Читать книгу Lindenherz - Tala T. Alsted - Страница 10

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Obwohl Edi sie mit Johann gesehen hat, verschließt Katharina das geheimnisvolle Zimmer wieder und legt den Schlüssel zurück in das wie ein Buch geformte Holzkästchen. In ihrer Kammer holt sie ihr Smartphone hervor, um Begriffe in das Suchfenster zu tippen. Sie braucht dringend mehr Informationen! Immerhin weiß sie bereits, dass Johann in Grünfels vor genau 824 Jahren, im Jahr 1194 lebt. So absurd das klingt, so unmöglich es ist, sie hat selbst in diesem fremden Wald gestanden!

Nach wenigen Klicks spuckt das Online-Lexikon einige Ereignisse aus, die 1194 stattgefunden haben: Den englischen König Richard Löwenherz entlässt man gegen ein Rekord-Lösegeld aus seiner Gefangenschaft auf Burg Triefels, Kaiser Heinrich VI. gelingt es auch noch den Thron von Sizilien zu bekommen und kurz nach Weihnachten kommt sein Sohn Friedrich zur Welt. Das alles passiert allerdings in Italien, weit weg von Grünfels.

Katharina tippt daraufhin »Grünfels 1194« in die Suchmaschine, doch die Ergebnisse betreffen eine Festung viele hundert Kilometer entfernt in Österreich. Zur Geschichte der hiesigen Burg entdeckt sie kaum mehr als auf der Tafel an der Ruine gestanden hat. Im Grunde ist nicht einmal gesichert bekannt, dass sie 1194 schon existierte. Eine Gänsehaut bildet sich auf Katharinas Schultern. Denn sie weiß es besser.

Die Suchanfrage »Zeitreise Grünfels« bringt natürlich keine passenden Treffer.

Katharina seufzt, legt das Smartphone beiseite und stellt sich mit verschränkten Armen vor die Bücherregale. Es muss doch Hinweise zum Unmöglichen geben, hier bei Edi gibt es schließlich Lesestoff zu allen Themen! Kurzerhand räumt sie die Bücher aus, die auf der unteren Ebene im Regal am Kopfende ihres Bettes stehen, um Platz zu schaffen für ihre neuen Recherchethemen: Mittelalter und Zeitreisen.

Draußen im Flur und unten in Edis Wohnzimmer findet sie einige Romane, in denen es um Zeitreisen geht. Sie platziert sie sorgfältig nebeneinander – gleich heute Abend will sie zu lesen beginnen! Fasziniert fährt sie die silbernen Buchstaben nach, die eines der Hardcovers verzieren. Wenn sie sich schon durch alle diese Romane lesen wird, dann kann sie gleich in ihrem Buchblog »WORD« eine neue Themen-Serie starten. Den betreibt sie jetzt schon seit einem Jahr gemeinsam mit Sarah. Sie schreiben Rezensionen zu allem, was sie gelesen haben und Sarah produziert sogar Videos, in denen sie ihr Urteil kurz und knapp und auf ihre ganz eigene, vorwitzige Art zusammenfasst. Ihr Blog ist so erfolgreich, dass Verlage ihnen regelmäßig Bücher kostenlos zur Verfügung stellen. Ein Lächeln legt sich auf Katharinas Lippen, als sie die unbändige Energie spürt, mehr herauszufinden.

Das nächste Buch, das Katharina aus dem Regal zieht, heißt »Die Frau im Mittelalter«. Der Umschlag zeigt eine hübsche Dame mit langem blondem Haar und einem endlosen, roten Kleid. Als sie es aufschlägt, fällt ein Foto heraus und landet vor ihren Füßen auf dem Dielenboden. Ungläubig mustert sie es genauer, bevor sie es langsam aufhebt. Kein Zweifel, das Bild zeigt sie und Johann draußen vor Edis Haus! Während Katharina ihr breitestes Fotolächeln präsentiert, schaut Johann ernst in die Kamera. Katharinas Arm liegt auf seiner Schulter. Beide sind sie noch Kinder, genau wie in ihrem Traum. Mit zitternden Fingern streicht Katharina über das glänzende Papier. Entschlossen richtet sie sich auf und läuft hinunter zu Edi.

Sie findet Edi in der Küche, wo sie einen Gurkensalat für das Abendbrot zubereitet. Denn obwohl bereits Oktober ist, wachsen in Edis kleinem Glasgewächshaus immer noch Unmengen von langen, krummen Salatgurken. Als Katharina zur Tür hereinstürmt, wischt Edi sich die Hände an ihrer Küchenschürze ab.

