Читать книгу Lindenherz - Tala T. Alsted - Страница 11

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Am nächsten Tag regnet und stürmt es, sodass das Wasser in schrägen Bächen an Katharinas Fensterscheibe entlang rinnt. Mit einem dampfenden Tee in den Händen liest sie die letzten Seiten des Romans. Als Lesezeichen nutzt sie das alte Kinderbild von ihr und Johann, zu dem ihre Gedanken immer wieder unfreiwillig zurückkehren. Sie will so dringend alles mit Sarah besprechen! Nicht bloß die ungeheuerliche Sache mit der Zeitreise, sondern auch so banale Dinge wie den Umstand, dass sie ständig an Johann denken muss und ihr Herz in solchen Augenblicken hastiger schlägt als sonst. Aber leider hat sie Edi zugesagt, niemanden etwas davon zu erzählen und sie gehörte bisher zu den Menschen, die sich an Versprechen halten.

Als es leise an die Tür klopft, schreckt Katharina auf. Sie entspannt sich, als sie den dunklen Lockenkopf ihrer Mutter im Türrahmen erkennt. Sie kommt nach der Arbeit zum Vesper und Abendessen vorbei.

»Oh, das ist aber schon lange her«, sagt Gabriele, als sie sich zu ihr auf die Bettkante setzt. Sie schaut auf das Foto, das auf Katharinas Decke liegt.

»Kennst du den Jungen neben mir?«, fragt Katharina probeweise.

Ihre Mutter fischt eine Lesebrille aus ihrer eleganten Handtasche und sieht noch einmal genauer hin. »Ist das etwa der Nachbarjunge, mit dem du so gerne gespielt hast? Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern, aber offenbar ist er immer plötzlich aufgetaucht und wieder verschwunden. Niemand hat je seine Eltern oder Großeltern gesehen, keiner im Dorf kannte ihn.«

»Er heißt Johann«, klärt Katharina sie auf.

Gabrieles Augen beginnen zu leuchten. »Genau, Johann!«, bestätigt sie. »Ein sehr höflicher Junge, aber auch etwas merkwürdig. Wie er immer alles angestarrt hat, ich glaube, er war ein bisschen schwer von Begriff, vielleicht entwicklungsverzögert …«

Katharina presst die Lippen aufeinander – genau deshalb hat sich Johann gestern von ihr beleidigt gefühlt! Weil er wegen seiner Unwissenheit in dieser Welt wirkt, als sei er weniger intelligent und sie hat ihn das durch ihre Angeberei spüren lassen. Die Situation ist ihr nachträglich unangenehm.

»Ich hab ihn gestern wieder getroffen, wir sind zusammen Fahrrad gefahren«, berichtet sie. »Aber ich hatte völlig vergessen, dass ich ihn kannte. Das ist mir erst später eingefallen. Wie kann das denn sein?«

Ihre Mutter streicht ihr tröstend über den Arm. »Das war damals, als du eine ganze Woche lang krank warst. Ich hab mir frei genommen und dich nach Hause geholt. Dann ist viel Zeit vergangen. Vermutlich hattest du danach einfach andere Dinge im Kopf.«

Wenn alle die gleiche Geschichte erzählen, muss sie ja stimmen, denkt Katharina und betrachtet noch einmal nachdenklich das Foto. Alles deutet darauf hin, dass sie sich beide mit demselben aggressiven Grippevirus angesteckt und deshalb auch gleichzeitig krank gewesen waren.

»Ursprünglich wollte ich dir sagen, dass unten ein Überraschungsgast auf dich wartet«, unterbricht Gabriele Katharinas Gedanken. Johann!, denkt sie sofort. Aber der sitzt unmöglich im Wohnzimmer.

»Sarah!«, ruft sie dann und klappt schwungvoll ihr Buch zu, als ihre Mutter lächelnd nickt.

»Ich nehme sie abends wieder mit nach Hause, ihre Großeltern sind schließlich immer noch zu Besuch.«

***

Gleich nach dem Vesper schlüpfen Sarah und Katharina in ihre Reithosen, hängen sich die schwarzen Schutzhelme über die Arme und gehen mit federnden Schritten nebeneinander hinunter zum Pferdehof. Zum Glück regnet es nicht mehr und sie weichen lachend den riesigen Pfützen aus, die sich sofort auf dem holprigen Sandweg gebildet haben.

