Читать книгу Lindenherz - Tala T. Alsted - Страница 6

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Katharina stolpert förmlich über den dünnen Lichtstrahl, der sich wie eine sorgsam gezeichnete Linie über die Holzdielen zieht. Das weiße Sonnenlicht dringt durch den Spalt einer Tür, die für gewöhnlich verschlossen ist. Katharina stoppt mitten in der Bewegung und blickt über die Schulter zurück. Ihre Hand nähert sich beinahe ohne ihr Zutun der altmodischen, vergoldeten Klinke. Sie zieht die Luft tief durch die Nase ein, als sie das kühle Metall an ihrer Haut spürt. Dann schiebt sie die Tür leise auf.

Was wird sie heute dort drinnen sehen, nur das Zimmer oder auch wieder etwas anderes? Wenn sie bei ihrer Oma Edi übernachtet, wohnt sie immer in der kleinen Kammer direkt nebenan, von der eine ebenfalls verschlossene Tür hinüber in dieses geheimnisvolle Zimmer abgeht. Es ist nicht so, dass Edi es ausdrücklich verboten hätte, diesen Raum zu betreten. Er bleibt einfach nur so gut wie immer abgeschlossen.

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, zieht Katharina die Tür leise hinter sich zu. Am beeindruckendsten hier drinnen findet sie den überdimensionierten, weißen Kleiderschrank, der eine ganze Wandfläche ausfüllt. Links und rechts besitzt er große Türen und in der Mitte befindet sich über drei geräumigen Schubladen mit dunklen Metallgriffen ein Spiegel. Alle außer der oberen Lade klemmen und zur verschlossenen, rechten Schranktür fehlt schon seit Jahren der Schlüssel. Aber das eigentlich Merkwürdige an dem Schrank ist dieser ovale Spiegel, der sich in seiner Mitte ins Holz einfügt. Ein Band aus golden bemalten Holzperlen schlingt sich wie eine Kette darum. Dazu gehört die zierliche Ankleidekommode, die ebenfalls weiß und goldfarben leuchtet. – Eine Ausstattung wie für eine Prinzessin, die noch aus Edis Kindheit stammt.

Das Wort »Prinzessin« passt zu Edi so viel besser als zu ihr, denkt Katharina. Ihre Oma tritt immer beherzt, selbstbewusst und anmutig auf. Sie dagegen ist introvertiert, unentschlossen und trägt lieber bequeme, statt elegante Kleidung. Doch die Vorliebe für altmodischen Schmuck teilen sie. Bei dem Gedanken greift Katharina lächelnd nach dem eiförmigen polierten Stein, der an einer silbernen Kette um ihren Hals hängt: Ein Geschenk von Edi zu ihrem 17. Geburtstag im Sommer.

Ein kurzer Blick aus dem Fenster bestätigt Katharinas Vermutung, dass Edi sich zwischen Birnbäumen und Kartoffelbeet aufhält. Draußen lässt der Spätherbst die Natur in warmen Farben glühen und Katharina will zwei ganze Ferienwochen bei Edi bleiben.

Mit wenigen Schritten geht sie in die Mitte des Raums. Der Spiegel am Kleiderschrank zieht sie an wie ein Magnet. Gebannt blickt sie auf das gläserne Oval, wie sie es jedes Mal tut, wenn sich ihr eine seltene Gelegenheit dazu bietet. Nicht immer sieht sie darin sich selbst. Heute füllen den Vordergrund ihre hellblauen Augen und die wilden Locken, die ihr bis knapp über ihre Ohren reichen. Aber dahinter und darüber öffnet sich ein Dach aus gelben Blättern und dunklen Zweigen, durch die neugierige Sonnenstrahlen fallen.

Was ist das für ein Wald, den es auf keinen Fall hier im Zimmer gibt?