»Was ist denn los, Liebes?«, fragt sie und sieht Katharina aufmerksam an. Edi bemerkt offenbar sofort, wie aufgewühlt ihre Enkelin sich fühlt. Entschlossen hält ihr Katharina die Fotografie unter die Nase.

»Weißt du, wann das war?«, fragt sie mit Nachdruck. Jetzt kann Edi unmöglich noch behaupten, dass sie Johann nicht kennt! Edi sieht die Aufnahme nur kurz an und ihre Stimme klingt ruhig wie immer: »Na, das ist schon ein paar Jährchen her, würde ich sagen. Ich denke, da warst du etwa neun Jahre alt. Ach, wie die Zeit vergeht!«

»Aber das ist doch Johann neben mir!«, ruft Katharina und beobachtet Edi genau. Die atmet tief ein und pustet die Luft langsam wieder aus. Dann greift sie nach einer Zwiebel und beginnt sie zu schälen.

»Ja, natürlich ist das Johann«, antwortet sie schließlich und nimmt ein scharfes Messer aus der Besteckschublade. »Er kam damals oft zu Besuch, ihr habt euch gut verstanden.«

Bildet sie es sich nur ein oder weicht Edi ihrem Blick absichtlich aus? Jedenfalls beugt sie sich jetzt tief über ihr Schneidebrett, um die Zwiebel in ganz besonders feine Stücke zu hacken, obwohl das ihre Augen tränen lässt.

»Und warum kam er dann später nicht mehr zu Besuch?«, bohrt Katharina weiter.

Edi zuckt nur mit den Achseln. »Keine Ahnung, ich habe nie nachgefragt. Vermutlich hatte er Hausarrest bekommen oder anderweitig zu tun.«

»Ich konnte mich überhaupt nicht mehr an ihn erinnern!«, ruft Katharina empört.

Edi lächelt nur. »Das ist ja auch schon Jahre her und du warst noch klein … Zuerst hattest du dieses schlimme Fieber und warst tagelang krank. Dann vergingen mehrere Wochen, bis du das nächste Mal hier übernachtet hast. Du hast nie nach ihm gefragt.«

Wieder wendet sie sich ihrem Salat zu, indem sie Pfeffer, Salz, Öl und Essig zu mischen beginnt. Katharina seufzt. Vielleicht stimmt Edis Vermutung. Sie kann sich schließlich an die meisten Dinge aus ihrer Kindheit nur noch undeutlich erinnern. Womöglich ist es völlig normal, dass sie Johann vergessen hat, nachdem sie sich lange Zeit nicht begegnet sind. Sie steckt das Foto in die Hosentasche und fängt an, den Tisch zu decken.

Aber während sie Teller, Messer und Gläser aus dem Küchenbuffet nimmt, fällt ihr wieder ein, dass Edi ganz sicher ahnen muss, wie wenig wahrscheinlich Johann ein normaler Junge aus der Nachbarschaft ist. Sie hat es nicht direkt gesagt, aber allein der Blick, mit dem sie ihn heute Nachmittag angesehen hat, sprach Bände.

Als sie dann beide mit ihrem warmen Tee am Esstisch im Wohnzimmer sitzen und es draußen schon dämmert, räuspert sich Katharina. »Ich bin mir sicher, du weißt, wo Johann herkommt«, sagt sie und setzt damit alles auf eine Karte. Jetzt schaut Edi sie an und ihre Falten scheinen in diesem Moment tiefer zu liegen als sonst. Sie sieht müde aus.

»Ja, ich weiß es«, gibt sie schließlich zu, »und ja, ich war sogar froh, als du damals nicht mehr nach ihm gefragt hast und den Spiegel vergessen zu haben schienst. Denn es ist gefährlich, dorthin zu gehen! Diese Zeit ist anders als unsere. Der Wald ist wunderschön. Aber das Leben ist rauer und riskanter als hier. Viele Menschen sind bewaffnet, ein Mädchen ohne Anschluss an eine einflussreiche Familie hat in dieser Gesellschaft wenig Wert und das wichtigste ist: Den Durchgang darf keiner entdecken. Hörst du? Weder jemand aus Johanns Welt, noch von hier. Bitte geh nicht mehr dorthin und sprich mit niemanden darüber!«

Katharina sieht Edi mit aufgerissenen Augen an. Sie kennt das Geheimnis tatsächlich! Edi hat es die ganze Zeit gewusst – sie und Johann sind nicht die einzigen, die diese verrückte Information mit sich herumtragen!

