Читать книгу Lindenherz - Tala T. Alsted - Страница 13

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In nur wenigen Stunden muss sie wieder nach Hause fahren. Nur noch ein Wochenende, dann enden die Ferien. In der vergangenen Woche hat Katharina zwei Romane gelesen und drei Blogposts dazu verfasst. Zurück bleibt das Gefühl, dass die fiktive Literatur ihr keinesfalls weiterhelfen konnte.

Die Euphorie und die Endorphine nach dem Schwimmbad-Besuch verfliegen immer mehr, denn Johann ist nicht noch einmal vorbeigekommen. Katharina läuft in ihrem Zimmer auf und ab, kaut dabei auf der Unterlippe. Ist sie zu impulsiv gewesen, zu forsch, zu hastig und jetzt bereut Johann es, sie geküsst zu haben? Womöglich hält er ihre Beziehung für aussichtslos und besucht sie deshalb nicht mehr? Aber dann würde er ihr das doch sagen, oder?

Das Zimmer ist zu klein. Vom Lesesessel zum Bett und zurück benötigt sie nur wenige Schritte. Ständig wendet Katharina, um den Weg von vorn zu beginnen. Dann trifft sie eine Entscheidung. Dieses Gefühl der Unwissenheit findet sie unerträglich – sie braucht Klarheit.

Deshalb holt sie noch einmal die graue Leinenbluse und die Leggins hervor, für die sie in der oberen Schublade direkt unterhalb des Spiegels im Nebenzimmer einen gut versteckten Platz gefunden hat. Denn Edi betritt diesen Raum so gut wie nie und wird dort sicher nicht zufällig darauf stoßen. In ihrem Kopf hallen Edis Ermahnungen und Johanns besorgte Stimme, aber davon kann sie sich jetzt nicht aufhalten lassen. Sie spannt die Muskeln und geht dicht an den Spiegel heran.

Einen Herzschlag später wartet Katharina im Inneren des Baumes, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Dann späht sie vorsichtig dort hinaus, wo sich die braun verfärbten Blätter im Wind wiegen. Nach ein paar Schritten bleibt sie gleich wieder stehen, weil sie das Gefühl beschleicht, man könne das Rascheln der Herbstblätter kilometerweit hören. Sie lauscht, doch der Wald liegt weiterhin still vor ihr.

Als sie das nächste Mal anhält, um sich umzuhören, stellen sich augenblicklich ihre Nackenhaare auf. Was ist das für ein Geräusch? Sind das nicht Hufgeklapper und die schimpfende Stimme eines Mannes? Ganz in ihrer Nähe kommt ein struppiger grauer Esel zum Stehen und sieht sich gehetzt um.

»Halt ihn fest, Junge!«, brüllt ein Mann, der keuchend auf sie zuläuft. Katharina versteht erst mit Sekunden Verspätung, dass er sie meint. Was kann sie tun? Der Esel scheint gerade abzuwägen, wohin er flüchten soll. Ohne weiter nachzudenken, greift sie den herunterhängenden Zügel und bemüht sich, besänftigend auf das Tier einzureden. Sie murmelt leise Worte.

Als der Mann auf sie zukommt, zittern Katharinas Hände ähnlich heftig wie die Nüstern des Tiers, dessen Zügel sie umklammert. Ihr Gemurmel kann nicht einmal sie selbst beruhigen! Sie sollte schleunigst wieder von hier verschwinden! Trotzdem hält sie den Ledergurt etwas fester, als der Esel unruhig daran zerrt.

»Ah, sehr gut, du hast ihn erwischt!«, schnauft der Mann. Tiefe, dunkle Falten umrahmen seine Augen. »Er ist mir weggelaufen, der Riemen ist geplatzt!« Mit einer unwirschen Handbewegung winkt er ihr, ihm zu folgen.

Zögernd läuft sie neben dem Mann her, der inzwischen ebenfalls am Zaumzeug des Tieres zerrt, in die Richtung, in die er zeigt. Dort lichtet sich der Wald und sie erreichen gleich darauf einen holprigen, ausgetretenen Weg, wo ein Holzkarren steht, der einen zeltartigen, grauen Aufbau besitzt. Den Esel dirigiert der Mann zwischen zwei Holzstangen, die an einem Lederriemen befestigt werden müssen, der sich um den Bauch des Tieres spannt. Weil der aber kaputt ist, bittet der Fremde sie, den Esel festzuhalten, während er versucht, den Riemen provisorisch wieder zu reparieren. Wenige Minuten später hält er notdürftig, doch es wird nach Ansicht des Mannes nicht ausreichen, um den Berg hinauf zu gelangen. Mit einem tiefen Seufzen läuft er einmal um das Gefährt herum. Er wirft Katharina einen langen Blick zu.

