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1.3.1 Zur Situation von Religion und Glauben im Kontext aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen

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Welcher Befund aus einer Diagnose gewonnen wird, hängt davon ab, mit welchem Ziel und entsprechend mit welchem Blickwinkel diese vorgenommen wurde. So kann es auch im Folgenden ersten Schritt dieser Überlegungen nicht darum gehen, eine umfassende Diagnose aktuell vorfindbarer individueller oder kollektiver Befindlichkeiten vornehmen zu wollen. Vielmehr soll versucht werden, einzuschätzen, welche Schwierigkeiten das Anliegen, den christlichen Glauben mit heutigen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen zu kommunizieren, einkalkulieren muss, aber auch welche Anknüpfungsmöglichkeiten dafür gegeben sind. Dabei geht es im ersten Schritt nicht um die Frage, wie die einzelnen Bekenntnisinhalte dieses Glaubens, die bekanntlich eine lange Geschichte hinter sich haben, so aus- und dargelegt werden können, dass sie für Menschen des 21. Jahrhunderts nachvollziehbar sind, also – traditionell formuliert – um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für die fides quae. Sondern allererst muss nach den Voraussetzungen für die fides qua gefragt werden, also danach, ob und inwiefern heutige Menschen von ihren Lebensumständen her überhaupt dafür disponiert sind, sich auf so etwas wie Glauben oder – allgemeiner betrachtet – Religion einzulassen.

Speziell für den Glauben wird davon ausgegangen, dass er die oder den, mit der oder dem er es zu tun hat, gewissermaßen „mit Haut und Haaren“ in Beschlag nimmt, es sich also nicht um eine vorübergehende und jederzeit austauschbare Angelegenheit handelt. Hinzukommt als weiteres Merkmal, dass Glauben zumindest christlichem Verständnis gemäß, so sehr er in das Innerste des jeweiligen Individuums hineinreicht, doch nicht bloß Privatsache ist, sondern auf ein Zusammenleben und -glauben hin mit anderen ausgerichtet ist. Gemeinsam mit anderen gelebt und praktiziert kann es sich nicht um eine kurzweilige und unverbindliche Angelegenheit handeln.

Auch wenn diese formale Bestimmung des Glaubens alles andere als erschöpfend ist, macht sie einige Voraussetzungen kenntlich, die auf der Seite des Menschen gegeben sein müssen, damit er diesen Akt vollziehen kann. Im Glaubensvollzug ist die betroffene Person existenziell involviert, voll und ganz beteiligt. Er kann für jemanden die Erfüllung des Lebens beinhalten; er kann aber auch in einem lebenslangen Suchen und Ringen bestehen – bis hin zu der Erfahrung der totalen Finsternis. Was ihn ausmacht, ist nicht so sehr ein Wissen, erst recht nicht ein Bescheidwissen über das Geheimnis des Lebens. Sondern er hat es mit einem Erleben und Handeln zu tun, das einen unbedingt angeht sowie voll und ganz in Beschlag nimmt. Nicht zufällig bringt das christliche Verständnis ihn mit den Existenzvollzügen des Hoffens und Liebens zusammen und macht damit zugleich deutlich, dass ein Glauben nur für sich selbst nicht möglich ist. Er richtet sich nicht nur auf die anderen, sondern verdankt sich allererst der Begegnung mit dem Anderen. Insofern wohnt ihm nicht nur eine Verbindlichkeit und Unbedingtheit für sich selbst inne, sondern auch für andere und mit ihnen.

Damit sind die Stichworte geliefert, um die es zentral im folgenden Versuch einer Gegenwartsdiagnose geht: Wie ist es um die Möglichkeit solcher Existenzvollzüge wie Glauben, Hoffen und Lieben bestellt? Was wird von heutigen Menschen als für sie und andere Verbindliches erlebt und gelebt? Was ist es, wovon sie sich unbedingt betreffen lassen, und was heißt das für ihr Leben? Wie gehen sie mit der darin inbegriffenen Wahrheitsfrage um? Welche Schwierigkeiten und Hindernisse lassen sich ausmachen, um solche Fragen möglicherweise überhaupt erst aufkommen zu lassen oder sich von ihnen wirklich betreffen zu lassen?

