Читать книгу Lindenherz - Tala T. Alsted - Страница 15

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Nach Heiligabend zieht Katharina wieder bei Edi ein, um einige Tage in Grünfels zu verbringen. Hoffentlich kann Johann sie treffen!, denkt sie und es fällt ihr schwer, sich auf anderes zu konzentrieren. Sie gibt vor, ein Buch zu lesen, doch insgeheim hat sie die Tür zum Nebenraum bereits aufgeschlossen und lauscht auf jedes Geräusch.

Aber Johann taucht nicht auf – woher soll er auch wissen, dass sie genau heute hier sitzt und wartet? Katharina läuft auf und ab, wippt mit den Füßen, öffnet und schließt die Schleife an ihrem Pullover. Dann springt sie auf. Sie hält es nicht mehr aus! Dringend braucht sie die Bestätigung dafür, dass die gemeinsamen Erlebnisse in den Herbstferien keine Einbildung gewesen sind. Sie weiß, es ist dumm, aber schließlich steht sie auf und geht zu der Schublade mit den versteckten Kleidern.

Sowohl Johann als auch Edi werden ihr Vorwürfe machen! Doch sie will lediglich nachschauen, ob wieder eine Nachricht für sie im hohlen Baumstamm liegt. Danach kehrt sie sofort um.

Katharina schiebt die letzten Bedenken beiseite, hängt den neuen Mantel über die Schultern und zieht die Kapuze weit in die Stirn. Aus dem Spiegel leuchtet ihr eine dichte Schneedecke entgegen.

Entschlossen tritt Katharina einen Schritt vor und steht im Baum. Eiskalte Luft schlägt ihr entgegen. Sie atmet tief ein, der Frost beißt in die Schleimhäute. Ohne sich zu rühren, lauscht sie hinaus in die Stille des Waldes. Eine massive Schneeschicht begräbt alles Leben unter sich. Eine Nachricht kann sie nicht entdecken, so intensiv sie auch mit Blicken ihre Umgebung absucht. Die Schneedecke um sie herum liegt noch völlig unberührt da. Der Kontrast zwischen weißer Landschaft und grauem Bauminneren sticht beinahe schmerzhaft in den Augen.

Vorsichtig späht sie aus »ihrer« Linde heraus. Obwohl sie niemanden sehen kann, spürt sie sofort, dass sie nicht allein ist. Die Erkenntnis fühlt sich unangenehm an, wie ein Drücken auf der Haut. Wie erstarrt verharrt sie, um sich noch gründlicher umzusehen. Da! Gegenüber, in etwa dreißig Metern Abstand, lehnt eine Gestalt an einem Baumstamm. Ihr dunkler Mantel verschmilzt mit der Borke des kahlen Holzes. Angestrengt mustert Katharina den anderen. Ist es Johann oder ein Fremder? Mit Sicherheit sieht er sie und Johann hätte sich doch bestimmt gleich bemerkbar gemacht. Sie kann auch nicht einfach einen Schritt zurücktreten und spurlos im Baum verschwinden, ohne ihn auf ihre Fährte zu locken. Herzschläge lang bleibt sie stehen und wartet ab. Im Kopf legt sie sich bereits Worte zurecht. Sie heißt Melchior und lebt in der alten Köhlerhütte im Wald. Dabei weiß sie nicht einmal, ob das Häuschen noch existiert!

Da hört sie in der Ferne Hunde bellen. Was geht hier vor?

Der Mann am Baum gestikuliert in Katharinas Richtung, aber es fällt ihr schwer, die fahrigen Handbewegungen zu deuten. Ist es doch Johann? Sie kann es einfach nicht erkennen, seine Kapuze verdeckt die obere Hälfte seines Gesichts. Hängt da ein Bogen über seiner Schulter? Wieder das Kläffen, inzwischen schon näher heran, erneut unverständliche Gesten. Warum sagt er nichts? Sie geht einen Schritt vor, doch das verursacht nur noch energischere Gebärden. Im gleichen Moment knackt es im nahen Unterholz, gefolgt von einem wilden Schnauben, dröhnenden Tritten, dem Stampfen von Hufen und lautem Gebell. Katharina stolpert rückwärts und bleibt mit dem Knöchel an einer im Schnee versteckten Brombeerranke hängen. Sie fällt nach hinten, knickt um, geht zu Boden und prallt hart gegen den Stamm der Linde. Erschrocken nimmt sie wahr, wie ein großes, graues Tier direkt auf sie zurast, seine Läufe schleudern ihr Schnee ins Gesicht. Zeitgleich zerschneidet ein Zischen die Luft und der Keiler geht mit einem ohrenbetäubenden Kreischen in die Knie. Er grunzt, schnauft und windet sich. Aus seiner Seite ragt ein Pfeil. Katharina beobachtet den Todeskampf des Tieres mit weit aufgerissenen Augen. Ein zweites Geschoss bringt es für immer zum Verstummen. Hunde umringen das Wildschwein im nächsten Augenblick, Pferdehufe wirbeln Schnee auf und Jäger springen aus ihren Sätteln.

»Johann! Du hättest ihn mir überlassen können!«, ruft Ludowig von Grünfels. Trotz der tadelnden Worte schwingt in seinem Tonfall Anerkennung mit. Die dunkle Gestalt, die tatsächlich Johann ist, kommt zu ihnen hinüber. Er sieht Katharina nicht an. Sie sitzt schwer atmend an den Baumstamm gelehnt, ihr Knöchel schmerzt fürchterlich und innerlich flucht sie darüber, überhaupt aus der Stammhöhle getreten zu sein. Mit zusammengebissenen Zähnen beschließt sie, sich nicht zu rühren. Sie hofft einfach, dass die gesamte Jagdgesellschaft sie ignoriert.

Aber sie hat schlichtweg kein Glück an diesem Nachmittag! Nachdem sie das erlegte Tier genau untersucht haben, kommt einer der Jäger auf sie zu.

»Alles in Ordnung, Bursche?«, will er wissen und streckt ihr seine Hand hin, die in einem ledernen Handschuh steckt. Ihr bleibt nichts anderes übrig als zu nicken und zuzugreifen. Mit einem kräftigen Schwung zieht er sie auf die Beine. Doch sobald ihr verletzter Fuß den Boden berührt, schießt ein stechender Schmerz durch ihre Muskeln und lässt sie unter ihrem Gewicht wieder einknicken. Johann, der plötzlich neben ihr steht, stützt sie.

»Das sieht nicht gut aus«, stellt der Jäger mit gerunzelter Stirn fest.

»Halb so schlimm«, presst Katharina hervor und versucht dabei, ihre Stimme etwas tiefer klingen zu lassen.

»Ich hab doch gesehen, dass du nicht auftreten kannst. So kommst du niemals bis ins Dorf!«, stellt der Jäger fest.

Johann umfasst ihren Arm noch straffer, sodass es beinahe schmerzt. Genau wie sie weiß er, dass ihr am besten geholfen ist, wenn sie schnell wieder verschwinden kann. So lange die Jäger um sie herum stehen, besteht dazu keine Gelegenheit. Katharina bekommt vor Aufregung einen Schluckauf, der die Situation noch unangenehmer macht.

»Wo wohnst du?«, will ihr Helfer wissen, während er sie mit aufmerksamen Augen betrachtet. Mit einer Hand kratzt er seinen sorgfältig gestutzten Bart, in dem sich kleine Eiszapfen gebildet haben. Mit einem Mal mustert er sie so gründlich. Katharina befürchtet, er könne ihr an der Nasenspitze ansehen, dass sie nicht in diese Zeit gehört! Vielleicht entspricht der neue Mantel doch nicht der hiesigen Mode oder die Lederstiefel sehen für einen Bauernjungen zu teuer aus. Katharina blickt nach unten. Sie schwitzt, obwohl es eisig kalt ist.