»Weiß Gabriele …«, beginnt sie. Doch Edi schüttelt beinahe zornig den Kopf.

»Nein – und das soll auch so bleiben. Es ist sicherer für sie! Versprich mir, niemanden davon zu erzählen!« Katharina hat Edi noch nie so ernst erlebt. In ihrem Nacken bildet sich eine Gänsehaut und sie greift nach ihrer Teetasse, um sich daran zu wärmen.

»Ich verspreche, dass ich es niemandem verrate«, wiederholt sie schließlich, als Edith sie weiterhin mit diesem ernsten Ausdruck anschaut. Ihre Oma nickt zufrieden, nimmt sich eine Scheibe Brot und sagt: »Und jetzt möchte ich das Thema wechseln.« Dieser letzte Satz steht wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen. Dabei drängen sich Katharina immer mehr Fragen auf, die sie sonst niemanden stellen kann. Lange Zeit schweigen sie.

***

Bis zum nächsten Nachmittag hat Katharina bereits zur Hälfte ein Buch gelesen, in dem eine Frau neben dem Haus ihrer verstorbenen Großmutter einen Baum findet, durch den sie in die Vergangenheit reisen kann. Das liest sich furchtbar spannend, aber es bringt sie im Hinblick auf ihre eigenen Erfahrungen nicht weiter. Denn sie glaubt auf keinen Fall, dass sie nur dank der Kraft des alten Baumes, der nur in Johanns Zeit noch existiert, dorthin reisen kann. Obwohl die alten Leute im Dorf den Baum für magisch halten, wie Johann bemerkt hat. Während sie nachdenkt, kaut sie auf ihrer Unterlippe.

Als es plötzlich an der Tür klopft, beißt sie sich beinahe die Lippe blutig. Sie springt auf, denn das Geräusch kam nicht von der Flurtür, sondern von der, die ins Nebenzimmer führt!

»Wer ist da?«, krächzt sie. Natürlich hofft sie, dass es Johann ist – aber nachdem ihr Edi gestern erzählt hat, wie gefährlich es in der anderen Zeit ist, muss sie selbstverständlich auf Nummer sicher gehen. Alle Härchen auf ihrem nackten Unterarm stehen zu Berge, während sie lauscht.

»Ich bins, Johann«, kommt die Antwort aus dem Nebenraum und Katharina beeilt sich, den Schlüssel aus seinem Versteck zu holen.

»Brauchen wir ein Geheimwort? Oder ein besonderes Klopfzeichen?«, fragt Johann, nachdem sie ihm von dem Gespräch mit Edi berichtet hat. Er setzt sich vorsichtig auf die einzige Sitzgelegenheit, die es neben ihrem Bett im Raum gibt – einen weiteren, altmodischen, aber bequemen Lesesessel.

Katharina hockt sich auf die Kante ihres Betts und sagt: »Ein Codewort ist gut! Hast du eine Idee?«

»Vielleicht was mit Linde, Waldlinde oder Lindenblüte«, schlägt Johann vor.

»Oder Lindenblatt. Die Blätter sehen so hübsch herzförmig aus!«, ergänzt Katharina mit einem Lächeln.

»Lindenherz? Darauf kommt niemand«, kommentiert Johann und damit ist es beschlossene Sache. Jetzt teilen sie nicht nur ein großes Geheimnis, sondern auch noch ein Geheimwort! Diese Erkenntnis schlingt sich wie ein enges Band um sie und Johann. Eine Weile sehen sie sich stumm an und Katharina wartet, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisiert. Dann zieht sie das Foto aus der Hosentasche und reicht es Johann.

»Schau mal, das habe ich gefunden«, sagt sie und hält ihm das etwas knittrige Papier hin. Johann betrachtet es eingehend.

»Ich versteh nicht, wie ich das vergessen konnte«, fasst er ihr eigenes Unbehagen in Worte. »Gestern Abend hab ich die alte Magd Sidonie gefragt, ob sie noch weiß, dass ich einmal dieses Fieber hatte. Sidonie hat sich oft um uns Kinder gekümmert. Sie sagt, ich wäre damals beinahe gestorben. Es dauerte Wochen, bis ich mich wieder erholt hatte. Ich weiß fast nichts mehr davon!«

Sie schweigen eine Weile und hängen ihren Gedanken nach.