Es ist unmöglich, beim Aufwerfen und Nachgehen solcher Fragen eine neutrale Zuschauerposition einzunehmen. Unvermeidlich kommen eigene Erfahrungen und damit zusammenhängende Sichtweisen, Wertungen etc. mit ins Spiel. Leicht schleicht sich dabei u.a. die Tendenz ein, gegenwärtige Phänomene im Lichte der Vergangenheit zu beleuchten und zu beurteilen. Wenn im Folgenden eine Reihe von Voraussetzungen namhaft zu machen versucht wird, die einem Glauben-Können und der Kommunikation darüber mit anderen im angedeuteten Sinne eher im Wege stehen als ihm förderlich sind, so ist damit nicht gesagt, dass es in der Vergangenheit darum besser bestellt war. Eine solche Einschätzung wäre aus verschiedenen Gründen vermessen. Das einzige, was sich sagen lässt, ist: Es war früher und ist wiederum heute in vielerlei Hinsicht anders.

Dieses Anders-Sein der heutigen Kommunikationsvoraussetzungen über das Evangelium und der Glaubensvoraussetzungen – im Vergleich etwa zu denen von zwei bis drei Generationen zuvor (wobei einschränkend zu vermerken ist, dass dabei die jüngere Entwicklung innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland vor Augen steht) – lässt sich schlagwortartig möglicherweise wie folgt umreißen: Wie die übrigen Lebensbereiche sind auch Religion und Glauben von den die (radikale) Modernisierung kennzeichnenden gesellschaftlichen Prozessen der Individualisierung, Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Globalisierung betroffen. Im Folgenden soll jeweils kurz erläutert werden, welche Auswirkungen die mit diesen mittlerweile gängig gewordenen soziologischen Begriffen gemeinten Entwicklungen vor allem auf den Bereich von Religion und Glauben zeitigen. Zur Erhellung der Möglichkeitsbedingungen der eingangs aufgeführten Existenzvollzüge ist es allerdings notwendig, den umfassenderen Kontext jeweils mit in den Blick zu nehmen.

1. Der Individualitätsschub in der modernen Gesellschaft, die Tatsache also, dass die strukturellen Gegebenheiten der modernen Gesellschaft ein von es bindenden sozialen Bezügen nicht eingeschränktes Individuum haben erforderlich werden lassen, hat für die Menschen prinzipiell einen enormen Freiheitszuwachs mit sich gebracht. Der Verlauf und die Gestaltung der Lebensgeschichte des einzelnen sind nicht mehr durch äußere Vorgegebenheiten und Zwänge mehr oder weniger determiniert, sondern zur ureigenen Angelegenheit der betroffenen Person geworden. Sie hat jeweils zu entscheiden und zu gestalten, wie sie mit den an sie „von außen“ gerichteten und teilweise widersprüchlichen Anforderungen umgeht, sie untereinander gewichtet und koordiniert – und das immer wieder neu. Mit dieser Errungenschaft eines neuen Maßes an Freiheit kommen allerdings zugleich auch neue Zwänge und Abhängigkeiten auf. Das beginnt damit, dass der bzw. die einzelne nicht nur frei entscheiden kann, was er bzw. sie tut, sondern dieses entscheiden muss. Unzählige fühlen sich davon überfordert, zumal sich auf sie teilweise auf sehr sublime Weise strukturelle Anpassungszwänge richten, und sei es in Form des Drucks zur Selbstverwirklichung.

Individualisierung heißt nicht unweigerlich Individualismus, aber sie kann ihn zur Folge haben, wenn nicht gar in „Egomanie“ (H. E. Richter) sich auswachsen. Auf jeden Fall muss das Individuum sich stark mit sich selbst beschäftigen, ist es zu einer kontinuierlichen Selbstvergewisserung angehalten. Dabei können auch leicht Angst und Unsicherheit aufkommen – ein Nährboden für fundamentalistische Strömungen aller Art.