»Ich glaube, er haust in der alten Köhlerhütte, ich hab ihn schon öfter hier getroffen«, spricht Johann für sie. »Ich werde ihn hinbringen und ein wenig versorgen.«

Ja, denkt Katharina, so könnte sie bald unbemerkt wieder zu Edi. Doch bereits im nächsten Moment zerstieben ihre Hoffnungen wie Pulverschnee.

»Er überlebt dort nicht alleine«, wendet der Jäger ein. Dabei blickt er sie weiterhin so forschend an, als wisse er genau Bescheid. »Der Junge kommt mit in die Burg. Der alte Pater Reginald kann die Wunde verbinden.«

»Das ist keinesfalls …«, beginnt Katharina zu protestieren.

»Schweig!«, fällt ihr da Ludowig von Grünfels mit donnernder Stimme ins Wort. »Die Gastfreundschaft meines Bruders lehnt man nicht ab! Du folgst uns in die Burg.«

Katharina schließt den Mund, wagt nichts mehr zu sagen. Gestützt auf Johanns Schulter humpelt sie durch den hohen Schnee, den jetzt Blutflecken verunzieren. Sie beißt die Zähne zusammen bis sie knirschen, aber kein Schmerzenslaut kommt über ihre Lippen. Schweiß glänzt auf ihrer Stirn. Ihr Herz hämmert heftig, als sie realisiert, dass sie in der Burg bleiben soll.

Edi wird beunruhigt sein! Wenn sie doch wenigstens einen Zettel hinterlassen hätte! Irgendetwas, zum Beispiel: »Ich übernachte heute bei Johann, morgen komme ich zurück.« Nur sicherheitshalber. Aber was geschieht, wenn sie es auch am nächsten Tag nicht nach Hause schafft? Tausend Sorgen schießen ihr durch den Kopf. Bestimmt kann Edi sich denken, wohin sie gegangen ist. Würde Gabriele davon erfahren?

Katharina atmet schwer, als sie den Weg erreichen, der hinauf zur Burg führt. Hier fällt das Laufen etwas leichter, viele Fußspuren drücken den Schnee ein. Tränen der Verzweiflung stehen ihr in den Augen beim Gedanken an Edi. Sie schnieft und versucht sie hastig wegzublinzeln. Schließlich würde Melchior wegen der Aussicht auf eine Nacht in einer warmen Stube keinen Grund zum Weinen sehen. Johann bemerkt es dennoch und lockert ein wenig seinen festen Griff. Er schiebt Katharinas Arm noch weiter über seine Schulter, sodass sie ihr ganzes Gewicht auf ihn stützen kann, wenn sie mit dem verletzten Fuß auftritt.

»Keine Angst, ich werde versuchen, ein bisschen auf dich Acht zu geben«, sagt er leise. »Überleg dir schon mal eine Lebensgeschichte, falls dich jemand fragt. Wie verdienst du dein Brot? Als Tagelöhner? Denk dran, jagen darfst du nicht, das wäre Wilderei!«

Katharina schluckt schwer, ihr Kopf fühlt sich wie leer gefegt an.

»Mir fällt nichts ein, ich kenne mich hier zu wenig aus. Ich will nach Hause!«, flüstert sie und erschreckt dabei selbst über ihren weinerlichen Tonfall.

»Jetzt gibt es aber keinen anderen Ausweg«, stellt Johann klar. Er klingt ärgerlich. »Du bist nicht unschuldig an deiner Situation, da musst du durch!«

»Edi wird sich Sorgen machen, möglicherweise meldet sie mich als vermisst!«, spricht Katharina aus, was ihr keine Ruhe lässt.

Einen Moment lang hört sie nur Johanns Schnaufen, denn es kostet ihn Kraft, sie den Berg hinaufzuschleppen. Die Jäger tragen das erlegte Wildschwein, während Ritter Ludowig mit seinem Bruder vorausreitet.

»Vielleicht schaffe ich es, noch einmal kurz in den Wald zu gehen, um deiner Großmutter Bescheid zu geben«, überlegt Johann. Er redet so leise, dass sie die Worte kaum hören kann. Sofort blickt Katharina ihn mit leuchtenden Augen an. »Das würdest du tun?«

»Wie viel weiß sie?«, fragt er stattdessen.

»Es ist ihr klar, dass du auf der anderen Seite des Spiegels lebst.«

Er nickt kurz, dann schweigen sie, denn in diesem Moment erreichen sie das Burgtor. Johann bringt sie zuerst zum Stall, vor dem die Männer ihre Pferde anbinden. Gemeinsam mit einem kräftigen, jungen Mann beginnt Johann sie trocken zu reiben, zu striegeln und zu füttern. Katharina sinkt ins Stroh und sieht zu. Offenbar gehört es auch zu Johanns Aufgaben, sich um die Tiere zu kümmern. Soeben entfernt er noch mit einem Werkzeug den Schmutz aus den mit Eisen beschlagenen Hufen. Der andere füllt frisches Wasser und Futter in die Tröge. Die beiden sprechen nur wenig, außer: »Das gibt einen schmackhaften Braten heute!« Und: »Schade, dass ich den Eber nicht geschossen habe!« Gleich darauf: »Ich hab mich unbeabsichtigt vorgedrängt! « Ein freundschaftliches Lachen. »Du standest genau an der richtigen Stelle, Johann!« Dann: »Reines Glück!«

Katharina ist es recht, dass die jungen Männer sie nicht weiter beachten. Die warme, übelriechende Stallluft hüllt sie ein. Von irgendwoher hört sie Schweine grunzen und Hühner gackern. Erstaunlich, wie viele Tiere hinter den Mauern dieser Burg leben! Neben ihr raschelt es, als unvermittelt eine Katze um ihre Beine streicht. Deren hellbraunes Fell zu streicheln tröstet Katharina ein wenig. Für einen Moment vergisst sie, dass sie auf unbestimmte Zeit in einer mittelalterlichen Welt fest sitzt, ihr Fuß höllisch schmerzt und Edi sich bestimmt schon sorgt.

»Fertig«, sagt Johann, der so unvermittelt neben ihr auftaucht, dass sie erschreckt.

»Ich bringe dich jetzt zu Pater Reginald. Er wohnt in einer kleinen Kammer direkt bei der Kapelle und versteht sich auf die Wundheilung. Danach sehen wir weiter.«

Katharina nickt nur, während er ihr auf die Beine hilft. Johanns Bekannter spaziert an ihnen vorbei hinüber ins Hauptgebäude der Burg, den Palas, wie sich Katharina erinnert. Die Häuser stehen alle dicht gedrängt beieinander und schließen mit der Rückwand an die Festungsmauer an.

»Ist das Friedrich?«, fragt Katharina leise. Sie deutet in die Richtung, in die der andere verschwunden ist.

Johann nickt. »Ja, Ludowigs Sohn.«

Gänzlich ohne Familie scheint Johann doch nicht aufzuwachsen. Unvermittelt überfällt Katharina drückendes Heimweh. Betrübt humpelt sie neben Johann her. Zum Glück ist wenigstens er bei ihr! Aber wenn er Edi informieren soll, wird er sie zumindest vorübergehend allein lassen müssen.