»Am Freitag treffe ich ihn!«, sprudelt Sarah los, sobald sie allein sind. Haarklein schildert sie Katharina noch einmal jede Bewegung dieses Traummanns namens Kilian. Katharina bewundert ihre Freundin für ihr mutiges Vorgehen – selbstbewusst hat sie ihren Auserwählten per Textnachricht zu einem Date eingeladen. Und natürlich konnte er nicht ablehnen, denn Sarah hat etwas an sich, etwas Fröhliches, ein inneres Leuchten – sie kommt Katharina vor wie eine Kerze, zu der alle hinschauen. Bereits seit dem Kindergarten klammert sich Katharina an dieses Strahlen und sie beide sind beinahe wie Schwestern.

»Ich hab vorgeschlagen, dass wir gemeinsam auf den Aussichtsturm steigen, du weißt schon, der nachts so toll beleuchtet ist! Vorher wandern wir den Berg hinauf …«, erzählt Sarah weiter.

»Aber diese Freitreppe auf den Turm ist doch so gruselig, was ist, wenn er Höhenangst hat? Ihr könntet stattdessen ganz klassisch in ein Café gehen«, wendet Katharina ein.

»Nein, das hier ist viel besser!«, widerspricht Sarah mit einem überzeugten Lächeln. »Falls er Höhenangst haben sollte, ergibt sich eben die Gelegenheit, Händchen zu halten! Außerdem haben Forscher herausgefunden, dass Männer, die ein bisschen Hunger haben, Frauen attraktiver finden. Also bloß nicht zum Date ins Café oder womöglich ins Restaurant gehen!«

Katharina schüttelt lachend den Kopf. »Als ob du solche Tricks nötig hättest! Und manchmal glaube ich, du erfindest diese wissenschaftlichen Untersuchungen nur!«

»Was denkst du denn von mir? Ich merke mir sowas einfach nur total schnell.«

Nachdem sie den ganzen Tag die Nase in das Buch gesteckt hat, genießt Katharina es, in dem frischen, nasskalten Herbstwetter die dunkle Stute Mira zu satteln. Sie mag Mira besonders gern. Das Reiten sorgt regelmäßig dafür, dass sich Katharinas Gedanken beinahe von selbst ordnen. Hin und wieder beugt sie sich nach vorn, um Mira zuzuflüstern, was sie weder Sarah noch ihrer Mutter erzählen soll. Erst da begreift sie, wie schwer das Versprechen, das sie Edi gegeben hat, auf ihr lastet.

Oben auf der Hügelkuppe halten sie an und schauen über Grünfels, das unter dem bewölkten Himmel heute viel grauer aussieht als an anderen Tagen. Sarah lenkt ihr Pferd genau neben Mira.

»Mach mal bitte ein Selfie von uns, mein Akku ist leer! Ich möchte nachher noch ein Bild an Kilian schicken!«, ruft Sarah.

»Aber nur, wenn ich ein annehmbares Gesicht hinbekomme«, wendet Katharina ein, holt jedoch ihr Handy hervor und hält es so, dass das Display sie beide zeigt. Hinterher kontrolliert sie, ob die Aufnahme gelungen ist.

»Lass mich auch sehen!«, bittet Sarah, greift nach Katharinas Telefon und begutachtet das Foto sorgfältig. Nachdem sie zufrieden genickt und es an sich selbst weitergeleitet hat, scrollt Sarah erneut durch Katharinas Fotos. Dabei entdeckt sie prompt das Bild, das Katharina vor zwei Tagen bei ihrem Waldspaziergang von sich und Johann geschossen hat.

»Wer ist denn das?«, kreischt Sarah augenblicklich.

Reflexartig versucht Katharina, ihr das Smartphone wieder abzunehmen, aber Sarah nimmt es einfach in die andere Hand und betrachtet das Foto eingehend. Darauf grinst Katharina dümmlich, während Johann eher fragend in die Kamera schaut. Katharina seufzt laut auf. Am liebsten würde sie Sarah alles von Anfang an berichten. Aber jetzt muss sie ihr eine Halbwahrheit auftischen.