Dass die Individualisierung im religiösen Bereich besonders nachhaltige Auswirkungen zeitigt, liegt daran, dass dieses Feld traditionell stark von Vorgegebenheiten und Zwängen geprägt war. Dem nicht länger ausgesetzt zu sein, wird von vielen, die davon noch betroffen waren, als ungeheurer Freiheitsgewinn verbucht. Für die religiösen Institutionen hat das zur Folge, dass aus der traditionalen Mitgliedschaft eine bewusst gewählte wird und die Zugehörigkeitszahlen somit kleiner werden. Mit dem quantitativen Rückgang ist allerdings nicht zwangsläufig eine Qualitätsminderung des Engagements derer verbunden, die sich dazu entschieden haben; es fällt vielleicht weniger altruistisch aus, als es früher vollzogen worden ist. Auf jeden Fall wird der Glaube für die Betroffenen bewusster, selbstreflexiver; in dem Maße, wie er bei der Gestaltung des eigenen Lebens als hilfreich erfahren wird, bewährt er sich. Demnach hat das institutionelle Handeln der Kirche davon auszugehen, dass Menschen, die damit den Kontakt suchen, sich als „Einzelfälle“ behandelt wissen wollen.

Aus dem Rückgang der Bindungen an die überkommenen religiösen Institutionen ist nicht auf einen Rückgang an Religiosität schlechthin zu schließen. Sie begegnet vielmehr in den verschiedensten Formen, ist vielfach eher latent vorhanden als manifest ausgeprägt, bleibt eher ein diffuses Gefühl statt reflexe Gewissheit. In lange Zeit so nicht vorgestellter Weise setzt die Individualisierung sogar religiöse bzw. quasireligiösre Kräfte frei: angefangen in der Form expressiver Kulte von Selbstinszenierungen bis hin zur Kompensation der als bedrängend erlebten Angst und Unsicherheit.

2. Individualisierung und Pluralisierung – das als zweites aufgeführte Schlagwort – bedingen sich nicht nur gegenseitig, sondern verstärken sich darüber hinaus gegenseitig. Je individueller die Lebenslagen geprägt sind, desto pluraler sind die Lebensstile, die man in einer Gesellschaft vorfindet. Hinzukommt die weltweite Migration von Menschen, die inzwischen dazu geführt hat, dass die verschiedenen Kulturen nicht mehr nebeneinander, sondern miteinander existieren. Vielfalt ist nicht nur möglich, sondern selbstverständlich geworden. Prinzipiell positiv an dieser Entwicklung ist, dass Unterschiede, die zwischen Menschen bestehen, nebeneinander bestehen bleiben und zumindest dem Gesetzesbuchstaben nach aus ihnen keine Überlegenheits- bzw. Unterlegenheitsverhältnisse mehr abgeleitet werden können. Im Gegenteil, es kann als eigene Bereicherung erfahren werden, aus der Begegnung mit dem Differenten bzw. Fremden zu lernen. Indem die Anderen nicht länger ferngehalten und abgesondert werden, sondern in die unmittelbare Nähe gerückt sind, konkrete Gesichter bekommen haben, wird es emotional leichter, sie in ihrer Andersartigkeit kennen zu lernen und anzuerkennen.

Es gibt allerdings auch die Kehrseite dessen, die Tatsache, dass für nicht wenige die multikulturell gewordene Gesellschaft Angst macht, dass sie den Verlust des Eigenen befürchten und das den anderen, denen sie das als Schuld zuschreiben, mehr oder weniger aggressiv zu verstehen geben. Insofern geht mit der Pluralisierung eine Zunahme eines für sie bedrohlichen Potentials einher. Die Problematik eines Lebens in Pluralität zeigt sich bei vielen Menschen beispielsweise darin, dass sie sich gern Modetrends mit ihrem Zwang zur Uniformierung unterwerfen – was vor allem unter Jugendlichen bekanntlich so weit gehen kann, dass, wer nicht mit dem Trend mithält oder mithalten kann, aus der „Clique“ exkommuniziert wird.

Dass Pluralisierung nicht unbedingt dazu führt, sich den Unterschieden zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sondern im Gegenteil dazu, sie zu nivellieren, manifestiert sich besonders deutlich in einer weit verbreiteten Einstellung, der zufolge nicht nur alles Mögliche möglich und erlaubt ist, sondern auch gleichwertig – egal worum es sich handelt. Dies wirkt sich besonders nachhaltig im ethischen und im religiösen Bereich aus: Die Frage nach einer Wahrheit oder auch nach einer Hierarchie der Wahrheiten oder Werte zu stellen, ist obsolet geworden; gilt doch das Prinzip, dass grundsätzlich alles gleich gültig und zudem die je eigene Perspektive immer nur eine relative ist. So kommt es dazu, dass viele Menschen zur Einstellung eines prinzipiellen Relativismus tendieren. Es gilt als Ausdruck der Toleranz, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen, selbst wenn er seine Selbstdestruktion betreibt.