Die Burgkapelle schließt sich direkt an eine Seite des Wohngebäudes an, wie ein kleiner rechteckiger Fortsatz mit Glockenturm. Im Vergleich zu den Kirchen, die sie kennt, kommt Katharina diese hier winzig vor. Eine niedrige Bogentür bildet den Eingang. Johann drückt das schwere Holz auf und Katharina folgt ihm humpelnd ins Dunkle. Den quadratischen Kirchraum überspannt eine hohe Decke mit geschwungenen Gewölbebögen. In einer Nische befindet sich der Altar. Im schummerigen Licht einer Kerze erkennt Katharina die unglaublich detaillierten, farbigen Bilder, die nicht nur die Wände, sondern auch die Decke schmücken. Sie zuckt heftig, als sie von dort eine grimmige Teufelsfratze anstarrt. Da fällt es ihr plötzlich leicht, sich neben Johann vor dem Altar auf die Knie sinken zu lassen. Sie presst die Lippen fest aufeinander, während sie versucht, das gruselige Monster an der Wand nicht weiter zu beachten. Johann murmelt ein kurzes Gebet.

»Amen, fili mi«, tönt eine Stimme hinter ihnen. Katharina erschreckt fürchterlich. Erst jetzt bemerkt sie den Mann, der auf einer der hölzernen Kirchenbänke hockt. Selbst an den Seiten der Bänke entdeckt sie geschnitzte Gesichter und Drachenköpfe, von denen die wenigsten wohlwollend aussehen. Der Priester erhebt sich, um sie zu begrüßen. Sein Kopf und seine Hände schauen aus langen, dunklen Stoffbahnen hervor.

»Seid gegrüßt, Pater Reginald«, sagt Johann förmlich und Katharina spricht ihm nach. Weil das faltige Gesicht des Mannes freundlich blickt, fasst sie Mut. Er nimmt sie mit in eine Kammer, die direkt hinter dem Andachtsraum liegt. Es gibt einen schmalen Tisch, eine Bank und ein Bett. Johann stellt sie als Melchior vor und erläutert ihm das Problem.

Der Geistliche bedeutet Katharina, sich zu setzen und ihm die Verletzung zu zeigen. Johann bleibt stehen und beobachtet das Geschehen. Mit zitternden Fingern öffnet Katharina die Schnüre des Lederschuhs und zieht hastig die Wollsocken aus. Ihr Fuß schmerzt dabei. Der alte Mann fasst ihn mit beiden Händen, drückt hier und da und bewegt ihn in unterschiedliche Richtungen, genau wie es ihr Hausarzt auch gemacht hätte. Katharina unterdrückt einen Schmerzenslaut.

»Tut das weh?«, fragt Pater Reginald. Sie nickt heftig.

»Ich glaube trotzdem nicht, dass etwas gebrochen ist«, sagt er und geht zu einem Regal, das sie erst jetzt wahrnimmt. In einer in die Wand eingelassenen Nische reihen sich auf zwei Regalbrettern kleine Tontöpfe mit Deckeln aneinander. Der Pater schnuppert in einen davon hinein, entscheidet sich dann für einen anderen und kommt zurück zu der Bank, auf der sie sitzt.

»Das ist eine Salbe aus Beinwell und einigen weiteren Kräutern. Die hat mir schon oft gute Dienste erwiesen.«

Er trägt eine dicke Schicht auf die Haut ihres Knöchels auf. Katharina hält bei dem Geruch der Tinktur die Luft an.

»Dann kühlst du die Stelle mit etwas Schnee, damit die Schwellung nicht zunimmt, und legst das Bein hoch«, fährt der Mann fort.

Johann bedankt sich mit einer tiefen Verbeugung.

»Habt vielen Dank«, bringt Katharina hervor.

In ihrem Kopf wirbeln immer noch unzählige Gedankenfetzen. Sie muss hierbleiben! Johann kann nicht ständig auf sie aufpassen! Jeden Moment droht die Gefahr, dass jemand ihre Fremdheit in dieser Zeit entdeckt! Sie schluckt mehrmals, als helfe das, um die Sorgen einfach auszulöschen.

Johann nimmt ihren Schuh und streckt ihr seine Hand hin.

»Am besten bewegst du den Fuß überhaupt nicht. Ich bring dich in die Küche. Ich wette, du kannst dort bei Hans auf der warmen Ofenbank sitzen«, sagt Johann.

»Hans?«, murmelt Katharina, während sie seine Hand nimmt, um sich von ihm hochziehen zu lassen. Den Namen hat Johann schon einmal erwähnt, aber sie hat vergessen, in welchem Zusammenhang.

»Der Koch«, erklärt Johann bereitwillig. »Ist ein netter Kerl.«

»Und wer wohnt hier außerdem?«, will Katharina wissen, als sie die Kapelle verlassen. Sie muss wenigstens ein bisschen vorbereitet sein. Besonders viel hat ihr Johann noch nicht von dem Alltag auf Burg Grünfels erzählt. Jetzt hält er kurz inne. Der eisige Wind wirbelt ihm die Haare durcheinander und beißt Katharina in den nackten Fuß.

»Herr Ludowig natürlich«, beginnt Johann seine Aufzählung, »Friedrich und dessen Schwester Barbara-Sophie, ihre Cousine Maria Elisa, Pater Reginald, der Magister, Barbara-Sophies Zofe und Erzieherin, die Burgmannen und der Burgvogt, der Koch Hans mit seiner Frau Hilde und den Kindern, die alte Magd Sidonie, vier Knechte, der Schmied und ein Zimmermann mit Familie. Herrn Ludowigs jüngeren Bruder August von Wiesenbach hast du schon getroffen – er ist gerade zu Gast. Er besitzt zwar keine eigene Burg, ist aber als hervorragender Schwertkämpfer bekannt und pflegt ein gutes Verhältnis zum Burggrafen. Sein Hof liegt nur eine halbe Tagesreise von hier entfernt.«

Katharina bleibt kaum Zeit, die verschneiten Gebäude genauer anzusehen. Ihr Kopf schwirrt von all den Namen und Professionen, während Johann ihr ein paar Stufen hinunter hilft. Die Küche liegt im Erdgeschoss eines separaten Hauses, das sich neben dem Palas befindet. Durch einen Seiteneingang mit hölzerner Treppe kann man fertige Speisen und Getränke von hier aus direkt in den Festsaal tragen.

»Bringst du mir Verstärkung, Johann?«, poltert eine laute Stimme im Halbdunkel. Dichter Qualm sticht in Katharinas Augen, die sich erst einmal an die Düsternis gewöhnen müssen. Eine Frau hastet mit einem hölzernen Wassereimer an ihnen vorbei.

»Leider nein«, sagt Johann, »Mein Freund Melchior hat den Fuß verletzt, als die Jagdgesellschaft ihm im Wald begegnet ist. Pater Reginald verordnet ihm Ruhe und Herr Ludowig möchte, dass er sich hier in der Burg erholt.«

Jetzt steht der Koch direkt vor ihr und mustert Katharina mit aufmerksamem Blick. Sie versucht, nicht wegzusehen, richtet den ganzen Körper gerade auf und gibt sich Mühe, möglichst männlich zu wirken, obwohl sie nur eine vage Vorstellung davon hat, was das beinhalten könnte. Hans ist riesenhaft mit breiten Schultern und einem merkwürdigen Kurzhaarschnitt. Würde er nicht auch furchteinflößend aussehen, hätte sie einen Koch mit Topfschnitt witzig gefunden! Schweiß glitzert auf seiner Stirn, im ganzen Raum herrschen Saunatemperaturen und man kann kaum einen tiefen Atemzug wagen, ohne einen Hustenanfall zu riskieren.