Der Spiegel fasziniert sie seit jeher. In seine Ränder fressen sich hässliche schwarze Flecken, aber sie spürt das Geheimnisvolle, das ihn umgibt. Ihr Atem lässt das Glas beschlagen, so nah steht sie jetzt davor. Sie reckt sich auf die Zehenspitzen und hält sich am Griff der oberen Schublade unter dem Spiegel fest, um genauer hineinsehen zu können. Schon so oft hat sie die fremde Landschaft dort drinnen betrachtet! Jetzt will sie so nah wie möglich herantreten, um noch mehr davon als nur Blätter und Zweige erkennen zu können. Sie drückt ihre Stirn an das kalte Glas.

Da spürt sie förmlich den Wind und hört ein Rotkehlchen zwitschern – lauter, als sie je einen Vogel singen gehört hat. Sie reckt sich noch weiter und atmet tief die feuchte Waldluft ein. Alles riecht nach Moos, nach Blättern, nach Erde – so, als hat es vor kurzem geregnet.

Katharina bemerkt, dass sie nicht mehr in Edis Zimmer steht und das Blut rauscht ihr schneller durch die Adern. Mit weit aufgerissenen Augen sieht sie sich um. Dunkle Wände umschließen sie, aber der Schrank kann es nicht sein. Denn das Holz um sie herum, biegt sich knorrig und uneben, besitzt raue Stellen, runzelige Knubbel und eine breite Spalte, durch die Sonnenlicht hereindringt. Der Boden unter ihren Schuhen fühlt sich so weich an wie Sägespäne. Katharina begreift, dass sie in einem hohlen Baumstamm mit einer mannshohen Öffnung steht, die den Blick freigibt auf einen weiten, herbstlichen Laubwald. Überall flattert, knistert und zirpt es in den Zweigen.

Sie wagt sich zwei Schritte aus ihrem Versteck hervor. Doch genau da durchschneidet ein Zischen die Luft und ein gefiedertes Geschoss jagt in die Rinde eines dicken Baumstamms direkt vor ihr. Katharina schreit nachträglich auf und hält sich augenblicklich eine Hand vor den Mund. Der Pfeil durchbohrt genau einen mit Schlamm markierten Punkt. Als jemand sie anspricht, weicht sie hastig zurück und prallt mit dem Rücken an den Stamm. Den stechenden Schmerz, der jetzt durch ihr Schulterblatt fährt, ignoriert sie.

Ein junger Mann kommt auf sie zu – einfach alles an ihm ist sonderbar. Seine Worte versteht sie nicht, so als rede er eine fremde Sprache. Seine ungewöhnlich karamellfarbenen Augen sehen sie fragend an und sie überlegt, wie sie reagieren soll. Ihr Herz pocht wild und unregelmäßig. Wie hypnotisiert starrt sie sekundenlang in diese helle Iris, die das Sonnenlicht reflektiert und dadurch fast golden funkelt. Unzusammenhängende Gedankenfetzen rasen durch ihr Hirn.

Ganz langsam stellt er seine Frage noch einmal. »Wer bist du?«, glaubt sie durch das Rauschen in ihrem Kopf hindurch zu verstehen.

»Katharina«, flüstert sie und bekommt dabei kaum Luft.

»Katharina?«, wiederholt er. Ihr Name klingt in seinem Mund unglaublich fremd. Katharina und wie noch?, scheinen diese Augen zu fragen. Sein Blick wirkt ein wenig spöttisch, aber auch unnachgiebig. Sie kann sich nicht erinnern, ob er überhaupt Worte gesprochen hat, doch sie fühlt, er will eine weitere Erklärung, zumindest einen Nachnamen hören. Überdeutlich spürt sie, sie ist hier fehl am Platz: Ein Eindringling, denn schließlich gehört sie in Edis Haus und nicht in diesen Wald, der hinter dem Spiegel verborgen liegt.

Sie mustert ihn genauer. Seine dunkelblonden Haare reichen ihm fast bis ans Kinn. Ein Gürtel schnürt sein knielanges, blaues Hemd zusammen. Er trägt graue Leinenhosen und Lederschuhe. In der Hand hält er einen langen Bogen, mit dem er offenbar den Pfeil geschossen hat. So ungefähr stellt sie sich Robin Hood vor, natürlich als Gleichaltrigen.