Was in diesem Extremfall besonders drastisch zum Ausdruck kommt, ist eine mit dem prinzipiellen Relativismus häufig einhergehende Einstellung, die man als Zuschauermentalität bezeichnen könnte. Denn wenn es sowieso keine allgemein gültigen und universal anwendbaren Kriterien für richtig und nicht richtig, gut und böse, wahr und falsch gibt, wird es auch nicht für lohnenswert erachtet, sich für irgendetwas oder irgendwen einzusetzen, sich für eine Sache mehr zu interessieren und zu engagieren als für eine andere. Wenn andere so etwas tun, schaut man bestenfalls verwundert, aber teilnahmslos zu; hat solch ein altruistischer Einsatz doch sowieso weder Sinn noch Zweck. Worauf es ankommt, ist, die eigene Existenz möglichst genussvoll zu leben.

Von diesem prinzipiellen Pluralismus nochmals zu unterscheiden ist ein anderes Phänomen der Pluralisierung auch im religiösen Bereich, nämlich die insbesondere für die katholische Kirche ungewohnte Tatsache einer Pluralität von Glaubensüberzeugungen und -ausdrucksformen in den eigenen Reihen. Hier ist in Anschlag zu bringen, was zu Beginn des Abschnitts gesagt worden ist, nämlich dass Pluralität insofern eine Bereicherung darstellt, als ein uniform gehaltener Glaube gar nicht dessen vollen und umfassenden Gehalt wiederzugeben vermag.

Allerdings muss auch nüchtern zur Kenntnis genommen werden, dass die Pluralisierung der Glaubensüberzeugungen und -ausdrucksformen sich auch unter denen, die sich der Kirche zugehörig fühlen, keineswegs auf das der christlichen Tradition innewohnende Potential an Pluralität beschränkt, sondern bei dem einen mehr, bei der anderen weniger über dessen Grenzen hinausgeht. Die Tatsache, dass alle Weltreligionen und darüber hinaus neoreligiöse Erscheinungsformen in die unmittelbare Nähe gerückt sind, hat es mit sich gebracht, dass man leichter mit bislang Unvertrautem in Berührung kommt und das eine oder andere davon möglicherweise für das eigene Leben als attraktiv und übernehmenswert empfindet. Solches synkretistische Auswählen und Zusammensetzen verschiedener Elemente, wie es mit dem französischen Begriff „bricolage“ treffend bezeichnet wird, geschieht nicht nur nebeneinander, sondern vollzieht sich auch je individuell im eigenen Bewusstsein. Religiöse Vorstellungen, wie etwa das Gottesbild, können sich aus teilweise höchst heterogenen Quellen speisen. Der dazu von Kirchenvertretern u. a. erhobene Vorwurf, hier gerate auch die Religion in den Strudel der völligen Beliebigkeit, trifft nur höchst bedingt zu. Denn empirische Rekonstruktionen des individuellen Auswahlverhaltens haben ergeben, dass es jeweils konkrete lebenspraktische Belange sind, die die einen „Sinnangebote“ sich aneignen lassen und die anderen nicht (vgl. 498, bes. 262f.).

3. Das nächste Stichwort, Enttraditionalisierung, steht wiederum in engem Zusammenhang mit den beiden bisher behandelten, Individualisierung und Pluralisierung. War dabei doch schon mit der damit gemeinten Auflösung von bislang als verbindlich geltenden und der individuellen sowie kollektiven Orientierung dienenden Traditionen allenthalben die Rede. Tradition und Moderne gelten als unvereinbar, so dass, wer mit der Modernisierung Schritt halten will, das Vergangene hinter sich lassen und nach vorn schauen muss. Allein das, was ist und was sich machen lässt, zählt. Dem allenthalben angesagten Fortschritt stehen Rückschritte nur im Wege.