»Na, wenn dem so ist«, seufzt Hans und betrachtet Katharina weiter mit einem so wachsamen Blick, dass sie sich unwohl fühlt, »dann heiße ich dich in meiner Küche willkommen! Setz dich da drüben auf die Ofenbank, mach es dir bequem, aber tu mir den Gefallen und rupf dabei die Fasane dort. Ich weiß, das ist eher Frauenarbeit, doch wir haben heute alle Hände voll zu tun. Das wäre mir eine große Hilfe!«

Katharinas Blick huscht zu den kopflosen Vögeln, die an einem Haken neben der steinernen Bank hängen. Sie nickt benommen. Noch nie hat sie einen Fasan in den Händen gehalten, geschweige denn seine Federn ausgerissen. Aber was bleibt ihr anderes übrig? Johann klopft ihr aufmunternd auf die Schulter, als sie sich schicksalsergeben auf die Bank sinken lässt. Unter ihrem Hintern spürt sie ein weiches, dunkles Schaffell. Dank der tropischen Temperaturen friert sie schon bald nicht mehr.

»Johann, ich hab gehört, du hast das Wildschwein geschossen?«, ruft der Koch im nächsten Augenblick und verpasst dem Angesprochenen einen kräftigen Schlag auf den Rücken. Johann verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. »Das war so nicht geplant, Herr August hätte sicher viel besser getroffen. Aber der Keiler lief direkt auf Melchior zu, da dachte ich, ehe er noch überrannt wird …«

»Ja, sowas kann tödlich enden! Ein guter Schuss wie ich gesehen habe. Wo ist eigentlich Rupert hin, wir müssen anfangen, den Braten zu rösten!«

Mit diesen Worten eilt Hans davon. Katharinas Magen krampft sich zusammen. Denn der Satz »So etwas kann tödlich enden« hallt immer und immer wieder in ihren Ohren nach, so als wäre er auf eine kaputte CD gesprochen. Erst jetzt realisiert sie, in welcher Gefahr sie sich befunden hat!

Johann streckt sich, um ihr einen der Fasane zu reichen, der sie sofort auf andere Gedanken bringt. Sie bedenkt das Tier mit einem mitleidigen Blick: ein ovaler Federbausch mit zwei dürren Füßen, dem der Kopf fehlt.

»Ich geb deiner Großmutter Bescheid, dann komme ich noch einmal her«, raunt Johann ihr ins Ohr. Katharina nickt, obwohl ihr die Vorstellung, hier zurückzubleiben, überhaupt nicht behagt.

»Wie spät ist es denn?«, will sie wissen.

»Vielleicht drei?«, schätzt Johann. »Es wird bald dunkel, ich beeil mich!«

Mit schnellen Schritten geht er davon und lässt Katharina in der Fremde, im Halbdunkel und mit vielen ungewohnten Gerüchen, die ihr in die Nase stechen, zurück. Qualm, Ruß, Schweiß, Blut, Federn. Auf einmal fühlt sie sich furchtbar verlassen. Tränen brennen ihr in den Augen, aber sie zwinkert sie entschlossen weg. Sie bemerkt erst jetzt die gebeugte Frau, die nicht weit von ihr an einem riesigen eisernen Kessel steht und rührt. Die Magd sieht interessiert zu ihr herüber.

»Guten Tag, ich heiße Melchior«, stellt Katharina sich vor. »Was soll ich denn mit den Federn machen?«

Da kommt Bewegung in die Frau.

»Ich bin Sidonie. Hier, nimm den Korb da, pass aber auf, dass sie nicht durch die ganze Küche fliegen!«

Katharina nickt sofort. Sidonie eilt zurück zum Feuer und legt ein paar Holzscheite nach. Schweißtropfen bedecken ihre Stirn. Einen Moment lang betrachtet Katharina noch die knorrige alte Frau, deren Namen Johann bereits einmal erwähnt hat. War sie nicht so etwas wie sein Kindermädchen gewesen? Als Sidonie ihren Blick bemerkt, schaut Katharina hastig weg und versucht, sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren.

Vorsichtig zieht sie an einer der durchaus hübschen, langen goldgelben Schwanzfedern des Vogels, aber die hängt fest. Sie packt den Federkiel weiter unten, direkt an der Haut an und zerrt mit noch mehr Kraft und die Feder löst sich tatsächlich. Nach einer Weile stellt sie fest, dass sich die kleineren Federn, wenn sie in Wuchsrichtung zieht, viel einfacher entfernen lassen. Der Geruch von totem Vogel hängt ihr furchtbar unangenehm in der Nase und sie versucht die Luft anzuhalten, so gut es geht. Trotzdem kann sie nur mit Mühe die aufkommende Übelkeit unterdrücken. Wenn sie die weiche Haut des leblosen Tiers berührt, fällt es ihr schwer, sich einen leckeren Braten vorzustellen.

Katharina zuckt zusammen, als die Tür aufschwingt. Ein angenehm kühler Luftzug weht in die verrauchte Küche. Zwei Männer bringen neues Feuerholz und einer wirft zwei tote Feldhasen auf den großen Holztisch in der Mitte des Raumes. Er zückt ein Messer und beginnt dem ersten Tier das Fell abzuziehen.

Katharina hält einen Moment mit dem Rupfen inne. Sie beobachtet gebannt, wie der Mann mit geübten Schnitten die Haut des Hasen vom Fleisch trennt, Stück für Stück, bis ein ganzes Fell übrig bleibt. Langsam gewöhnt sich ihre Nase an den Geruch von brennendem Holz und rohem Fleisch. Sie beeilt sich, ihre Arbeit fortzusetzen, bevor jemand auf sie aufmerksam wird. Der erste Fasan liegt bereits völlig nackt neben ihr. Aus dem Augenwinkel verfolgt sie, wie der Mann den Hasenkörper der Länge nach aufschneidet und die Innereien sortiert. Glücklicherweise kann sie von ihrem Platz aus nicht alle Details erkennen. Ein Hund, den sie vorher überhaupt nicht bemerkt hat, winselt neben dem Tisch und lässt das Fleisch nicht aus den Augen.

»Hast gut gejagt, Hektor«, lobt ihn der Mann und wirft ihm ein paar Gedärme hin. Das schmatzende Geräusch, mit dem Hektor kaut, klingt überlaut in Katharinas Ohren und trotz der Wärme bekommt sie eine Gänsehaut.

Mühsam streckt sie sich nach dem zweiten Vogel. In der geschäftigen Küche kochen die Augenblicke und Minuten zu einem zähen Brei zusammen. Katharina verliert jegliches Zeitgefühl. Der Koch lobt sie für das Rupfen und reicht ihr sogleich ein Brett, ein Messer und einen Bund rote Zwiebeln zum Schneiden.

»In Ringe bitte«, ruft er ihr noch über die Schulter zu, während er bereits die nächsten Aufgaben delegiert.

Zwiebelschneiden fällt Katharina immerhin nicht schwer, auch wenn ihre Augen sofort noch mehr zu tränen beginnen. Die Zwiebelringe wandern in den riesigen Topf, der zusammen mit weiteren Kesseln über dem Feuer baumelt. Weil sich ihre Augen inzwischen an die widrigen Bedingungen gewöhnt haben, kann Katharina die Gewürze sehen, die überall im Raum zum Trocknen hängen. Oben im Dachgebälk räuchern Würste und Speck und sie wundert sich, wie man sie von dort wieder herunterbekommt. Kinder schleppen Wassereimer herein und erbetteln sich zum Lohn ein Stück Karotte oder Brot.

Jedes Mal, wenn die Tür aufschlägt, fliegt Katharinas Blick suchend dorthin. Wo bleibt Johann? Was mag Edi gesagt haben? Sie will sich gar nicht vorstellen, wie gekränkt Edi darüber sein wird, dass sie sich nicht an ihre Abmachung gehalten hat.