»Interessante Frisur, der könnte als Model arbeiten, sehr durchtrainiert oder täusche ich mich da?« Sarah plappert unbekümmert los und Katharinas Wangen beginnen rot zu glühen. So viel ist auf dem Bild doch gar nicht zu sehen!

»Er heißt Johann und ich hab ihn vor zwei Tagen hier getroffen«, erklärt sie deshalb. Sarah pfeift anerkennend durch die Zähne.

»Und, wie ist er so? Auf welche Schule geht er?«, hakt sie sofort nach. Ihre Augen leuchten vergnügt, weil sie Katharinas Verlegenheit gleich bemerkt.

»Keine Ahnung«, erwidert Katharina ausweichend und überlegt, was sie gefahrlos verraten kann. »Ich weiß überhaupt nicht viel über ihn. Wir sind zusammen spazieren gegangen und einmal mit dem Rad zum Eisessen gefahren.«

Sarah hängt so gespannt an ihren Lippen, dass sie weiterredet.

»Soll ich dir sagen, was merkwürdig ist? Ich hab zwischen Edis Büchern ein Foto gefunden, das uns als Kinder zeigt. Offenbar waren wir befreundet. Aber ich kann mich an nichts erinnern! Jetzt ist er plötzlich wieder aufgetaucht und ja, ich kenne ihn irgendwoher.«

Sarah starrt sie mit offenem Mund an. Katharina ist stolz auf sich, eine Variante der vertrackten Geschichte gefunden zu haben, die sie ihrer Freundin erzählen kann, ohne zu viel Preis zu geben. Selbst wenn sie die Zeitreise in die Vergangenheit weglässt, klingt ihr Wiedersehen mysteriös genug. Sie fühlt sich erleichtert, obwohl es ihr leidtut, nicht alles sagen zu können. Sarahs Neugier ist geweckt und Katharina berichtet ihr auch von dem Fieber, dem Vergessen und Verschwinden.

»Und jetzt taucht er einfach so wieder auf, als sei nichts gewesen! Nach so vielen Jahren!«, ruft Sarah. »Das ist wie in einem Krimi! Am besten bist du vorsichtig! Wenn ich nur länger bleiben könnte, ich muss ihn unbedingt auch kennenlernen!«

***

Katharina blinzelt mehrmals und klappt das deprimierende Buch über die »Frau im Mittelalter« zu. Nichts an dem Leben eines Mädchens in dieser Zeit lockt sie, da können noch so viele Märchen und Legenden von anmutigen Prinzessinnen berichten. Denn außer ehrenvoll, hübsch und beherrscht aufzutreten, verlangt die Gesellschaft von Frauen vor allem Gehorsam und Gebärfähigkeit. Katharina kaut gedankenverloren auf der Innenseite ihrer Wange. Womöglich kann sie sich gut unter Kontrolle halten und über ihre Fähigkeit, Kinder zu bekommen, weiß sie noch nichts. Aber in den anderen Punkten fällt sie durch – und es ist ihr gleichgültig! Denn so still und zurückhaltend sie vielen auf den ersten Blick erscheinen mag, selten stört sie etwas so sehr wie Ungerechtigkeit und alles an dieser damaligen Frauenrolle wirkt unfair.

Entschlossen schiebt sie die anstrengende Lektüre zurück ins Regal und rappelt sich auf. Sie kann nicht den ganzen Tag im Bett verbringen, selbst, wenn die Landschaft ihr von draußen wieder so trüb entgegenblickt. Nachdem Johann einen Tag lang weggeblieben ist, kommt er ihr nur noch wie eine Traumgestalt vor. Sie muss sich davon überzeugen, dass sie nicht verrückt wird und sich einen Jungen herbeifantasiert, den es in Wirklichkeit nicht gibt!

Natürlich zögert sie, denn im Grunde hat sie Edi keinesfalls nur versprochen, keinem etwas von dem Spiegel zu erzählen, sondern sie soll auch nicht hindurchgehen. Aber sie nimmt sich vor, besonders vorsichtig zu sein, um niemanden auf ihre Spur zu locken. Sie will sich schließlich nur kurz umsehen.

