Читать книгу Lindenherz - Tala T. Alsted - Страница 8

~ 3 ~

Оглавление

Grashalme, fast so hoch wie sie selbst, streichen sanft über Katharinas nackte, seltsam rundlich aussehende Unterarme. Zielstrebig bahnt sie sich einen Weg durch die blühende Wiese. Vor ihr tönt ein Kinderlachen. Katharina rennt auf den Jungen zu und als er sich umdreht, sieht sie zuerst nur seine honigbraunen Augen. Erst dann fällt ihr auf, dass ihm seine struppigen Haare schweißnass an der Stirn kleben. Er verzieht sein Gesicht zu einer albernen Grimasse, obwohl sich ein großer roter Striemen einmal quer über seine Wange zieht, als habe ihn dort ein Schlag getroffen. Seine Hand streicht über die Blüten einer Butterblume.

»Bluome«, sagt er mit dieser merkwürdigen Aussprache. Aber Katharina mag den Klang seiner Stimme, genau wie sein ansteckendes Lachen. Wieder und wieder ruft sie: »Blume! Bluome! Blume!«

Ihre Hände streichen über Löwenzahnköpfe bis sie vom Blütenstaub gelb leuchten. Sie rennt weiter und weiter durch das grüne Labyrinth, ohne außer Atem zu kommen, als könne sie für immer so laufen. Der Stamm eines knorrigen, weiß blühenden Apfelbaums bremst ihren Lauf. Der Junge wartet schon auf sie, wie im Märchen vom Hasen und dem Igel, um ihr das Wort »Boum« förmlich entgegenzuschreien.

»Baum!«, brüllt sie zurück und lacht.

Es folgen »Himel«, »Sunne«, »Hûs« und die Wörter schmelzen wie Schokolade auf Katharinas Zunge, wenn sie sie nachspricht. Sie toben im Zickzack über die Wiese und Wege, zeigen auf Blätter, Vögel, Bienen, Schuhe, Steine, Äste, Hosenbeine, Arme, Finger, Ohren und alles, was sonst in ihre Reichweite kommt. Die Sonne scheint warm und ein Schmetterling flattert von Blüte zu Blüte. Wie nennt er ihn noch? »Vivalter«, flüstert Katharina und er nickt anerkennend.

Als knirschend Autoreifen über den nahen Kiesweg rollen, erstarrt der Junge neben ihr. Seine Hand krallt sich schmerzhaft in Katharinas Oberarm.

»Das ist nur ein Auto!«, erklärt sie, während sie ihren Arm befreit.

Als der Motor aufheult, das Auto mit einem lauten Brummen umlenkt und davonfährt, rennt der Junge hinterher. Wieder folgt ihm Katharina, doch diesmal versperren ihr die Halme die Sicht. Wie schlanke, gerade Bäume ragen sie plötzlich vor ihr auf, sodass Katharina jeden einzeln umrunden muss. Auf einmal kommt sie sich klein vor wie Däumelinchen. Sie befindet sich nicht mehr auf der Wiese vor Edis Haus, sondern tatsächlich in einem Wald. Nicht weit entfernt verschwindet der Junge mit dem struppigen Haar zwischen dichten Sträuchern.

Katharina taucht ein in den Busch, als sei der ein grüner Vorhang. Sie hält inne, als sie auf der anderen Seite Stimmen hört und das leise Zischen, mit dem sich ein Pfeil in Baumrinde bohrt. Eine tiefe Männerstimme erzeugt ein anerkennendes Brummen und der breite Rücken eines Hünen in einem roten Gewand schiebt sich in Katharinas Sichtfeld. Nur eine Armlänge vor ihrem Gesicht baumelt ein langes Schwert, das in seiner Scheide am Gürtel des Riesen hängt. Katharina schwitzt und will flüchten, doch ihre Füße wachsen wie Wurzeln in den Boden hinein. Der Mann redet auf den Jungen ein, welcher jetzt nickt und mit Pfeil und Bogen eine Zielscheibe am Baum ins Visier nimmt. Der Rote neigt zufrieden das Kinn. Als er endlich geht, entkrampfen sich auch Katharinas Muskeln.

»Du siehst aus wie ein Bauernjunge«, sagt ihr Freund mit einem fröhlichen Blitzen in den Augen. Dass ihre Beine bis eben Baumstämme gewesen sind, scheint ihn nicht einmal zu stören.