Da stürmt ein Junge herein.

»Ich soll Melchior holen, ganz geschwind!«, ruft er. Katharina fährt auf, als sie ihren Decknamen hört.

»Was gibt es denn?«, mischt sich der Koch ein.

»Johann hat Melchiors Großmutter hergebracht und sie will vor Herrn Ludowig sprechen!«, poltert das Kind und kann seine Aufregung dabei nur mühsam im Zaum halten. »Sie trägt ein golddurchwirktes, helles Gewand und sieht aus wie eine Königin! Bist du sicher, dass das deine Großmutter ist?«

Die letzte Frage richtet der Junge direkt an Katharina und mustert sie misstrauisch von oben bis unten. Katharina weiß nicht, was sie denken soll. Zu verblüfft ist sie, um zu antworten. Edi in goldenem Kleid auf Burg Grünfels – das übersteigt ihre Vorstellungskraft! Trotzdem rafft sie schnell ihren Mantel an sich, zieht die Stiefel an und erhebt sich mit wackeligen Beinen.

»Ich stütz dich und bring dich in den Festsaal«, entscheidet Hans. »So viel Zeit muss sein!«

Bestimmt will er sich ein solches Spektakel nicht entgehen lassen, mutmaßt Katharina. Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in ihrem Magen aus. Was geht hier vor? Sicher ein Missverständnis!

Der Koch hebt sie beinahe mühelos eine Treppe hinauf, nur selten berührt ihr verletzter Fuß überhaupt den steinernen Boden. Sie bemerkt kaum wie ihr geschieht, noch bleibt ihr Zeit, sich umzusehen. Ihre Sinne beherrscht nur die plötzliche Nähe zu diesem breiten, muskulösen Mann. Sein Geruch nach Schweiß, Gewürz, Rauch und Wolle benebelt ihre Gedanken. Überraschend gibt eine Tür den Blick frei auf einen großen fensterlosen Raum mit dunkler Holztäfelung, riesigen Wandbehängen und farbigen Bemalungen. Sie spürt kaum, dass sie wieder auf festem Boden steht, weil Hans sie behutsam absetzt. Die Burgbewohner drängen sich dicht beieinander, sodass Katharina zunächst nur lange Gewänder sieht. Aber der Koch teilt die erregt murmelnde Menge ohne Schwierigkeiten und zieht Katharina mit sich.

Da erst registriert sie die grauhaarige Dame, die aufrecht und mit selbstbewusstem Blick vor Herrn Ludowig in der Mitte des Raumes steht. Der Burgherr sitzt in einer Art hölzernem Lehnstuhl, wirkt aber nicht so selbstsicher wie er Katharina sonst erschienen ist. Schräg hinter der grauen Dame entdeckt sie Johann, dessen Gesicht ebenfalls Unsicherheit verrät.

Tatsächlich, Edi trägt ein helles Gewand, das bis auf den Boden reicht! Es funkelt im Licht der Fackeln, die den Raum notdürftig erhellen. Katharina bekommt kaum Luft, ihr ganzer Körper summt. Sie bemerkt sofort, wie Edis Anwesenheit die Menschen einschüchtert. Stellt man sich so nicht eine mächtige Zauberin vor? Spannung und Gefahr knistern im Raum. Dann spricht Edi mit lauter Stimme und zu Katharinas Überraschung im Dialekt der Burgbewohner.

»Herr Ludowig, ich danke Euch von Herzen für die Gastfreundschaft, die Ihr meinem Enkel Melchior an diesem kalten Wintertag so fürsorglich entgegengebracht habt. Zum Ausdruck meiner Dankbarkeit möchte ich Euch diesen Ring überreichen.«

Sie hält auf einmal ein hölzernes Kästchen in der Hand, das sie aufklappt, sodass man darin das Geschenk erahnen kann. Ohne hastige Bewegungen tritt sie näher an Ludowigs Hochsitz heran, verbeugt sich und legt ihm die Schatulle in die ausgestreckte Hand.

»Ich weiß Eure Gastlichkeit außerordentlich zu schätzen, aber ich möchte meinen Enkel gern noch heute mit nach Hause nehmen und Euch nicht weiter zur Last fallen.«

Herr Ludowig nickt und räuspert sich, als habe Edis Auftritt ihm die Sprache verschlagen. Katharina glaubt zu erkennen, wie erleichtert er aussieht, als er hört, dass die ungewöhnliche Dame nicht seinem Fest beizuwohnen gedenkt.

»Ich danke Euch für Eure Gabe. Selbstverständlich haben wir uns um Euren Enkelsohn gekümmert. Pater Reginald hat seinen Fuß versorgt. Wo steckt der Junge?« Suchend lässt Herr Ludowig seinen Blick über die versammelten Menschen wandern. Der Koch reagiert augenblicklich, indem er Katharina an der Hüfte packt und förmlich in die Raummitte hebt. Noch nie hat sie sich so angestarrt gefühlt! Sie strafft den Rücken und verneigt sich geistesgegenwärtig vor Herrn Ludowig.

»Habt Dank für die Gastfreundschaft«, bringt sie mühsam hervor. Ihre Stimme klingt mehr wie ein Krächzen.

Als sie wieder aufschaut, bemerkt sie eine Gestalt, die hinter Ludowig steht. Der grauhaarige Mann mit dem sorgsam gestutzten, beinahe rechteckigen Bart mustert sie mit einem so bohrenden Blick, dass sie sich nicht von seinem Anblick lösen kann. Seine Kleidung scheint aus teuren Stoffen zu bestehen, meterlange Tuchbahnen schlagen Falten um ihn herum. Die Gürtelschnalle blinkt golden. Seine ineinander verschränkten Hände schauen aus den langen Ärmeln hervor und an jedem seiner Finger glänzt ein kostbarer Ring. Katharina fühlt den stechenden Blick aus seinen eisblau wirkenden Augen fast schmerzhaft auf sich ruhen.

Erleichtert atmet sie auf, als sich Edi neben sie stellt und schützend einen Arm um ihre Schulter legt. Endlich gelingt es ihr, den Blick von dem Fremden loszureißen.

Unfassbar, wie still die versammelten Burgbewohner sein können!, denkt Katharina und wagt es selbst kaum, zu atmen. Herr Ludowig erhebt sich unschlüssig.

»Nichts zu danken«, sagt er zögerlich. »Ihr seid Euch sicher, dass Ihr nicht unsere Gäste sein wollt?«

Edi nickt fest und der Burgherr wirkt beinahe erfreut. Sein suchender Blick bleibt diesmal an Johann hängen.

»Mein Knappe wird Euch noch ein Stück begleiten«, ordnet er an. Ein Raunen geht durch die Menge, nicht wenige beginnen zu tuscheln. Wahrscheinlich will niemand jetzt in Johanns Haut stecken und die unheimliche Dame hinausgeleiten.

»Die Mittagsfrau«, murmelt jemand in Katharinas Nähe, obwohl die Mittagszeit schon eine ganze Weile vorbei ist. Als Edi sich zum Gehen wendet, treten die Menschen unwillkürlich zurück, so als flöße sie ihnen große Angst ein. Niemand möchte auch nur vom Saum ihres edlen Kleides berührt werden, so als könne bereits das Unglück bringen. Unzählige Augen starren nicht nur Edi, sondern ebenso Katharina an. Die Magd Sidonie, mit der sie eben noch Seite an Seite in der Küche gearbeitet hat, schlägt ein Kreuz vor der Brust als ihre Blicke sich treffen.