Katharina springt auf und durchsucht ihren Schrank nach passender Kleidung. Frustriert verwirft sie ein Teil nach dem anderen. Versteckt hinter ihren Pullovern entdeckt sie letztlich ein altes, graues Leinenhemd, das sie sich vor Jahren einmal von ihrer Mutter stibitzt hat. Das Material stimmt und der schlichte Schnitt kommt sogar ohne Knöpfe aus. Das langärmlige Hemd reicht ihr bis zur Hälfte des Oberschenkels. Sie findet dazu noch eine dunkle Leggins. Nur ihre schwarzen Stoff-Sneakers sehen viel zu modern aus. Zu ihrer großen Verblüffung erspäht sie zwischen den Wollsocken auch einen geflochtenen braunen Ledergürtel. Die wiedergekehrten Erinnerungen stimmen offensichtlich – sie hat sich schon früher auf Ausflüge in die fremde Zeit vorbereitet!

Katharina schließt leise den Nebenraum auf und betrachtet dort erneut sorgfältig ihr Spiegelbild, während sie im Hintergrund schon die dunklen Baumwipfel sehen kann. Schnell streicht sie sich eine vorwitzige Locke aus der Stirn und schluckt letzte Zweifel hinunter.

Dann macht Katharina einen großen Schritt nach vorn. Das Spiegelglas spürt sie gar nicht. Sie fühlt keinerlei Widerstand, sondern steht von einem Moment auf den anderen im Wald. Still wartet sie im hohlen Baum bis sich ihr Herzschlag normalisiert und späht schließlich wachsam hinaus. Es nieselt hier ein wenig und ein Eichelhäher krächzt laut, als habe er ihre Anwesenheit bemerkt. Johann kann sie nirgends sehen und sicherlich läuft er nicht Tag für Tag an diesem Baum vorbei.

Als sich nach Minuten immer noch nichts bewegt, tritt Katharina leise aus dem Baumstamm heraus und schaut sich um. Fast rechnet sie damit, jeden Moment überfallen zu werden, aber alles bleibt still. Trotzdem schlägt ihr Herz schneller als sonst, als sie einige Schritte geht und sich nach einem Weg umsieht. Sie entdeckt einen Trampelpfad und folgt ihm ein Stück. Besser, sie prägt sich jeden einzelnen Baum ein, um wieder zurückfinden zu können. Vielleicht sollte sie wie Hänsel und Gretel helle Kieselsteine streuen!

Nicht weit entfernt hört sie das Plätschern von Wasser: Der Bach, den sie in ihrem Traum gesehen hat. Sie klettert vorsichtig einen kleinen Hang hinab, um zu einer Stelle zu kommen, an der ein großer Fels aus dem Wasser ragt. Wieder klingt die durchdringende Stimme des Eichelhähers in der Nähe und sie fährt erschrocken zusammen.

»Wo willst du hin?«, hört sie da jemanden unfreundlich fragen. Sie kommt aus dem Tritt, beinahe fällt sie ins Wasser. Augenblicklich bereut sie, kein Messer mitgenommen zu haben. Doch als sie aufsieht, erkennt sie Johann auf der anderen Seite des Bachs. Seine Stimme klingt schroff wie nie zuvor. Mit verschränkten Armen lehnt er an einem Baumstamm und verschmilzt auf diese Weise beinahe mit der Umgebung. Er schaut grimmig auf sie herab, als habe sie einen schlimmen Fehler begangen. Mit ein paar Schritten springt er hinunter ans Wasser, sodass nur der kleine Bach sie voneinander trennt.

»Weißt du, wie gefährlich das ist, was du hier tust?«, herrscht er sie an. Obwohl ihre Hände zittern, richtet sie sich auf und reckt das Kinn vor.

»Was tu ich denn?«, fragt sie zurück, obwohl er in diesem Moment wahrhaftig angsteinflößend aussieht.

Mit einem Satz klettert Johann auf den Felsen, vor dem sie steht, und auf ihrer Seite wieder herunter. Über seiner Schulter hängt ein Holzeimer an einer Schnur, was ihn aber nicht bei der Kletterei behindert.

