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1.2 Zur Methodologie und Methode der Praktischen Theologie

1.2.1 Praktische Theologie nach der „hermeneutischen Wende“

Sofern ihnen bescheinigt werden kann, dass sie zeitgemäß sind, ist gemeinsames Charakteristikum aller praktisch-theologischen Ansätze, dass sie theologiegeschichtlich betrachtet hinter jener Zäsur anzusiedeln sind, die hier als „hermeneutische Wende“ bezeichnet werden soll.11 Das mag mittlerweile so selbstverständlich sein, dass es für überflüssig angesehen werden könnte, es eigens zu erwähnen. Dennoch ist es – wie zum Schluss dieses Abschnitts anhand eines Vorgangs innerhalb der katholischen Kirche in Lateinamerika aufgezeigt werden soll – eine Fehleinschätzung, wenn in dieser Hinsicht bereits ein allgemeiner Konsens unterstellt wird. Im Gegenteil, die Position einer vor-hermeneutischen Theologie findet kirchenintern (vor allem im katholischen Raum) immer noch beträchtliche Resonanz. Darüber hinaus ist der Einfluss, den immer noch, wenn nicht gar vermehrt fundamentalistische Strömungen ausüben, kaum zu unterschätzen.

Die Unerbittlichkeit, mit der sich die verschiedenen Positionen teilweise gegenseitig befehden, hängt mit der Unversöhnlichkeit der von ihnen vertretenen Theologiekonzepte zusammen:

– Auf der einen Seite – um es um der deutlicheren Pointierung willen auf zwei Positionen hin zuzuspitzen – wird Theologie verstanden als die direkte Auslegung der von Gott offenbarten Wahrheit, die die Menschen in ihrem Denken und Tun zu befolgen haben. Im Grunde genommen steht für diese Sichtweise alles, was als wahr zu gelten hat, fest und ist sogar bei gutem Willen für die menschliche Vernunft nachvollziehbar. Es kommt nur noch darauf an, für die Praxis die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Was praktisch zu geschehen hat, ist in der Theorie vorgegeben und muss folglich aus ihr abgeleitet zu werden.

– Von der anderen Seite wird dieses Konzept völlig in Frage gestellt und abgelehnt, weil es Voraussetzungen mache, die zwar als gültig behauptet würden, allerdings ohne dies hinreichend als plausibel erweisen zu können. Als entscheidende Einsicht wird die Tatsache geltend gemacht, dass die Menschen geschichtliche Wesen sind und dass das auch Auswirkungen auf ihre Möglichkeiten hat, die Wirklichkeit zu erfassen und zu gestalten. Es ist darum ein Irrtum anzunehmen, dass es gewissermaßen ein Reich von absoluten, d.h. zeit- und kontextlos gültigen Wahrheiten gibt, die dem Menschen mithilfe von Vernunft und Offenbarung zugänglich sind und nach denen in möglichst optimaler Entsprechung die konkrete Wirklichkeit zu gestalten ist. Dies ist vielmehr von einem komplexen Bedingungsgefüge abhängig, das zudem noch von Fall zu Fall variiert; entsprechend vielfältig fallen die Wirklichkeitserfassungen und -gestaltungen aus, und zwar diachron ebenso wie synchron. Es kommt deshalb darauf an, um etwa einen bestimmten Fall nachvollziehen zu können, ihn so gut wie möglich in Zusammenhang mit dem für ihn maßgeblichen Bedingungsgefüge zu bringen – was vollständig zu erfassen, im sozialen Bereich nie so exakt gelingt und gelingen kann wie etwa bei naturwissenschaftlichen Experimenten; mehr als über ein annäherungsweise zutreffendes Interpretieren und Verstehen sowie ein Mit-anderen-darüber-sich-Verständigen kommt man dort nicht hinaus.