»Du siehst zwar keineswegs kräftig aus, aber wenn du mir hilfst, den Wagen den Berg hinauf zu bringen, geb ich dir einen halben Pfennig.«

Katharina knotet die Hände, während sie nach einer Ausrede sucht, was der Mann prompt falsch versteht.

»Gut, einen ganzen Pfennig! Aber keinen mehr!«, brummt er.

Katharina hält nichts von dieser Idee, doch sie will auch nicht unhöflich sein. Deshalb nickt sie. Der Fremde weist sie an, sich hinter den Wagen zu stellen, um zu schieben. Er selbst hält vorn das Geschirr des Esels, während dieser ziehen muss. Rumpelnd kommt der Karren in Bewegung. Katharina presst mit all ihrer Kraft. An jedem größeren Stein verfangen sich die hölzernen Räder des Wagens und sie zerren und drücken zu dritt, um weiterzukommen. Der Weg windet sich immer steiler den Berg hinauf, sodass Katharina bald trotz der herbstlichen Kühle Schweißtropfen auf der Stirn stehen. Worauf hat sie sich nur eingelassen? Sollten ihr die Kräfte ausgehen, überrollt sie der Wagen rückwärts!

Plötzlich rumpeln die Räder über Holzplanken. Katharina sieht, wie tief es zwischen den Brettern hinuntergeht. Die Zugbrücke! Sie fahren direkt auf das Burgtor zu! Ihr Begleiter erklärt der Wache, er wolle als Händler in der Burg seine Ware anbieten und bei der Gelegenheit gleich seinen Karren reparieren lassen. Er bringe Gewürze und Stoffe aus fernen Ländern, aber auch köstlichen fränkischen Wein, hört sie ihn sagen. Die Wache winkt ihn freudig durch, denn wie es scheint, kommt er öfter nach Grünfels.

»Darf ich jetzt wieder gehen?«, fragt Katharina und schaut um den Wagen herum.

»Ach komm schon, Junge, hilf mir noch meinen Karren hinauf in die Burg zu bringen, das letzte Stück ist das schwerste!«

Katharina nickt seufzend. Knarrend setzt sich der Wagen erneut in Bewegung und sie schiebt so fest sie noch kann. Sie manövrieren durch ein enges, dunkles Torhaus. Den Boden bedeckt übelriechender Matsch, auf dem sie immer wieder ausgleiten und nur mühsam vorankommen. Katharina schaut nach unten auf ihre völlig mit Schlamm beschmierten, schwarzen Turnschuhe, die als solche überhaupt nicht mehr zu erkennen sind. Während sie schwitzend und keuchend anschiebt, versucht sie den ekelerregenden Gestank zu ignorieren. Als sie mit dem Schuh gegen den weißen Schädelknochen eines Tiers stößt, der unter dem ausgelegten Stroh lag, fällt es ihr schwer, ein Würgen zurückzuhalten. Der Weg führt immer rechtsdrehend an der Mauer entlang auf ein zweites Tor zu.

Aus dem Augenwinkel bemerkt Katharina Leute, die sie beäugen. Vielleicht fahren nicht jeden Tag Wagen in die Burg hinein. Eine Frau, die einen Korb mit Rüben schleppt, grüßt den Händler freundlich. Ein kleines Mädchen scheucht ein Huhn quer durch den Hof. Das zweite Burgtor verfügt über ein pechschwarzes Fallgitter, das Angreifern im Notfall den Weg versperren kann. Katharina blickt besorgt nach oben, bis sie hindurch sind. Als sie auf dem Burghof anlangen, fühlt sie sich wohler. Der ist eng und über allem ragt der eckige graue Turm, den sie von weitem gesehen hat. Er steht frei im Hof und scheint keinen Eingang, sondern nur ein Fenster in luftiger Höhe zu besitzen.

»Hier können wir bleiben«, sagt der Kaufmann, der plötzlich neben ihr auftaucht und ihr eine kleine, flache Silbermünze in die Hand drückt.

»Danke, Herr«, stammelt Katharina.

»Schon gut, ich heiße übrigens Kurt Fuhrmann.« Er klopft ihr auf die Schulter und wendet sich gleich darauf einem Mann zu, der neben sie getreten ist. Als Katharina ihn anschaut, stolpert sie einen Schritt nach hinten, denn seine Ausstrahlung zeigt deutlich, dass er hier das Sagen hat. Das muss Ludowig von Grünfels sein! Einen Moment steht sie wie erstarrt, bis ihr auffällt, dass der Burgherr ihr keine Beachtung schenkt. Natürlich, sie sieht aus wie irgendein Bauernjunge. Sie muss die Chance nutzen, um unauffällig zu verschwinden!