»Du läufst allein und unbewaffnet durch einen dir unbekannten Wald«, sagt Johann leise und mustert mit strengem Blick ihre Verkleidung. Nachdem Katharina den ersten Schreck überwunden hat, keimt Widerstand in ihr auf. Wenn sie geahnt hätte, dass er sie bevormunden will, wäre sie zu Hause geblieben!

»Ich freue mich ebenfalls, dich wieder zu sehen«, gibt sie daher nur giftig zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was machst du überhaupt hier?«

Unauffällig sucht sie mit den Augen die Bäume und Sträucher hinter Johann ab, um herauszufinden, ob sich womöglich noch andere Leute dort versteckt halten. Doch er scheint allein unterwegs zu sein.

»Ein bisschen Abstand gewinnen von den immer gleichen Menschen in der Burg«, erwidert er bloß und betrachtet sie mit einem intensiven Blick. »Ich hab den ganzen Vormittag mit dem Schwert gefochten und dann noch mit Friedrich den Hof gefegt. Am besten kommst du mir nicht zu nahe …«

Mit einem halben Lächeln tritt er einen Schritt beiseite und zupft unwirsch an seinem Hemd. »Außerdem hat Herr Ludowig mir die Aufgabe gegeben, die Fischreusen zu kontrollieren«, redet Johann weiter, als Katharina immer noch schweigt. In ihr brodelt es, weil er sie so angefahren hat. Johann tut, als bemerke er das nicht und fährt im Plauderton fort: »Wahrscheinlich wollte er mich loswerden, nachdem sein Sohn und ich vorhin fürchterlich aneinandergeraten sind. Friedrich hat behauptet, ich hätte unfair gekämpft, dabei ist er einfach nur zu langsam! Magst du mit zum Fischteich kommen? Ich soll spätestens in zwei Stunden zurück sein, sonst komme ich zu spät zu meiner nächsten Unterrichtsstunde. Man muss ein ganzes Stück laufen …«

Er wartet ihre Antwort nicht ab, sondern wendet sich bereits zum Gehen, als sei er sich sicher, dass sie ihm folgen wird. Einen Moment zögert Katharina. Seine Selbstsicherheit stört sie, doch dann läuft sie ihm nach. Schließlich ist sie es gewesen, die hergekommen ist.

»Und was ist deine nächste Schulstunde?«, fragt sie, als sie ihn eingeholt hat.

Johann verzieht abwehrend das Gesicht. »Höfisches Benehmen bei Tisch«, erklärt er kurz angebunden, »und angemessenes Verhalten hochgestellten Damen gegenüber. Der Magister unterweist uns darin, Barbara-Sophie mimt die Burgherrin.«

Katharina muss kichern, als sie sich ausmalt, wie Johann sich untertänigst verbeugend einem vornehm gekleideten Mädchen mundgerechte Häppchen zuschneidet. Er schnaubt empört.

»Du kannst dir das natürlich nicht vorstellen«, knurrt er. »Aus dir würde auch nie eine richtige Dame werden, eher ein Schildknappe oder so etwas!«

Ohne genau zu wissen, warum, fühlt sich Katharina persönlich angegriffen – und hilflos.

»Ich will gar keine feine Dame sein!«, ruft sie und läuft ein wenig schneller. Zu deutlich brennt ihr noch das trostlose Leben der mittelalterlichen Frauen im Gedächtnis, von dem sie gerade erst gelesen hat. Glücklicherweise kann sie sich mit ihrer schlanken Statur und der flachen Brust auch jetzt noch problemlos als Junge ausgeben.

»Schon gut«, beschwichtigt Johann sie und holt sie mühelos wieder ein. »Ich weiß ja, dass du anders bist. Aber es ist trotzdem merkwürdig, du bist schließlich ein Mädchen.«

Wie eine Entschuldigung kommen seine Worte Katharina keineswegs vor. Das Thema scheint ihn allerdings zu beschäftigen, was auch nicht verwunderlich ist, nach allem, was sie inzwischen über die gesellschaftliche Position der Frauen in seiner Zeit gelesen hat. Ihr Benehmen passt überhaupt nicht zu dieser Rolle.