Auf einmal hört Katharina Tritte und wendet sich erschrocken in die Richtung, aus der diese, begleitet von einem Grunzen, näher kommen. Aber weit und breit findet sie nichts Ungewöhnliches. Trotzdem beginnen ihre Knie zu zittern. So etwas hat sie noch nie gehört! Ob es hier wilde Bestien gibt?

»Swine«, sagt der Junge, als erkläre das alles. Aber sie begreift erst, worauf er hinauswill, als sie die Schweine schon kommen sieht. Eine Gruppe auffällig kleiner, borstiger Hausschweine trottet durchs Unterholz und durchwühlt den Waldboden grunzend mit ihren Schnauzen. Sie erinnern überhaupt nicht an die riesigen rosafarbenen nackten Tiere, die Katharina kennt. Ein Junge folgt ihnen mit einer Rute und bewacht sie. Ihren Begleiter grüßt er höflich, doch sie starrt er unverhohlen an.

Im nächsten Moment sind er und die Schweine spurlos verschwunden. Katharina bahnt sich erneut einen Weg durch dichter und dichter werdendes Unterholz. Sie folgt einem schmalen Pfad, der in den Wald hineinführt und sich hinunter zu einem Bach schlängelt. Dort biegt sie rechts ab und geht entgegen der Fließrichtung bis große Felsbrocken aus dem Wasser ragen. Der Junge vor ihr springt behände wie ein Waschbär über die Steine ans andere Ufer – sie muss ihm folgen, ohne ihn fände sie nie wieder nach Hause!

Der intensive Duft nach Wald und das allumfassende Grün strömen auf sie ein, bis ihr Kopf davon schwirrt. Katharina erkennt inzwischen keinen Pfad mehr und ihr Nacken kribbelt unangenehm. Warum führt er sie in diesen unglaublich tiefen Wald? So stellt sie sich einen Märchenwald vor. Auf einmal erscheinen ihr die Bäume mit ihren krummen Ästen bösartig, Zweige schnippen ihr ins Gesicht. Mitten aus dem Gebüsch ragt ein Hexenhaus auf! Katharina schlägt die Hände vor den Mund, um nicht laut loszuschreien. Sie hätte zu Hause bleiben sollen! Das ist nicht ihre Welt!

***

Sie erwacht, weil sie am ganzen Körper zittert. Was für ein Traum! Er hat sich so echt angefühlt! Im Zimmer herrscht Dunkelheit, das Handy-Display zeigt 3:40 Uhr. Plötzlich weiß Katharina, dass sie all das einmal tatsächlich erlebt hat. Deshalb kam ihr Johann von Rowenstein bekannt vor, denn er war dieser Junge! Darum konnte sie seine Sprache verstehen!

Katharina sitzt jetzt kerzengerade im Bett, ihr Herz schlägt heftig. Warum nur ist ihr das alles entfallen? Wieso hat sie bis heute nie wieder daran gedacht?

Angestrengt durchkämmt sie ihr Gedächtnis nach Kindheitserinnerungen. Unzählige Ferienwochen hat sie hier bei Edi verbracht, weil ihre Mutter über nicht so viele Urlaubstage verfügt wie es Schulferien gibt. Frei und sich selbst überlassen hat Edi sie die Gegend erkunden lassen. Nur einmal, da war sie neun Jahre alt gewesen, musste sie tagelang mit einem heftigen Fieber im Bett bleiben. Die schlimmsten Albträume hätten sie damals verfolgt, erzählte Edi ihr später.

Katharina spürt, wie Steine ins Rollen kommen – als hätten sie jahrelang einen Weg zu ihrer Erinnerung verstellt und gäben diesen nun ächzend frei. Deutlich steht jetzt die eben erlebte Szene vor ihrem inneren Auge. Unzählige vergessene Wörter überschwemmen ihr Bewusstsein wie ein reißender Strom. Sie fühlt sich beinahe, als sei sie erneut Kind und stünde mit Johann in diesem Märchenwald. Ihr fällt sogar ihre Unterhaltung wieder ganz genau ein:

»Wenn dich jemand fragt, sagst du einfach: Ich heiße Melchior und wohne in der alten Hütte im Wald. Allein.«

»Warum Melchior?«, wollte sie wissen. Der Klang seines Lachens sorgte dafür, dass sie sich ein bisschen weniger fürchtete.

Er sagte nur: »Das ist ein gewöhnlicher Name. Darum.«

Diesen Satz ließ er sie so oft wiederholen, bis er mit ihrer Aussprache zufrieden war. Dann erst durfte sie die Enge des Hexenhauses wieder verlassen.

Lindenherz

Подняться наверх