Ausgehend von den geschichtlich orientierten Disziplinen wie biblische Exegese und Kirchengeschichte hat dieses hermeneutische Bewusstsein nach und nach die gesamte Theologie durchdrungen. Außer den wissenschaftlich bedeutsamen Einsichten, die etwa in den Bibelwissenschaften mithilfe der historisch-kritischen Methode erzielt wurden und werden, hat sicherlich zu dieser Entwicklung beigetragen, dass die Theologie immer stärker mit der grundsätzlichen Frage konfrontiert wurde und wird, wie den heute lebenden und in der Regel mit den sich durchgesetzt habenden Rationalitätsstandards vertrauten und von ihnen geprägten Menschen überhaupt eine Dimension der Wirklichkeit plausibel gemacht und erschlossen werden kann, die zunächst einmal als mit den herrschend gewordenen Standards nicht oder nur schwerlich vereinbar empfunden wird. So etwas einfach als zu Glaubendes vorgeben zu wollen, wird von den Zeitgenossen nicht akzeptiert. Sowohl dass eine Person glaubt als auch was sie glaubt, muss darum zumindest als plausibel und besser noch als lebensbedeutsam nachvollzogen werden können. Von daher ist von der Theologie ein doppelter Erschließungsprozess zu leisten: zum einen eine für die heutigen Verstehensbedingungen nachvollziehbare und zugleich mit ihrer ursprünglichen Intention vereinbare Interpretation der überkommenen Glaubensinhalte und zum anderen eine Erschließung und Vergewisserung der existenziellen ebenso wie der gesamten soziohistorischen Bedingungen, wie es überhaupt dazu kommt und was es bedeutet, dass Menschen sich selbst, andere, die Wirklichkeit und – in all dem und darüber hinaus – Gott verstehen und sich mit anderen darüber verständigen.

Für die praktische Theologie hatte dieser Einzug des hermeneutischen Bewusstseins einen ganz speziellen Effekt. Wurde sie doch bis dahin auch seit und trotz ihrer Etablierung als Universitätsdisziplin von den anderen theologischen Disziplinen eher geringschätzig behandelt – als mehr oder weniger sinnvolles „Anhängsel“ zu der von ihnen betriebenen eigentlichen wissenschaftlichen Theologie, das den angehenden Priestern bzw. Pfarrern kurz vor Abschluss ihres Studiums einige „Rezepte“ an die Hand geben sollte, wie sie ihr erworbenes theoretische Wissen demnächst in die Praxis hinein umsetzen können. Als Fach, das sich mit der als bloßer Anwendungsfall der Theorie eingeschätzten Praxis zu befassen hatte, war es für die praktische Theologie prinzipiell ausgeschlossen, von den anderen Disziplinen als ebenbürtig angesehen zu werden.

Dieses einlinige Theorie-Praxis-Gefälle erscheint einem hermeneutisch gebildeten Bewusstsein allzu kurzschlüssig; es geht davon aus, dass neben der Theorie der Praxis eine eigene Dignität zukommt, die theoretisch nie völlig einholbar und erst recht nicht ableitbar ist. Das gilt auch und gerade für die theologische Reflexion; ist doch der Glaube keine Theorie, sondern allererst eine ihr voraus liegende Praxis, die theoretisch zu reflektieren durchaus Sinn macht, weil sie ohne eine solche kritische und konstruktive Sehhilfe leicht „betriebsblind“ werden kann. Aber die Theologie bildet mit Blick auf den Glaubensvollzug grundsätzlich den zweiten Akt und hat einen entsprechenden nach-geordneten Stellenwert. Daran die anderen theologischen Disziplinen gegebenenfalls zu erinnern und vor allem neben der historischen Praxis auch die gegenwärtige Praxis verstärkt in die Theologie hineinzuholen, ist eine Aufgabe, die wahrzunehmen die praktische Theologie in besonderer Weise für sich beanspruchen darf, die sie sich dann aber auch konsequent angelegen sein zu lassen hat.

Je nach dem, was dabei als Praxis in den Blick genommen wird, kommt es innerhalb der praktischen Theologie zu stärker existenziellen oder kulturellen oder politischen Ausrichtungen. Mit ausdrücklicher Einbeziehung der Gender-Perspektive kann beispielsweise bewusster werden bzw. ist es mittlerweile geworden, dass Frauen etwa die Bibel anders lesen als die Männer und dass sie daraus auch innovative Gestaltungsformen für ihre Praxis finden, die unter der Dominanz von Männern nicht haben zur Geltung kommen können (vgl. 32, 65). Ähnlich gilt es sich anderer Unterschiede in ihren Implikationen und Konsequenzen für die praktisch-theologische Reflexion bewusst zu werden, wie z.B. Klerus – Laie, alt – jung, arm – reich, schwarz – weiß, behindert – nicht behindert; spielt sich doch die „Kommunikation des Evangeliums“ nicht oberhalb von solchen Unterschieden ab, sondern findet sie gerade im Umgang mit ihnen ihre besondere Bewährungsprobe.