Lange laufen sie schweigend durch den Wald. Sie folgen einem kleinen Pfad, den sie nur hintereinander gehen können. Katharina braucht ihre ganze Konzentration, um tief hängenden Zweigen auszuweichen und darauf zu achten, nicht zu stolpern. Längst würde sie ohne Hilfe kaum mehr zurückfinden! Schließlich kommen sie über eine Bergkuppe und Katharina verharrt staunend, als sie den kleinen See sieht, der unter ihnen in der Sonne glitzert. Ein paar Wasservögel verschwinden im Schilf. Im Hintergrund ragen unendlich viele dunkelgrüne Baumwipfel auf. Was für ein beeindruckendes Panorama!

»Wie hübsch!«, ruft sie. In ihrer Zeit ist ihr dieses Gewässer nie als besonders schön aufgefallen. Es existiert zwar noch, aber nur als halb so großer, recht trostloser Tümpel in einer Senke zwischen weit ausgedehnten Feldern.

Johann nickt und sieht sich um. Der See liegt völlig abseits der großen Handelsstraße – hier kommt sicher selten jemand vorbei.

»Wenn es wärmer wäre, könnten wir baden«, sagt er, als sie das Ufer erreichen. In seiner Stimme schwingt Bedauern mit. Über der glatten Oberfläche des Sees hängt ein grauer, feuchter Nebelschleier.

Katharina sieht auf. »Wir könnten zur Schwimmhalle fahren! Mit dem Fahrrad dauert das nur zwanzig Minuten.« Ihr letzter Besuch dort liegt schon eine Weile zurück und jetzt bekommt sie direkt Lust darauf.

Johanns Lippen formen lautlos das Wort nach: Schwimm-Halle. »Eine Halle, in der man schwimmt?«, kombiniert er.

»Genau, darin ist ein Becken mit warmem Wasser. Die Luft ist ebenfalls geheizt, damit man auch im Winter baden gehen kann«, erklärt Katharina.

»So wie eine Badestube in der Stadt?«, fragt Johann. »Man sagt, dort sitzen die Männer und Frauen stundenlang nackt im Wasser und essen und trinken dabei.«

»So ähnlich!«, kichert Katharina. »Die Leute baden allerdings in besonderer Badekleidung. Im Schwimmbad gibt es auch Badehosen zu kaufen, für den Fall, dass du mich begleiten willst.« Sie lacht, als sie seinen Blick bemerkt.

»Ich kann dich da unmöglich alleine hinfahren lassen!«, erwidert er ohne lange nachzudenken und plant umgehend, am nächsten Tag zeitig zu ihr zu kommen, damit ihnen Zeit genug für den Ausflug bleibt. Johann betrachtet sie mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln.

»Warum starrst du mich so an?«, ruft Katharina und verschränkt die Arme vor der Brust. Aber dann fällt ihr auf, dass er eher verträumt aussieht.

»Ich kenne kein anderes Mädchen, das mit mir schwimmen gehen würde!« Sein Blick, der über ihren Körper wandert, lässt sie ihre Schultern noch ein wenig höher ziehen.

»Du kennst ja auch keine anderen Mädchen«, blafft sie.

»Doch, Maria Elisa, Barbara-Sophie, Elsa …«, zählt er auf. »Aber denen begegne ich nur selten. Elsa ist die Tochter der Wäscherin, die kommt nur samstags auf die Burg und verschwindet gleich im Waschhaus. Maria Elisa und Barbara-Sophie sehe ich höchstens im Burggarten, heute beim Unterricht oder zum Abendessen und dann halten sie die Blicke gesenkt und sagen kein Wort …« Katharina zieht die Nase kraus. Aus irgendeinem Grund spürt sie plötzlich ein wenig Eifersucht auf diese makellosen, wohlerzogenen Burgfräulein aufkeimen, die dort oben auf dem Berg hinter den dicken grauen Mauern residieren.