Die Stimmen, einander ins Wort fallend, dröhnen laut in Katharinas Ohren. »Die Mittagsfrau stiehlt kleine Kinder, ob der unglückliche Junge …«, »Die alte Sorbin letzten Sommer, weißt du noch wie die Mittagsfrau …« und »Ich glaube, sie trug ein ebensolches kostbares Gewand …«. Die Worte toben in Katharinas Gedanken, die Menschenmenge wogt auf einmal um sie herum wie ein aufgewühlter See im Sturm, aber niemand fasst sie auch nur mit dem kleinen Finger an.

Bis Johann neben ihr steht und seinen Arm unter ihre Achsel schiebt, um sie beim Laufen zu stützen. Eine Frau schreit auf, als er das tut, als rechne sie damit, er würde auf der Stelle tot umfallen. Beinahe fühlt sich Katharina wirklich wie ein Unglücksbringer. Stimmt es nicht auch? Mit ihrer puren Anwesenheit bringt sie hier alles durcheinander! Ihr Herz zieht sich schmerzlich zusammen, als sie die schreckerfüllten Gesichter sieht.

Erst als die schwere Eichentür hinter ihnen zuschlägt und sie eine breite, repräsentative Treppe hinuntergehen, atmet Katharina ein wenig auf. Draußen peitscht ihnen eisige Winterluft entgegen, der Schnee treibt beinahe waagerecht im Sturm und es dämmert bereits.

Erst jetzt bemerkt Katharina das heftige Zittern, das ihren ganzen Körper durchschüttelt. Sie zerrt die Kapuze tief ins Gesicht, während Johann versucht, seinen Mantel um sie beide zu schlagen. Es ist rätselhaft, wie Edi es anstellt, gerade und würdevoll voranzugehen.

»Geh nicht mit ihr – wer das tut, kommt nie mehr zurück!«, ruft der Torwächter eindringlich, als er Johann erkennt.

»Ich stütze ihn nur noch ein Stück des Wegs«, antwortet Johann. Er muss brüllen, um das Tosen des Windes zu übertönen. Der Schnee treibt so dicht, dass man kaum die eigenen Füße, geschweige denn den Weg noch sehen kann. Als Katharina sich umdreht, lassen sich die Umrisse der Burg fast nicht mehr ausmachen. Wie sollen sie da den alten Baum finden? Selbst Edi bleibt jetzt unschlüssig und schwer atmend stehen. Sie hält eine Hand schützend vors Gesicht. Auf der Kapuze ihres Umhangs, die der Wind immerzu wieder zurückschlägt, glänzen Schneekristalle.

»Johann, kehr um, das Wetter ist zu gefährlich!«, schreit sie gegen den Schneesturm an. Johanns Augen fixieren Edi, dann Katharina und schließlich richtet er sich ganz gerade auf. »Ich bringe euch bis zum Baum, Katharina kann kaum allein laufen …«

Da erwacht Katharina aus ihrer Erstarrung. »Edi, Johann muss heute bei uns bleiben! Ich lass ihn nicht in diesem Sturm zurückgehen!«

Eine Welle von Angst und Adrenalin schwappt durch ihren Körper. Jedes Mal, wenn sie den Mund öffnet, schmeckt sie Eiskristalle auf der Zunge. Den schmerzenden Fuß spürt sie kaum noch, aber auftreten kann sie auch nicht.

Edi sieht Johann streng an. »Kommst du mit zum Baum, musst du die Nacht bei uns verbringen und dich morgen den abergläubischen Fragen der Leute stellen. Oder du kehrst jetzt um – wir finden den Weg schon.«

Johann presst die Lippen aufeinander. Er scheint einzusehen, dass nur diese beiden Möglichkeiten zur Auswahl stehen, wenn er nicht im Wald erfrieren will. Seine Hand, die Katharinas Taille umklammert, zittert heftig. Er sucht ihren Blick. Sie fixiert seine hellbraunen, weit aufgerissenen Augen, als könne sie ihn so für immer festhalten. Vielleicht nimmt ihm das die Entscheidung ab.

»Ich komme mit euch«, sagt er mit Bestimmtheit. »Ich würde mir nie verzeihen, wenn man euch morgen erfroren im Wald entdeckt. Los, ich finde den Weg …«

Edi nickt nur. Höchstwahrscheinlich verfügt auch sie nicht über so viel Kraft sowohl sich als Katharina durch das Unwetter nach Hause zu bringen. Katharina hängt mehr in Johanns Armen, als selber zu gehen und schließlich nimmt er sie kurzerhand Huckepack auf den Rücken. Katharina versteht nicht, wie es Edi gelingt, sich durch den Schneesturm zu arbeiten. Ihre Kehle schnürt sich zusammen, wenn sie daran denkt, dass sie diese Nacht alle zu Eisklötzen gefrieren könnten. Sie zuckt heftig, als dicht neben ihnen mit einem ohrenbetäubenden Knacken ein morscher Ast zu Boden fällt. Selbst Johann erstarrt für einen Moment und atmet keuchend, bevor er sich weiter vorwärts kämpft.

Wie auch immer er es macht, Johann findet den Weg, als könne er ihn blind gehen. Denn plötzlich stehen sie vor dem alten Baum, dessen Äste sich im Sturm gefährlich biegen. Auf der Wetterseite verdeckt der Schnee den Stamm bereits meterhoch. Das unheimliche Pfeifen des Windes und das Ächzen des Holzes dröhnt in Katharinas Ohren.

»Kommt!«, ruft Edi und dirigiert sie in den hohlen Baum.

Johann kippt beinahe nach vorn, berührt mit dem Kopf die Borke und stolpert in Edis Zimmer. Katharina umklammert immer noch seinen Hals, als er sich erschöpft auf den Boden sinken lässt. Im nächsten Moment drängt sich Edi an ihnen vorbei – ein ganzes Häufchen Schnee weht mit ihr herein und schmilzt zu einer kleinen Pfütze, die im Teppich versickert. Sie stützt sich schwer atmend am Schrank ab. Dann sinkt sie auf den Stuhl, der am Fenster steht.

Durch das abrupte Verstummen des Sturms erscheint die plötzliche Stille um sie herum unwirklich. Überlaut hört Katharina ihre eigenen, Johanns und Edis Atemzüge. Minutenlang hocken sie so da, bis Edi sich schließlich wieder aufrichtet und sagt: »Jetzt ziehen wir die nassen Sachen aus, ich lasse Badewasser ein und koche uns dann eine warme Suppe.«

Katharina wundert sich, woher Edi diese Kraft nimmt! Hoch erhobenen Hauptes verlässt sie das Zimmer, den klitschnassen Saum des langen Kleides hinter sich herziehend. Voller Bewunderung sieht Katharina ihr nach.

Doch nur Sekunden später drängen völlig andere Gedanken in ihr Bewusstsein. Je mehr sich ihr Herzschlag beruhigt, desto stärker zittert sie.

»Was hab ich heute nur wieder angerichtet?«, stöhnt sie und schlägt ihre Hände vors Gesicht. Johann nickt nur matt.

»Morgen werden sie mich wie einen Aussätzigen behandeln oder anstarren wie einen Geist, der von den Toten zurückgekehrt ist«, bemerkt er bitter und schluckt schwer. Einen Moment sagen sie nichts. Dann räuspert sich Johann. »Wo hast du diese Kleider, die mir passen?«

Katharina löst sich aus ihrer Erstarrung und kommt mühsam auf die Beine. Johann hilft ihr dabei, in ihr Zimmer zu humpeln. Mit steifen Fingern kramt sie in ihrem Schrank nach Hose, T-Shirt und Pullover, die sie neulich extra für Johann gekauft hat. Schweigend ziehen sie sich um. Langsam erwachen Katharinas Hände und Zehen mit einem schmerzhaften Stechen aus der Gefühllosigkeit. Sie wagt Johann nicht anzusehen, so heftig drückt sie das schlechte Gewissen.