Wie zu Beginn dieses Abschnitts angekündigt, soll anhand eines Beispiels dokumentiert werden, wie sehr immer noch ein vor-hermeneutisches Bewusstsein innerhalb der katholischen Kirche verbreitet und mit welchen Auswirkungen dieses verbunden ist12: Sicherlich angeregt durch die erwähnte Pastoralkonstitution des letzten Konzils, aber in radikaler Weiterführung ihrer Intentionen hat sich in breiten Teilen der katholischen Kirche in Lateinamerika und auf der Karibik enorm schnell ein sozial und politisch ausgerichtetes hermeneutisches Bewusstsein ausgebildet, das bis in die Verfassung offizieller kirchlicher Dokumente hinein13 seinen deutlichen Niederschlag fand: Die theologische und pastorale Reflexion nimmt ihren Ausgangspunkt bei der vorfindlichen gesellschaftlichen Realität; die darin angetroffenen und das alltägliche Leben prägenden Phänomene und Tendenzen, wie auf diesem Kontinent insbesondere Armut und Hunger und die immer breitere Ausmaße annehmende Verelendung, werden beschrieben und analysiert, werden in ihren Zusammenhängen und Hintergründen erforscht und ihre Ursachen werden ergründet. Dann wird diese gesellschaftliche Realität mit den in ihr ansichtig gewordenen „Zeichen der Zeit“ im Lichte des Evangeliums zu deuten versucht, um so zu Optionen zu gelangen, aus denen schließlich Handlungsperspektiven unterschiedlicher Reichweiten – von lang- bis kurzfristig – zu entwickeln versucht werden. Der Prozess geht also von der Praxis aus, führt zu einer theoretischen Reflexion dieser Praxis und leitet schließlich wieder zu dieser über – und dieses Ganze im Sinne einer andauernden und gewissermaßen spiralförmig verlaufenden Weiterentwicklung.

An die Stelle dieser konsequent induktiv vorgehenden Arbeitsweise, die Glauben als einen Prozess versteht, der von dem Kontext, in dem er sich vollzieht, entscheidend mitgeprägt wird, versuchen seit einiger Zeit seine – teilweise kirchenintern sehr einflussreichen – Kritiker wieder das traditionelle Schema zu setzen, das an den Anfang eine kontextlos gefasste allgemeine theologische Aussage stellt, dann die sich aktuell stellenden Herausforderungen benennt und schließlich sich mehr oder weniger damit in Zusammenhang stehende pastorale Leitlinien benennt – ein Schema, das also klar deduktiv vorgeht und insgesamt statisch angelegt ist: Im Grunde weiß man aufgrund der theologischen Prinzipien eigentlich immer schon, was zu tun ist; der konkreten Realität kommt eine beiläufige Rolle zu – im Sinne von Rahmenbedingungen, auf die bei der praktischen Befolgung der Prinzipien Rücksicht zu nehmen ist.14

Dieser Vorgang ist deswegen so bedeutsam, weil es hier nicht bloß um eine Veränderung einer Arbeitsweise oder Methode handelt. Vielmehr geht es um einen Paradigmenwechsel, d.h. eine grundlegende Veränderung des Zugangs zur und der Erfassung von Wirklichkeit mit erheblichen praktischen Folgen. Macht es doch einen erheblichen Unterschied, ob sich die Kirche als inmitten der Menschheitsgeschichte mitsamt deren ganzen Widersprüchlichkeiten angesiedelt und darin verwickelt begreift oder ob sie für sich in Anspruch nimmt, damit gar nichts zu tun zu haben, weil sie auf eine Wahrheit bezogen ist, die durch kontingente Sachverhalte und Ereignisse nicht tangiert wird.

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