»So haben sie das eben gelernt«, verteidigt sie trotzdem die fremden Mädchen. »So wollt ihr Männer sie doch offenbar haben: immer freundlich und zuvorkommend, ohne ein Wort zu viel zu sagen.«

Johann sieht sie nachdenklich an. »Stimmt«, erwidert er dann. Aber er klingt dabei nicht so selbstsicher wie sonst. Eine ganze Weile schweigt er, während Katharina neben ihm herläuft, direkt auf einen dünnen Holzsteg am Ufer zu. Bevor sie dort ankommen, hält Johann inne und dreht sich zu ihr um.

»Katharina«, beginnt er und sieht sie ernst an. »Ich glaube, ich mag dich gerade deswegen, weil du nicht so bist wie alle hier es haben wollen!«

Heftig quakend fliegen zwei Enten aus dem hohen Schilfrohr auf und landen mit einem Platschen in sicherer Entfernung auf dem Wasser. Das plötzliche laute Geräusch lässt Katharina zusammenfahren. Gleichzeitig fangen ihre Wangen vor Hitze an zu glühen, als sie realisiert, was er soeben gesagt hat. Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln, weiß aber nicht, was sie antworten soll. Herzschläge lang schaut sie einfach nur in seine honigbraunen Augen. Dann ist der Moment verflogen.

»Erzähl mir mehr davon, was die Burgdamen machen«, bittet Katharina leise.

Johann hebt abwehrend die Hände. »Du sollst nicht so sein wie sie!«

»Ich werde nie so sein wie sie«, entgegnet Katharina. »Ich kann das gar nicht. Ich lerne in meiner Schule völlig andere Dinge. Und einmal im Jahr laden die großen Betriebe nur die Mädchen ein, um sie davon zu überzeugen, Ingenieurinnen oder Mechanikerinnen zu werden. Meine Freundin Sarah hat jetzt schon beschlossen, Geschichte zu studieren. Ich weiß leider überhaupt nicht, was ich später machen möchte.«

Johanns Augen leuchten. »Ich würde auch gern sowas lernen«, sagt er gedankenverloren. »Aber ich will genauso sehr ein geschickter Ritter sein. Dafür arbeite ich seit Jahren jeden Tag. Wenn ich mich noch mehr anstrenge, darf ich mit Herrn Ludowig in die Schlacht ziehen.«

»In welche Schlacht?«, fragt Katharina, als er nicht weiterspricht. Ihr Mund fühlt sich trocken an, als sie die Entschlossenheit in seinem Blick bemerkt.

»Es wird sich schon eine finden«, erwidert Johann leichtfertig, als ob es dabei nicht um Krieg und Grausamkeit ginge. »An Pfingsten durfte ich beim großen Turnier des Burggrafen, beim Buhurt, mitkämpfen und Ludowig unterstützen. Er sagt, ich sei geschickt. Aber ich will noch viel besser werden. Friedrich ist zwei Jahre älter als ich und einen halben Kopf größer. Trotzdem hab ich ihn im Übungskampf schon mehrmals besiegt!«

Er klingt beinahe angeberisch und Katharina lässt das Thema fallen, als könnte sie sich daran verbrennen. Dennoch will sie versuchen, mehr über ihn zu erfahren.

»Hast du auch manchmal Heimweh?«, fragt sie deshalb. Schließlich ist Ludowig nicht Johanns Vater. Doch Johann zuckt nur mit den Achseln, während er auf die graue Wasseroberfläche schaut. »Ich bin mit sieben nach Grünfels gekommen, inzwischen kenne ich Herrn Ludowig besser als meinen eigenen Vater. Er pflegt hervorragende Kontakte zu hochrangigen Adligen, ist ein strenger, aber guter Lehrer und behandelt mich wie einen Sohn. Friedrich geht mir dafür auf die Nerven wie ein echter großer Bruder.«

»Ich hätte auch gern Geschwister«, sagt Katharina ohne nachzudenken. »Aber seit dem Tod meines Vaters hat meine Mutter nie wieder einen Freund gehabt und mittlerweile ist sie zu alt für weitere Kinder.«

»Wie ist dein Vater denn gestorben?«, fragt Johann. Katharina schluckt – jetzt ist sie es, die auf den See hinaus starrt.