Diesem Modernisierungsdenken korrespondiert eine Lebenseinstellung, die auf das Hier und Jetzt gerichtet ist nach dem Motto: Erlebe dein Leben! War dieses ehedem ein Privileg der reichen Schichten, so hat die Mehrung des Wohlstands es mit sich gebracht, dass relativ breite Bevölkerungskreise nunmehr nach diesem Motto leben können. Die weitgehende Ausrichtung an einem erlebnisorientierten Lebensstil sowie die ständige Perfektionierung und Erweiterung der Angebote wird von einer sich immer mehr differenzierenden und expandierenden Konsumindustrie sowie von einem die Produkte vertreibenden Dienstleitungsgewerbe unterstützt. Die Modewellen in den verschiedensten Bereichen überschlagen sich. Immer wirksamere Erlebnisqualitäten („Kicks“) zu liefern, verheißen die angebotenen Produkte. An manchem Beispiel ließe sich veranschaulichen, dass dieser Trend selbst vor dem religiösen Bereich nicht Halt macht – was zusätzlich die von einigen Gesellschaftskritikern aufgestellte These untermauert, dass Konsum und Hedonismus zu der eigentlichen (Ersatz-)Religion unserer Zeit geworden ist.

Doch auch diese Entwicklung hat ihre andere Seite. Sie besteht zum einen darin, dass die Zahl derer, die schon allein die materiellen „Opfer“, die diese Religion einfordert, nicht mehr aufbringen können, nicht kleiner, sondern größer wird – bedingt durch Entwicklungen im ökonomischen Bereich, auf die unter dem nächsten Stichwort „Globalisierung“ noch näher eingegangen wird. Zum anderen machen Menschen die Erfahrung, dass das Leben nach dem Prinzip, das Leben zu erleben, keineswegs die Erfüllung mit sich bringt, die es verheißt, und dass es zudem Situationen gibt, in denen es schlicht und einfach versagt. Wenn die Begrenztheit menschlichen Lebens bewusst wird, setzt bei vielen Menschen eine neue Nachdenklichkeit ein, ob denn das, was man hat, alles sein kann und soll.

In diesem Zusammenhang ist inzwischen eine immer größere Kreise ziehende Nachdenklichkeit aufgekommen, die auf die sich abzeichnenden Folgeprobleme der Modernisierung aufmerksam und bewusst macht, dass diese nicht im Rahmen der diese Entwicklung vorantreibenden Logik gelöst werden können, sondern dass für sie von anderswoher Lösungen gesucht werden müssen: Dürfen die Menschen wirklich alles machen, was sie können? Welche Kriterien können für entsprechende Entscheidungen geltend gemacht werden? Dass die Menschen, wenn sie ihr (Gottes-)Gedächtnis verlieren, sich zu findigen Tieren zurückkreuzen könnten – und sich eben nicht, wie manche wohl durchaus ernsthaft glauben, an die Stelle des Weltenschöpfers setzen können –, diese Schreckensvision ist heute für viele noch bedrängender geworden als zu der Zeit, zu der K. Rahner sie geäußert hat (vgl. 478, 58).

4. Das letzte Schlagwort im Reigen der vier aufgeführten lautet Globalisierung. Auch der Prozess, der damit gemeint ist, hat mehrere Facetten. Zunächst einmal drückt er den durchaus als positiv zu verzeichnende Vorgang aus, dass die Menschen sich aufgrund neuer und sich ständig verfeinernder Entwicklungen im Bereich der Kommunikations- und Transporttechnologien räumlich und zeitlich näher gekommen sind bzw. näher kommen können und damit die Erfahrung der einen Menschheit konkreter geworden ist. Prinzipiell kann jederzeit gleichzeitig von allen möglichen Punkten auf unserem Planeten aus informiert und miteinander kommuniziert werden; und prinzipiell können auch persönlich die dazwischen liegenden Entfernungen so schnell wie noch nie überbrückt werden.