»Wenn ich darf, möchte ich dich gern öfter besuchen«, sagt Johann schließlich. »Ich hab nie viel Zeit, im Augenblick soll ich den Stall ausmisten, aber hin und wieder kann ich mich davonschleichen. Das hier ist so viel spannender als bei der Ernte zu helfen oder Zäune zu flicken!«

Sein Blick wandert durch den Raum, als versuche er, sich alle Details einzuprägen. »Du musst mir dringend alles zeigen, was es bei mir nicht gibt!«

Katharina lässt sich von seiner Begeisterung anstecken, nickt lächelnd und hält ihm die Kleidung hin, die er schon am Vortag ausgeliehen hat.

***

Vor der Haustür ist Edi weit und breit nicht zu entdecken. Als Johann Katharinas Fahrrad in der Sonne funkeln sieht, geht er zielstrebig darauf zu und schleicht dann neugierig darum herum. Er lässt seine Finger vorsichtig über das Metall gleiten. Katharina errät, dass er es ausprobieren will.

»Los, trau dich«, sagt sie und führt ihm vor, wie man aufsteigt und die Balance hält, indem sie auf der freien Fläche vor dem Haus im Kreis fährt.

»Ich fall bestimmt runter«, ruft er abwehrend und sieht sich zögernd um. Vermutlich will er sichergehen, dass niemand sie beobachtet.

»Du kannst doch auch reiten«, argumentiert Katharina, aber Johann findet natürlich, das sei etwas völlig anderes. Schließlich strafft er dennoch die Schultern, stemmt nach ihrer Anleitung die Beine links und rechts vom Fahrrad auf den Boden und umklammert den Lenker mit beiden Händen. Die nächste Stunde übt er mit todernstem Gesichtsausdruck und zusammengepressten Zähnen unermüdlich. Am Anfang hilft Katharina ihm das Rad zu halten, damit er nicht ständig zur Seite kippt, was ihm unendlich peinlich ist.

»Wehe, du erzählst jemandem, dass ich Schüler eines Mädchens bin – noch dazu eines, das jünger ist als ich«, ruft er, während er unsicher über den Sandweg wackelt, der von Edis Haus ins Dorf führt. Katharina läuft lachend nebenher.

»Ich bin höchstens ein bisschen jünger als du und es ist doch egal, wer dir etwas beibringt! Hauptsache, du lernst es!«, ruft sie ausgelassen. »Sieht schon richtig gut aus!«

Im Schuppen steht ein altmodisches, braunes Damenrad, das Edi nur selten benutzt. Katharina pumpt Luft auf und wischt die Spinnweben vom Sattel. Sie blickt auf die Uhr ihres Smartphones.

»Hast du noch Zeit für einen Ausflug?«

Johann grinst schief und schaut hoch zur Sonne. Dann nickt er und putzt sich den Staub von den Knien, denn er ist natürlich doch mehrmals gestürzt.

Katharina vermutet, dass er schon viel zu lange weggeblieben ist. »Du musst freilich selbst wissen, ob du nachher Prügel bekommst!«

Die Bemerkung ist als Scherz gedacht, aber sie sieht, wie Johanns Blick sich ein wenig verdunkelt. Er atmet tief ein und spannt den Oberkörper sichtbar an. »Ludowig soll es wagen, mir den Hintern zu versohlen. Inzwischen bin ich zu groß für ihn!«

Entschlossen packt er den Lenker von Katharinas Rad. Dann rollen sie nebeneinander den Sandweg entlang und Katharina fasst hastig die wichtigsten Verkehrsregeln zusammen. Bis in die nächste Stadt dauert es mit dem Fahrrad nur eine gute Viertelstunde. Ein ruhiger Feldweg führt den Großteil der Strecke an einem weitläufigen Maisfeld vorbei, das Johann misstrauisch beäugt. Er hält sogar an, um die mannshohen dürren Stängel anzufassen, die offenbar kurz vor der Ernte stehen.

»Ist das essbar?«, will er wissen. Erst da wird Katharina bewusst, dass Mais ursprünglich nicht aus Europa stammt. Johann kann die Pflanze gar nicht kennen!

Die Herbstsonne fühlt sich warm an im Gesicht und als sie schließlich auf dem Marktplatz der verschlafenen Kleinstadt ankommen, schwitzt Katharina sogar ein wenig.

Sie stellen die Räder ab und Katharina kramt in ihren Taschen nach ein paar Münzen. Dann steuert sie zielstrebig auf das Eiscafé zu und Johann folgt ihr neugierig. Weil er allerdings nur sprachlos vor den zwanzig verschiedenen Eissorten steht, entscheidet sie sich für zwei Waffeln mit Schokoladeneis. Am Springbrunnen direkt gegenüber lecken sie schweigend das Eis. Johanns Augen leuchten.