»Bei einem Autounfall. Er befand sich auf dem Weg nach Hause, als er die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Das Auto hat sich überschlagen und ist erst an einem Baum gestoppt.« Die Worte kann sie auswendig. Sie stammen aus dem Polizeibericht in der Tageszeitung, für die ihr Vater gearbeitet hat. Katharina hat sich die Zeilen aus dem digitalen Zeitungsarchiv der Bibliothek ausgedruckt und in ihr Tagebuch geklebt. »Ich war erst drei und kann mich leider nicht an ihn erinnern«, fügt sie mit einem Seufzen hinzu.

Johann legt seinen Arm um sie und drückt sie an sich. Das fühlt sich tröstlich an. Sie will es kaum glauben, doch sie steht hier im Jahr 1194 an einem See und erzählt ihre Lebensgeschichte diesem Jungen, der vorhin gesagt hat, er mag sie! Johann presst sie noch etwas fester an seine Schulter, sodass ihre Köpfe beinahe zusammenstoßen und die Aufregung Katharina bis in die Haarspitzen kitzelt. Was ist auf einmal los mit ihr? Sie ist ihm schließlich erst wenige Male begegnet. Liegt es daran, dass er so anders ist als alle, die sie kennt? Oder an seiner Behauptung, dass er sie gerne hat? Oder doch eher am Klang seiner Stimme, an seinem kantigen Gesicht und seinem drahtigen Körper? Katharina kann keinen klaren Gedanken fassen.

Nach einer kleinen Ewigkeit löst Johann sich mit einem schiefen Lächeln von ihr, nimmt den Holzeimer und balanciert zum Ende des dünnen Stegs. Katharina bleibt am Ufer stehen und beobachtet, wie er in die Hocke geht, um etwas aus dem See herauszuziehen, das aussieht wie ein hölzerner Käfig. Hinter den geflochtenen Stäben schlägt platschend ein Fisch seine kräftige Schwanzflosse hin und her. Johann schöpft Wasser aus dem See und befördert das Tier mit routinierten Bewegungen in den Eimer. Dann zieht er auf der anderen Seite des Stegs an einem weiteren Seil eine zweite, aber leere Reuse heraus, die er gleich wieder ins Wasser sinken lässt. Als er zurückkommt, betrachtet Katharina den etwa zwei Hände langen, silbern glänzenden Fisch, der jetzt nur leicht mit den Flossen wackelt. Johann kontrolliert noch weitere Fangkäfige und schließlich drängen sich vier dicke Fische in dem Eimer, die Katharina aus großen Augen beinahe traurig ansehen. Da muss sie plötzlich an Sarah und ihr unerschöpfliches Faktenwissen denken.

»Sarah hat mir neulich von neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen erzählt, wonach Fische über für Menschen nicht hörbare Geräusche miteinander kommunizieren. Sie sind durchaus intelligent und können fühlen. Der hier guckt mich an, als wüsste er genau, was du mit ihm vorhast!«

Johann stößt ein spöttisches Lachen aus. »Ja, unser Koch, Hans, möchte ihn frisch, weshalb er noch eine Weile im Eimer weiterleben darf. Aber Herr Ludowig liebt ihn geräuchert.«

Johann schultert den Eimer und geht voran. Sie folgen dem Pfad, den Katharina allein nie gefunden hätte, durch den dichten Wald. Inzwischen nieselt es und sie friert in dem Leinenhemd. Als sie wieder vor der hohlen Linde stehen, bedankt sie sich für den schönen Nachmittag. Denn trotz des wenig vielversprechenden Beginns, glaubt sie, Johann besser kennengelernt zu haben.

»Komm bloß nicht noch einmal alleine in den Wald«, ermahnt er sie und Katharina verdreht die Augen. Sie erwidert aber nichts, denn Edi hat ihr schließlich genau das Gleiche gesagt. Im Grunde weiß sie selbst, wie schnell es in Johanns Zeit für sie gefährlich werden kann, wenn sie auf andere Menschen trifft.

»Bis morgen«, verabschiedet sich Johann. Er zieht dabei einen Mundwinkel leicht nach oben und wartet, bis sie im Baumstamm verschwunden ist.

Lindenherz

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