Auch kann die im letzten Jahrhundert heftig ausgefochtene Kontroverse um die prinzipielle Legitimität einer theologischen Inanspruchnahme dieses Begriffs vernachlässigt werden. Denn dass auch der christliche Glaube in der empirischen Wirklichkeit unweigerlich die Züge einer – mit anderen vergleichbaren – Religion annimmt, ist nie bestritten worden, sondern nur die Frage, ob das seinem eigentlichen Wesen entspricht oder nicht. Hier genügt es zu konstatieren, dass sich bis auf die biblische Tradition zurück der christliche wie auch der jüdische Glaube als religiöses Phänomen manifestiert, und zwar sowohl in individueller als auch in kollektiver Hinsicht. Das reicht bis dahin, dass beide Religionen – Judentum sowie Christentum – in ihren Vorstellungen und Bildern, Festen und Riten nicht Weniges von den Religionen ihrer Umwelt übernommen haben und übernehmen, solange sie in einem religiös anders geprägten Kontext sich zu inkulturieren versuchen.

Zugleich ist aber auch festzustellen, dass das Religiöse gerade in der biblischen Tradition immerzu eine eigenartige Brechung erfährt, und zwar auf zweifache Weise: Es wird einer geradezu schonungslosen Kritik unterzogen, wenn es in einer Weise in Anspruch genommen und praktiziert wird, auf die das, wozu es da ist, verfehlt und verfälscht wird, wenn also beispielsweise gottesdienstliche Rituale zelebriert werden, mit diesen aber nicht Gott die Ehre gegeben wird, sondern ganz andere Interessen verfolgt werden. Überdies insistiert die Bibel auf eine untrennbare Verbindung von religiösem und sozialem Verhalten. Insbesondere durch die ständig neu zu vergegenwärtigende Erinnerung des Exodusereignisses wird festgehalten, dass der Gott, der sich als der Gott Israels offenbart hat, ein Gott ist, der sein Volk aus dem Joch der Knechtschaft in die Befreiung geführt hat. Dienst an Gott und Dienst an der Gerechtigkeit bilden von daher für den jüdischen Glauben gewissermaßen die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Diese unabdingbare Einheit von Gottes- und Menschenliebe hat für den christlichen Glauben durch Jesus von Nazaret seine nachhaltige Bekräftigung erfahren.

Insofern reicht das Praxisfeld der praktischen Theologie weiter und ist es umfassender, als was gemeinhin mit religiöser Praxis assoziiert wird. Deswegen wird hier „Kommunikation des Evangeliums“ als programmatischer Leitbegriff von praktischer Theologie bevorzugt. „Evangelium“ beinhaltet in der Version, wie das Wort hier gebraucht wird, die Einheit von Religiösem und Sozialem, umfasst – wie es D. Bonhoeffer treffend formuliert hat, beides zugleich, das „Beten“ und das „Tun des Gerechten unter den Menschen“ (vgl. 434, 328).

Um es nochmals zu betonen: Die Bedenken gegen die Rede von der „gelebten Religion“ richten sich keineswegs gegen das Bemühen der praktischen Theologie, so umfassend und so differenziert wie möglich die heutigen Erscheinungsformen des Religiösen aufzuspüren und kennen zu lernen; im Gegenteil, dieses ist eine ihrer grundlegenden Aufgaben. Die Vorbehalte setzen nur dort ein, wo die Gefahr droht, dass der religiöse Bereich apart gesetzt und alles andere ausgeblendet wird. Es reicht – genau darauf wird hier insistiert – nicht aus, Anschluss zu gewinnen an alle möglichen Formen der im Alltag gelebten und ihn irgendwie transzendierenden Religion oder Sinnfindung. Unverzichtbar ist es, sich auch der Religionskritik zu stellen und Unterscheidungen vorzunehmen. Kann Religion doch bekanntermaßen zur Entfremdung der Menschen von sich selbst und der Wirklichkeit beitragen und damit den jeweils herrschenden Kräften dienen oder tiefster Beweggrund solidarisch gelebter Freiheit sein. Von dieser Ambivalenz ist keine Religion ausgeschlossen. Bei aller Wertschätzung „gelebter Religion“ hat die praktische Theologie darum eine Kriteriologie für religiöse Phänomene auszuarbeiten, die es ihr erlaubt, Menschwerdung behindernde und sie fördernde Religion voneinander zu unterscheiden. Bei einer bloß affirmativ bleibenden Bezugnahme auf aktuelle religiöse Phänomene und Tendenzen liefe sie zudem Gefahr, einfach dem Individualisierungstrend auch im Bereich des Religiösen zu folgen. Aus dem Blick geriete dabei leicht jener Bereich vielleicht nicht als religiös zu identifizierender, aber zweifelsohne als christlich zu bestimmender sozialer und gesellschaftskritischer Praxis, in der sich entsprechend motivierte einzelne und Gruppen solidarisch für einen gerechteren, versöhnteren und verträglicheren Umgang der Menschen untereinander, mit sich selbst und mit der Natur einsetzen, wie es der Verheißung der Reich-Gottes-Botschaft entspricht.

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