Jetzt zieht er die Brauen zusammen und fragt erneut: »Wie heißt Ihr noch?« Sein Dialekt klingt so merkwürdig, dass sie sich wundert, wie sie ihn trotzdem versteht.

»Katharina Jung«, antwortet sie wahrheitsgemäß. Verständlicherweise hilft ihm das nicht weiter.

Sein Blick formt ein Fragezeichen und wandert dann über ihr kurzes Kleid aus rotem Cordsamt. Katharina schaut selbst an sich herunter. Die Schnallen an den Trägern glänzen im Sonnenlicht, obwohl sie selbstverständlich nicht aus echtem Silber bestehen. Er tritt einen Schritt vor, um den Stoff mit den breiten, weichen Rillen zu befühlen, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Sie bemerkt, dass er nicht viel größer ist als sie. Was bildet er sich ein, ihr Kleid anzufassen? Wenn sie könnte, würde sie zurückweichen!

»Woher kommt Ihr, Katharina Jung?«, fragt er langsam. Er legt die Stirn in Falten, als überlege er, ob ihm ihr Name bekannt vorkäme.

Katharina deutet in den hohlen Stamm. Ist sie wirklich durch den Baum gekommen? Wo befindet sich der Spiegel und wie kommt sie wieder zurück? Entschlossen schiebt sie sich an ihm vorbei, um in die Baumhöhle zu schlüpfen, doch der Fremde folgt ihr und hält ihren Arm fest. Die Berührung erschreckt sie, denn sie fühlt sich so real an – das hier ist kein Traum!

Atemzüge lang steht Katharina wie erstarrt. Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit, während sie angestrengt die Rinde des Baumes mustert. Nichts deutet auf einen Weg nach Hause hin. Ein unkontrollierbares Zittern schüttelt ihren ganzen Körper und sie spürt die Nähe des Unbekannten so deutlich, dass sie aufhört zu atmen. Angst flammt in ihr auf wie ein Waldbrand. Was, wenn sie nicht mehr zurückkann?

Bei einer hektischen Bewegung stößt sie sich den Kopf am Baumstamm. Als sie die Borke mit der Stirn berührt, sieht sie auf einmal das weiße Bett und die vertraute alte Tapete mit dem Blumenmuster. Unwillkürlich hechtet sie nach vorn. Der Fremde hält sie immer noch am Oberarm fest, doch dann hört sie, wie er entsetzt die Luft einzieht und irgendetwas ruft. Die Worte versteht sie nicht, aber seine Stimme klingt beinahe schrill.

»Bleib im Wald!«, schreit Katharina mit Nachdruck.

Bestimmt versteht er sie nicht, denn statt anzuhalten stolpert er nach vorn und auf einmal stehen sie beide in Edis Zimmer. Katharinas Muskeln beben immer noch heftig.

Der Fremde lässt sie abrupt los, um sich schwer atmend mit dem Rücken an den großen Schrank zu drücken. Seine weit aufgerissenen Augen tasten sich durch den Raum. Auch Katharina steht wie gelähmt und kann nirgendwo anders hinsehen als auf ihn, der aus der vertrauten Zimmereinrichtung wie ein Fremdkörper heraussticht. Sekunden vergehen, bis sich sein Atem beruhigt und sie aufhört zu zittern. Er löst sich aus seiner Erstarrung, tappt hinüber zum Fenster und berührt vorsichtig die Glasscheibe. Dann klopft er daran, wie um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich fest ist. Sein Blick fällt auf den grauen, alten Teppichboden, den bereits einige Flecken verunzieren. Er geht in die Hocke, um sachte das Material zu befühlen.

»Was ist das?«, fragt er in seiner ungewöhnlichen Aussprache, die Katharina seltsam vertraut vorkommt.