Überall stehen Leute, die mit ihrer Arbeit innehalten und den Neuankömmling begrüßen. Sicherlich bringt er interessante Dinge aus fremden Gegenden mit. Auf alle Fälle gibt es Neuigkeiten zu erfahren. Sogar aus dem Fenster eines großen Hauses schauen einige Burgbewohner hinab in den Hof.

Katharina wendet sich um und prallt direkt gegen eine harte Brust. Zwei Hände packen sie an den Schultern und sie fühlt förmlich wie ihr die Haare zu Berge stehen.

»Was machst du hier?«, stößt Johann gefährlich leise hervor. Als sie ihn erkennt, erfüllt sie Erleichterung, obwohl seine Hände sie immer noch schmerzhaft fest umklammern.

»Au, du tust mir weh«, zischt sie leise. »Ich wollte soeben nach Hause, lass mich gehen!«

Johann sieht sich hektisch um. Der Fuhrmann öffnet in diesem Augenblick seine Wagenplane und im Handumdrehen klappt ein kleiner Marktstand auf. Da dreht Johann sie um und stößt sie unsanft in den Rücken. Katharina wäre auch ohne seinen Schubs auf das Burgtor zugeeilt. Sie kommt sich vor wie eine Gefangene, die er abführt! Mit schmalen Lippen geht sie eilig den Berg hinab bis sie die Zugbrücke erreicht. Johann läuft jetzt neben ihr. Er nickt der Wache kurz zu und eskortiert sie dann mit grimmigem Gesichtsausdruck den Burgberg hinunter.

Als sie außer Sichtweite des Wachmanns kommen, packt Johann Katharinas Arm, zieht sie ins Gebüsch und von dort aus quer durch den Herbstwald. Sie will sich losreißen, aber er umfasst ihren Oberarm mit hartem Griff.

»Das tut weh!«, schimpft sie.

Endlich hält Johann an. Dichte Sträucher und hohe Baumstämme umzingeln sie. Die Linde sieht Katharina nicht.

Johann atmet schwer – er scheint noch wütender zu sein, als bei ihrem letzten Besuch in seiner Zeit. Beinahe bekommt Katharina Angst vor ihm. Sie versucht ein weiteres Mal, sich aus seinem Griff zu befreien. Da schiebt er sie gegen einen Baumstamm, der hinter ihr steht.

»Was wolltest du oben in der Burg?«, verhört er sie mit bedrohlich leiser Stimme, sodass sie sich spätestens jetzt vorkommt wie ein Schwerverbrecher. »Warum kannst du nie machen, was man dir sagt? Du hattest versprochen, nicht wieder allein in den Wald zu gehen!« Johanns Gesicht hängt direkt vor ihrem, die Karamellaugen blitzen wütend. Katharina hält seinem Blick Stand.

»Das war keine Absicht«, setzt sie zu einer Erklärung an.

»Das ist gefährlich!«, unterbricht er sie harsch.

»Ich hab das nicht so geplant«, erwidert sie in ruhigem Tonfall. Nie und nimmer wird sie ihm zeigen, wie sehr er ihr in diesem Moment Angst einjagt! »Lass mich endlich los! Hör auf, mir weh zu tun!«

Das Zittern ihrer Stimme verrät sie und Katharina hasst sich dafür. Sie will nicht wie ein weinerliches Mädchen dastehen! Verblüfft registriert sie jedoch die Wirkung auf Johann. Denn endlich lässt er sie los.

»Ich hab mir Sorgen um dich gemacht!«, stößt er hervor. Sie kann zusehen, wie seine Wut verpufft. Er blinzelt mehrmals und schaut an ihr vorbei. Katharina reibt sich die schmerzende Haut. Das wird blaue Flecken geben. Betroffen sieht sie zu Boden.

»Ich weiß, es war falsch, auf eigene Faust loszugehen, als du nicht gekommen bist«, sagt sie versöhnlich.

»Du hast meine Nachricht übersehen?«, fragt Johann. Dabei streicht er ihr jetzt sanft über die Oberarme, wie um seinen Wutanfall wieder gut zu machen. Katharina runzelt die Stirn.

»Ich hab dir eine Botschaft auf einen flachen Stein geschrieben. Ich kann dich zurzeit nicht mehr besuchen. Letztens habe ich richtig Ärger gekriegt, nachdem ich so lange weg war und bald erwartet man den Burggrafen. Alle sollen bei den Vorbereitungen helfen … Ich muss auch gleich wieder hin …«

Katharinas Hals fühlt sich auf einmal trocken an. Ihrer Irritation über Johanns Verhalten folgt Enttäuschung.

»Dann sehen wir uns erst in meinen Weihnachtsferien?«, flüstert sie.