Nachdem Edi kurz ins Zimmer gekommen und alle nassen Kleidungsstücke mit zur Waschmaschine genommen hat, breitet sich erneut eine unangenehme Stille zwischen ihnen aus. Johann steht verloren in der Mitte des Nebenzimmers und starrt auf das Schneetreiben, das im dunklen Spiegel immer noch schemenhaft erkennbar ist. Doch die hereinbrechende Dunkelheit verschlingt den Wald zusehends – bald kann man ihn nicht einmal mehr erahnen.

»Es tut mir furchtbar leid«, stammelt Katharina, denn natürlich war seine Situation komplett ihre Schuld. Sie hat ihr Versprechen, nicht wieder allein durch den Spiegel zu gehen, erneut gebrochen und diesmal sowohl Johann als auch Edi damit in Schwierigkeiten gebracht.

Johann sagt immer noch nichts, was sie beinahe härter trifft, als wenn er geschimpft und sie geschüttelt hätte. Sie wagt es nicht einmal, ihn anzusehen. Als er schließlich wortlos die Zimmertür öffnet, um ins Erdgeschoss zu gehen, folgt sie ihm humpelnd. Der verdammte Fuß tut immer noch fürchterlich weh – hoffentlich ist er nicht doch gebrochen! Mit einem Seufzer stützt Johann sie wieder, was ihr in der angespannten Stimmung beinahe unangenehm ist.

Edi hält mit ernster Miene bereits die Badezimmertür offen – sie sieht erschöpft aus. Heißes Wasser strömt in die Wanne. Als Katharina wenig später allein im dampfenden Schaum liegt, fühlt sie sich ebenfalls unglaublich müde. Zuerst rinnen Tränen über ihre Wangen, dann überfluten sie Schuldgefühle. Wie um sich davon zu befreien, schrubbt sie ihre Haut mit einem rauen Schwamm bis sie rot glüht. Nachdem sie auch noch gründlich Haare gewaschen hat, steigt sie aus der Wanne und lässt neues heißes Wasser für Johann ein.

Beinahe wortlos dirigiert sie ihn ins Badezimmer und schließt hinter ihm die Tür. Sie kommt nur wenige mühsame Schritte weit, als sie Johann nach ihr rufen hört, sodass sie wieder zurück geht.

»Es ist mir unangenehm, das fragen zu müssen, aber wie stoppe ich das Wasser? Und was ist das und das und das?« In seiner Stimme schwingt Verzweiflung mit, während er auf das Shampoo, den Duschkopf und den Fön zeigt. Im Kampf gegen erneute Gewissensbisse, dreht Katharina schnell den Wasserhahn zu und erklärt ihm alle Details des Badezimmers. Sie gibt sich Mühe, dabei nicht wieder belehrend und überheblich zu klingen.

Noch bevor sie den überhitzten Raum verlassen kann, zieht Johann seinen Pullover über den Kopf. Katharina wendet hastig den Blick ab, als sie merkt, dass er gleich auch den Rest seiner Kleidung ausziehen wird. Erst als er in der Wanne sitzt, wagt sie es wieder, zu ihm hinzusehen. Ihr Herz scheint zu hüpfen, als er sie jetzt frech anlacht, als habe er das mit voller Absicht gemacht.

»Die Sitte, dass die Hausherrin ihrem Gast beim Waschen behilflich ist, hat sich offenbar nicht bis in diese Zeit erhalten …«, sagt er in seiner eigenen Sprache.

Katharina verzieht die Lippen zu einer gespielt nachdenklichen Miene und entgegnet: »Wenn Ihr darauf besteht, Herr Johann, dann frage ich meine Großmutter natürlich, ob sie das tun würde …«

Erleichterung schwappt wie eine Welle durch ihren Körper, als Johann laut lacht.

»Schon gut, ich komme allein zurecht«, sagt er und taucht kurz unter. »An so eine Badewanne, die jederzeit schnell befüllt ist, könnte ich mich gewöhnen.«

Katharina beobachtet, wie er vorsichtig die Shampooflasche öffnet. Dabei inspiziert er sorgsam den Mechanismus und das Material der Plastikflasche, schnuppert an der flüssigen Seife und verteilt sie dann im Haar bis sich weißer Schaum bildet. Wie gebannt starrt Katharina auf seine Nackenmuskeln, die bei jeder Bewegung ein wenig anders aussehen. Mühsam löst sie ihren Blick, nimmt sich den Fön und verlässt humpelnd das Badezimmer.

***

Schweigend löffeln sie später die Nudelsuppe, die Edi innerhalb kurzer Zeit gezaubert hat. Mit den Nudeln füllt eine wohlige Wärme Katharinas Magen. Zögerlich sieht sie zu Johann hinüber, der ihr gegenüber am Esstisch des aufgewärmten Wohnzimmers sitzt und ein drittes Mal Suppe auf seinen Teller lädt.

»Findest du es sehr schade, dass dir das selbst geschossene Wildschwein entgeht?«, fragt sie und beißt sich schuldbewusst auf die Unterlippe. Ihre Blicke treffen sich für einen Moment, aber sie weiß nicht, wie sie den seinen deuten soll.

»Glaub mir, das ist mein geringstes Problem …« Einen Augenblick zögert er, bevor er weiterspricht. »Viel wichtiger ist, dass mir eine glaubhafte Erklärung einfällt, warum mir die Mittagsfrau, vor der sich alle fürchten, nicht den Tod gebracht hat. Und was soll ich ihnen sagen, wo ich die Nacht verbracht habe in diesem schrecklichen Schneesturm?«

Edi nickt verständnisvoll, weiß aber auch keine Antwort.

»Warum nennen sie dich die Mittagsfrau?«, fragt Katharina.

Edi wiegt langsam den Kopf. Ihr dunkelgraues Haar trägt sie inzwischen zu einem Zopf gebunden, aus dem sich ein paar Locken gelöst haben.

»Die slawischen Bauern, die immer noch in den kaiserlich-deutschen Siedlungsgebieten leben, glauben an einen Geist, eine Frau, die immerzu um die Mittagszeit auftaucht. Wer genau dann auf dem Feld arbeitet, den tötet sie.«

»Aber manche sagen auch, sie erscheint als magere Alte in weißem Gewand, die Kinder stiehlt oder vertauscht«, ergänzt Johann. Nachdenklich blickt er Edi an.

»Die alte Sidonie hat mir nicht nur davon erzählt, wie mich als Kind ein schweres Fieber fast umgebracht hat. Sie meinte auch, ich sei der einzige ihr bekannte Mensch, den die Mittagsfrau jemals wieder zu den Lebenden zurückgebracht hat. Die Mittagsfrau persönlich soll mich in der Burg abgegeben haben!«

Edi stapelt mit einem resignierten Seufzen alle Teller aufeinander, als wolle sie Johanns fragendem Blick ausweichen. Schließlich lehnt sie sich im Stuhl zurück. Jetzt kommt sie Katharina um Jahre älter vor als bei ihrem beeindruckenden Auftritt am späten Nachmittag. Sie sieht nur noch müde aus.

»Du hast recht«, sagt sie zu Johann. »Ich hab dich damals zurück in die Burg gebracht. Ich trug das gleiche Kleid wie heute – vermutlich kommt daher die Assoziation zur Mittagsfrau, wobei ich schwöre: Ich hab keinen Pferdefuß!«

Sie lächelt matt, doch es erreicht nicht ihre Augen.