»Teppich«, antwortet sie knapp, woraufhin er sie verwirrt anblickt.

Als sie ihn so hilflos in dem für ihn fremdartigen Umfeld sieht, verschwindet ihre Angst vor ihm. Er ist kaum älter als sie, sie hätten Schulfreunde sein können!

»Und wie heißt du?«, traut sie sich zu fragen.

Daraufhin erhebt er sich und verbeugt sich auf merkwürdige Art. »Johann von Rowenstein, Sohn des Eberhard von Rowenstein, Knappe des Herrn Ludowig von Grünfels«, sagt er mit einem selbstbewussten Ausdruck in den Augen. Grünfels – so heißt der Ort hier, in dem sie sich befinden!

Sekundenlang starren sie sich an. Auch er scheint in diesem Moment zu begreifen, wie wenig er in ihre und sie in seine Welt passt. Hastig strafft Johann von Rowenstein die Schultern.

»Wer seid Ihr? Woher kenne ich Euch? Seid Ihr eine Fürstin?«, fragt er. Wieder fallen Katharina seine außergewöhnlichen Augen auf. Sie kennt niemanden mit solchen Augen, sie muss sich zwingen, ihn nicht anzustarren.

»Fürstin?«, wiederholt sie, während sie bereits den Kopf schüttelt. Ein Lächeln schleicht sich in ihre Mundwinkel, als ihre Anspannung endgültig von ihr abfällt.

Johann von Rowenstein sieht sich suchend um und ein langer Wortschwall kommt über seine Lippen, den Katharina nicht recht versteht. Sie errät aber, dass er zurückwill. Sein Blick bleibt an dem ovalen Spiegel im Schrank hängen und sie weiß, dass er genau wie sie das Blätterdach des Waldes darin sieht. Da folgt Katharina einem Impuls und greift nach seiner Hand. Sie stellt sich dicht neben ihn, um die Stirn gegen den Spiegel zu lehnen. Und tatsächlich! Es passiert noch einmal.

Wieder befindet sie sich im hohlen Baum und riecht den Duft des feuchten Waldes. Johann von Rowenstein steht so dicht neben ihr, dass sein Oberkörper beinahe ihren Rücken berührt. Katharina geht hinaus in den Wald. Schnell lässt sie seine Hand los, aber er ergreift sie gleich wieder und zwingt sie, ihn anzusehen. Wieder schwimmt ihr Blick in diesen faszinierenden Augen.

»Danke«, sagt er leise. Dann fügt er langsam hinzu: »Ich muss zurück.«

Er blickt sich hastig um, zieht seinen Pfeil aus dem Baumstamm und steckt ihn in den Köcher, den Katharina bisher gar nicht bemerkt hat.

»Sie suchen sicher schon nach mir«, ergänzt er und bedeutet ihr mit Gesten, wieder im Baum zu verschwinden. Wie benommen nickt sie und wagt nicht, zu widersprechen.

Sie legt ihre Stirn an die kühle Baumrinde, als wolle sie mit dem Stamm verschmelzen und im Grunde tut sie das auch, denn im gleichen Moment steht sie wieder vor dem Schrank. Hastig dreht sie sich um.

Sie erschreckt, als sie im Spiegel nicht sich selbst, sondern den völlig verwirrt schauenden Johann von Rowenstein sieht. Er blinzelt ein paar Mal und schüttelt langsam den Kopf. Dann dreht er sich um und rennt davon.

Katharina lässt sich mit Schwung auf das große Bett fallen und heftet ihre Augen auf die Zimmerdecke. Wo ist sie nur gewesen? Und warum kommt ihr dieser Johann so ungeheuer vertraut vor? Wieso versteht sie ihn, obwohl er eine so merkwürdige Sprache benutzt? Die Gedanken und Fragen wirbeln in ihrem Kopf, verknoten und umschlingen sich, während sie vergeblich versucht, sie voneinander zu lösen.

Lindenherz

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