Das Problem ist nur, dass das, was prinzipiell möglich ist, keineswegs allen im gleichen Maße zugute kommt; im Gegenteil, es ist bislang eine absolute Minderheit, die davon profitiert und die auch ein Interesse daran hat, dass ihr dieses Privileg so lange wie möglich erhalten bleibt. Anders formuliert: Die Globalisierung, so wie sie faktisch vonstatten geht bzw. gesteuert wird, läuft weitestgehend unter rein ökonomischen Vorzeichen ab. In der Wirtschaft hat man nämlich schnell begriffen, welchen Vorteil die Grenzenlosigkeit mit sich bringen kann: Da ist es auf der einen Seite möglich geworden, die Herstellung und den Vertrieb von Produkten so in die verschiedensten Regionen der Welt aufzuteilen, dass die einzelnen Abläufe so organisiert werden, dass sie in die jeweils kostengünstigsten Standorte verlagert werden und so insgesamt der maximale Gewinn erzielt wird, der seinerseits allerdings nicht der Einnahmequote entsprechend auf die einzelnen Standorte aufgeteilt wird. Da ist auf der anderen Seite die durch die Finanzspekulation ausgelöste, ständig und weltweit erfolgende Verschiebung des Kapitals zu nennen, die sich jeglicher Kontrolle entzieht und für die Gewinner Reichtümer in unvorstellbaren Ausmaßen mit sich bringt. Gerade von letzterem geht die verführerische Verheißung aus, schnell „Geld machen“ zu können, die ihre Wirkungen insbesondere auf die aufstrebende Mittelschicht in der Gesellschaft nicht verfehlt hat; nachdem sich inzwischen die Hoffnungen der Kleinspekulanten nicht erfüllt haben, die Betroffenen also ihr wirtschaftliches Aufstiegsprojekt vom Scheitern bedroht sehen, kommt unter ihnen eine Stimmungslage der Unzufriedenheit und Resignation auf, die sie leicht für eine rechtspopulistische Stimmungsmacherei anfällig werden lässt.

Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Forschung ist es – dies sei der Vollständigkeit halber exkursartig eingefügt –, die durch die Globalisierung einen enormen Anschub und Aufschwung erfahren hat und erfährt. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Gentechnologie, die das Erlangen von immer neuen Erkenntnissen einer weltweiten Vernetzung von Forschungszentren verdankt. Die Frage ist nur, ob die in solcher globaler Kooperation gewonnenen Ergebnisse auch allen Menschen zugute kommen oder ob dem vonseiten der finanziell in erheblichem Ausmaß daran beteiligten Wirtschaft ein Riegel vorgeschoben wird, weil sie ein Interesse hat, die getätigten Investitionen in Form von x-fachen Gewinnen entschädigt zu bekommen. Die Tatsache, dass Genmaterial patentiert wird, bedeutet, dass eine Minderheit in der Lage ist, darüber zu verfügen, wem was zugute kommt – und zwar bis in den Bereich der Erfüllung von Grundbedürfnissen wie Nahrung und Gesundheit hinein.

Gänzlich anders ist die Situation bei denen, die von Anfang an keine Chancen hatten, auf der Gewinnerseite des unter neoliberal-ökonomischem Vorzeichen betriebenen Globalisierungsprozesses zu stehen, sondern von ihm mehr oder weniger bewusst ausgeschlossen wurden, die, die nicht einmal mehr zur Ausbeutung benötigt werden, weil rationell arbeitende Maschinen menschliche Arbeitskraft zunehmend überflüssig werden lassen. Statt die möglich gewordene Einheit der Menschheit herbeizuführen, hat die Globalisierung, wie sie sich faktisch durchgesetzt hat, ihre Spaltung mit sich gebracht, eine Spaltung, die sich immer stärker vertieft und verfestigt und die seit einiger Zeit noch mit sozialdarwinistischen Parolen als unvermeidlich gerechtfertigt wird: Die Stärkeren kommen halt durch!

Genau diese Spaltung ist es, die sich tief bis in die seelischen Stimmungslagen der Menschen hinein auswirkt: Auf der Seite der immer stärker in die Armut Verbannten wächst das Gefühl der Aussichtslosigkeit, das sich vermehrt in ungezügelte Gewalt hinein entlädt. Auf der anderen Seite der privilegierten Minderheit wird alles daran gesetzt, das zu behalten, was man hat, wobei im Hintergrund die Furcht mitschwingt, man könne es mit einem Male verlieren. Mit gigantomanischen Anstrengungen bauen sich die Wohlstandsregionen in der Welt zu nach Möglichkeit uneinnehmbaren Festungen aus – mit dem Effekt, dass sie dafür nicht regenerierbare Ressourcen aufbrauchen und sich so allmählich das eigene Verderben bereiten.

Es gibt allerdings auch inzwischen nicht länger übersehbare Gegenbewegungen, ausgelöst von einzelnen und gemeinsamen Initiativen, die die Augen nicht vor den Gefahren, in die sich die Menschheit und der ganze Planet hineinbewegen, verschließen, sondern dem wirksam zu begegnen bestrebt sind und mit ihrem Engagement und symbolischen Aktionen der Weltöffentlichkeit bewusst zu machen versuchen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, den drohenden Untergang zu vermeiden: den Weg der globalen Solidarität.

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