»Was ist damals genau geschehen?«, hakt Johann nach. »Bitte sagt die Wahrheit!«

»Sag Du zu mir, Johann«, fordert Edi ihn auf, »Nenn mich Edith.«

»Bitte sag uns, was geschehen ist, Edith«, wiederholt Johann, haargenau ihrer Aufforderung nachkommend. Seine Hand, die auf der dunklen Stofftischdecke trommelt, verrät seine Nervosität.

»Ich kann selbst nicht genau sagen, wie es dazu gekommen ist. Katharina verbrachte ihre Ferien hier bei mir. Du hast sie öfter besucht, Johann … Nachdem dich keiner der Nachbarn kannte und du immer so plötzlich auftauchtest oder verschwandst, dachte ich mir schon, woher du kommst. Ich meine, du hast unsere Sprache beeindruckend schnell gelernt und dich unbefangen für alles dir Unbekannte interessiert. Du bewegst dich auch jetzt noch erstaunlich unauffällig in unserer Zeit!«

Edi legt eine kurze Pause ein und nimmt einen großen Schluck Tee. Katharina presst gespannt die Lippen aufeinander.

»Und was ist dann passiert?«, drängt sie.

»Johann und du, ihr habt an diesem Tag wie gewöhnlich gespielt – keine Ahnung, wo genau. Erst als ihr nicht zum Vesper gekommen seid, hab ich mir Gedanken gemacht. Ich konnte euch nirgends finden. Zuerst schaute ich draußen nach, denn ein Unwetter zog auf. Der heftige Regen zwang mich dann, die Suche drinnen fortzusetzen. Als ihr auch da nicht wart, bin ich durch den Spiegel gegangen, um im Wald nachzusehen. Du bliebst verschollen und ich musste mit leeren Händen zurückkehren. Ich hab wieder und wieder das Haus durchkämmt. Du glaubst nicht, wie verzweifelt ich war! Am nächsten Morgen machte ich mich noch einmal auf die Suche.« Edi hält inne und zögert, bevor sie weiterspricht, so als müsse sie überlegen, wie sie sich am besten ausdrücken soll. Katharina hängt gebannt an ihren Lippen. Warum hat sie das nicht schon früher erzählt! »Jemand hat euch gefunden … ein Nachbar … in einem Keller. Ihr wart völlig unterkühlt – ihr hattet dort ohne Jacken die Nacht zugebracht! Johanns Stirn blutete auch. Bei dir, Katharina, konnte ich keine Wunden entdecken, aber wer weiß, ein Schlag auf den Hinterkopf ist nicht immer gleich zu sehen. Ihr hattet Schüttelfrost, bereits Fieber. Ich hab euch gepflegt und als es dir etwas besser ging, Johann, hab ich dich in die Burg getragen, weil du da natürlich schon gesucht wurdest. Als ich dort ankam, muss es genau Mittag gewesen sein. Alle starrten mich an und hielten mich für eine Zauberin.«

Edi sammelt sich einen Moment, knotet dabei die Finger ineinander und blickt dann Johann an. »Ich hab das Fieber an diesem Tag unterschätzt! Ich dachte, das Schlimmste sei überstanden, ihr hattet Suppe gegessen und Tee getrunken. Als die Hitze bei Katharina am Nachmittag mit voller Wucht zurückkehrte, quälte mich mein Gewissen, dich nicht länger hier behalten zu haben. In einer Welt ohne moderne Medizin hättest du tatsächlich daran sterben können! Ehrlich gesagt, ich war mir unsicher, ob du überlebt hast, ich hab mir Vorwürfe gemacht …«

Edi sieht erkennbar bedrückt aus, doch Johann fegt ihre Schuldgefühle mit einer einfachen Handbewegung beiseite. »Das lässt sich nicht mehr ändern, ich lebe ja noch«, sagt er nur. »Aber warum ist mir das alles entfallen? Wer hat uns die Verletzungen zugefügt? Wie sind wir in den Keller gekommen? Warum konnte ich den Baum und meine Treffen mit Katharina so viele Jahre vergessen?«

Katharina nickt heftig. Es klingt einfach unvorstellbar! Edi schüttelt bedauernd den Kopf.

»Ich weiß es auch nicht«, sagt sie nur entschuldigend. Sie schaut weg und presst die Lippen fest aufeinander. »Ich vermutete, dass Katharina durch einen Schlag, den Schock oder die lange Krankheit eine Art Gedächtnisverlust erlitten hat. Aber weil ich deine Zeit für so gefährlich halte, mochte ich sie auch um keinen Preis der Welt daran erinnern.«

Einen langen Moment schweigen sie. Dann räuspert sich Edi. Sie sieht Johann und Katharina eindringlich an. »Es ist riskant, durch dieses Tor zu gehen!«, wiederholt sie die Warnung. »Wir gehören nicht auf eure, ihr nicht auf unsere Seite. Womöglich missbrauchen Menschen den Durchgang für persönliche Ziele. Im schlimmsten Fall verändern sie dabei den Lauf der Geschichte oder das Geschehen in unserer Zeit. Niemand kann die Konsequenzen davon vorausahnen. Wird es uns dann überhaupt geben?«

Katharinas Kopf brummt von den Überlegungen, die auf Edis Fragen folgen. Doch wegen der großen Erschöpfung, die unerbittlich an ihren Augenlidern zieht, kann sie keinen der Gedanken zu Ende führen. Johann und Edi scheint es nicht anders zu gehen, denn lange Zeit sagt niemand mehr etwas. Die Wanduhr zeigt gerade einmal acht, als Edi aufsteht und anordnet: »Ihr beiden putzt jetzt Zähne, während ich Johann Bettdecke und Kissen in die Kammer neben deinem Zimmer lege. Morgen sehen wir weiter.«

Obwohl Katharina schon lange nicht mehr wie ein kleines Kind zum Zähneputzen und ins Bett geschickt worden ist, fügt sie sich wortlos. Johann stützt sie auf dem Weg ins Bad und in Edis Kommode finden sie auch eine neue Zahnbürste für ihn.

»Wenn du deine Zähne liebst, solltest du sie zweimal am Tag putzen«, belehrt sie Johann mit einem verschmitzten Grinsen und verteilt Zahnpasta auf den Borsten.

»Ich glaube, das hast du mir früher schon einmal gesagt«, brummt er. »Nur so kann ich mir erklären, warum ich meine Zähne regelmäßig gründlich mit Birkenhölzchen reinige. Friedrich findet, ich bin extrem eitel und will mit meinem guten Aussehen vor allem seine jüngere Schwester beeindrucken.«

Katharinas Mundwinkel zuckt nach oben, was aber kaum einem Lächeln gleicht, weil ihr Schaum im Mund steht.

»An Selbstbewusstsein fehlt es dir bei dem guten Aussehen jedenfalls nicht«, nuschelt sie an der Zahnbürste vorbei.

»Gleichfalls«, erwidert Johann nur und beginnt, Katharinas Putzbewegungen nachzuahmen. Hat er das jetzt wirklich gesagt? Unsicher schaut sie in den Spiegel, aus dem sie ein bleiches, müdes Mädchen mit zerzausten, kurzen Locken ansieht. Was an diesem blassen Geschöpf schön und selbstbewusst sein soll, kann sie beim besten Willen nicht erkennen!

Wenig später fällt sie erschöpft auf ihr Bett. Unglaublich, was seit dem Mittag alles geschehen ist! Es fühlt sich so an, als liegt der Beginn des Tages schon Jahre zurück. Noch bevor Edi Johann im Nebenzimmer das Bettzeug gebracht und ihm die Funktionen der Heizung zu Ende erklärt hat, fallen Katharinas Augen zu.

Lindenherz

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