»Das ist das Beste, was ich seit langem gegessen habe«, sagt er genießerisch. Dann verzieht er die Lippen, als störe ihn doch etwas. »Obwohl es mir wirklich unangenehm ist, dass ich mich von einem Mädchen einladen lasse!«

Katharina schnaubt abfällig. »Das ist völlig unwichtig!«, schimpft sie, denn bei solchen Kommentaren springt sofort ihr ausgeprägtes Radar für Ungerechtigkeiten an. Als er sie verwirrt mustert, fügt sie versöhnlich hinzu: »Wenn es dir damit besser geht, dann sag doch, es war dein guter Freund Melchior.«

Johann zieht amüsiert einen Mundwinkel nach oben. Offensichtlich erinnert er sich ebenfalls wieder an den Decknamen, den er ihr vor langer Zeit für die Aufenthalte in seiner Welt gegeben hat.

Dann wird sein Gesicht ernst. Katharina sieht an sich herunter, denn sie fühlt seinen Blick beinahe körperlich. Hastig kontrolliert sie die enge, bunte Stoffhose und das dunkelgrüne T-Shirt mit dem weißen Blütenmuster auf Eisflecken.

»Obwohl du in Hosen und mit Männerfrisur herumläufst, siehst du aber eher aus wie Katharina«, sagt Johann schließlich und schaut plötzlich angestrengt in eine andere Richtung. Er hebt das Fahrrad wieder auf und fügt dann schnell hinzu: »Ich muss mich beeilen, ehe mich jemand sucht!«

***

Als sie zurück in Katharinas Zimmer kommen, fragt Johann, ob sie immer hier wohne.

»Ich habe zwei Wochen Ferien, bevor ich wieder zur Schule gehe«, sagt sie. »Zwischendurch besucht uns meine Mutter einige Male und vielleicht auch meine Freundin Sarah.«

»Schule?«, hakt Johann nach. Dieses Detail scheint ihm trotz der zurückgekehrten Erinnerungen entfallen zu sein! Geduldig erklärt Katharina, dass in ihrer Zeit alle Kinder zur Schule gehen. »Mindestens neun Jahre sind Pflicht, ich lerne aber zwölf Jahre«, betont sie fast ein wenig prahlerisch und genießt seinen entsetzten Blick. »Rechnen, Schreiben, Lesen, Natur- und Erdkunde, Chemie, Englisch, Latein, Sport, Kunst, Musik, …«, rattert sie ihre Schulfächer herunter, nur, um ihn ein bisschen aufzuziehen.

Johann fasst es auch prompt als Kritik auf. »Dann bist du sicher sehr viel schlauer als ich, der immerhin ein wenig Schreiben, Rechnen und Latein gelernt hat. Nicht zu vergessen Politik und Konversation, Reiten, Fechten, Schießen, Jagen, Musik und Tanz … obwohl letzteres nicht meine Stärke ist.«

Seine Augenbrauen ziehen sich jetzt noch enger zusammen und sie erstarrt, als er sie so mit zusammengepressten Lippen fixiert. »Ich bin mir darüber im Klaren, dass 824 Jahre einige Fortschritte gebracht haben. Aber ich bin nicht dumm!«

Katharina zuckt zurück, denn für einen Moment fühlt es sich so an, als verpasse er ihr eine Ohrfeige – bloß mit Worten. Sie sehen sich schweigend in die Augen und nach einer Weile bemerkt Katharina eine Veränderung darin, so als verrauche seine Wut so plötzlich wie sie aufgeflammt ist.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen«, stammelt sie trotzdem. Johann schneidet ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Schon gut, du kannst ja nichts dafür«, brummt er nur und dreht ihr den Rücken zu, um seine eigenen Kleider anzulegen. Dann tritt er wortlos hinüber an den Spiegel. Kurz bevor er seine Stirn an das Spiegelglas legt, berührt er sie noch einmal versöhnlich an der Schulter.

Als er verschwunden ist, hebt Katharina das eilig aufs Bett geworfene Sweatshirt auf, streicht es gedankenverloren glatt und verstaut es sorgfältig gefaltet neben ihren eigenen Sachen im Schrank. In ihrem Kopf herrscht Aufruhr. Dieser junge Mann verwirrt sie. Wenn sie wirklich Freunde gewesen waren – was ist dann passiert?

Lindenherz

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