»Ich hoffe es«, gibt Johann zurück. »Das kommt auf das Wetter an und darauf, welche Ausreden ich finden kann …«

Eine Weile sagen sie beide nichts. Sie stehen nur stumm dicht beieinander. Vorsichtig schlingt Johann die Arme um Katharinas Rücken und hält sie so. Sie drückt das Gesicht an seinen Hals, während ihr Herz rast.

»Entschuldige meine Grobheit«, bringt Johann schließlich kleinlaut hervor. Katharina seufzt nur und erzählt ihm doch noch, wie es zu ihrem ungeplanten Ausflug in die Burg gekommen ist.

»Ich glaube, es wäre besser, wenn niemand dich zu Gesicht bekommt«, erklärt Johann. »Sonst fangen die Leute an, Fragen zu stellen, finden ganz schnell das Geheimnis heraus … Außerdem siehst du nicht aus wie ein richtiger Bauernjunge. Lange werden sie sich nicht von Kleidern täuschen lassen.«

Sie schweigen beide. Katharina umklammert Johann fest, bis er sich nach einigen Augenblicken behutsam von ihr löst.

»Komm, ich bring dich zurück zu unserem Baum«, sagt er und nimmt ihre Hand. Das fühlt sich so tröstend an. Katharinas Nase fängt an zu jucken beim Gedanken daran, dass sie ihn auf unbestimmte Zeit nicht sehen wird. Auf den letzten Metern hält Johann noch einmal inne, um konzentriert auf die Geräusche des Waldes zu lauschen.

Lange warten sie bewegungslos, bevor sie leise hinüber in den hohlen Baumstamm huschen. Die Dunkelheit im Stamm umschließt sie, auch draußen beginnt es bereits zu dämmern. Katharina bemerkt, wie kühl es geworden ist. Johann hebt einen flachen Schieferstein auf, den er ihr in die Hand drückt.

»Pass gut auf dich auf«, bittet er. »Komm auf keinen Fall mehr ohne mich hierher!«

Katharina nickt. Das soeben Erlebte ist für ihren Geschmack spannend genug gewesen. Johann atmet erleichtert auf, so als habe er die Luft angehalten.

»Du wirst mir fehlen«, sagt er leise. Katharina bringt kein Wort hervor, ihre Kehle fühlt sich zu trocken an. Da spürt sie, wie sein Mund ihren berührt. Vielleicht lässt ihn das Halbdunkel der Baumhöhle mutiger werden, denn seine Hände streichen durch ihre Locken und seine Zunge drängt sich zwischen ihre Lippen. Ganz automatisch öffnet sie den Mund. Erschreckt und fasziniert zugleich spürt sie, wie ihre Zungen sich berühren. Das fühlt sich weich an, so ungewohnt und aufregend! Augenblicklich verfliegt die Kälte. Katharinas Atem geht rasend schnell.

»Ich muss los!«, keucht Johann und taumelt einen Schritt zurück. »Entschuldige!«, stammelt er, »Ich … äh …«

»Alles gut«, unterbricht ihn Katharina schmunzelnd. »Ich fand es toll!«

Mit einem verwunderten Gesichtsausdruck lächelt Johann sie noch einen Moment lang an, bevor er sich verabschiedet und im Laufschritt zurück zur Burg eilt.

Als Katharina ihn nicht mehr sehen kann, gleitet ihr Blick an ihrem Körper hinunter und bleibt dann auf dem flachen Stein in ihrer Hand hängen. Drüben sperrt sie ihr Zimmer ab und schaltet das Licht ein, denn nur noch wenig Tageslicht fällt zum Fenster herein. Dann betrachtet sie das dunkle Schieferbruchstück genau. In holprigen, winzig kleinen Buchstaben steht darauf in ihrer Sprache, wenn auch in fehlerhafter Rechtschreibung: »Treffen in den nächsten Tagen unmöglich. Such mich nicht. Ich hab dich gern.«

Katharinas Herz stolpert beinahe ob der zaghaften, auf Schieferstein geritzten Liebeserklärung. Ein flüchtiges Medium! Sie nimmt sich fest vor, ab jetzt besser auf eventuelle Nachrichten zu achten. Andererseits – wenn sie diesen Stein gefunden hätte, wäre sie nicht in den Wald gelaufen, hätte nicht den Kaufmann in die Burg begleitet, dort nicht Johann getroffen und er sie nicht geküsst. Ihr Magen scheint sich zu drehen. Was soll sie nur tun? Diese Verliebtheit wird Schwierigkeiten bringen.

Katharina wickelt den Stein in ein Stück Papier und verschließt das kleine Päckchen mit Klebestreifen. Dann verstaut sie es in ihrem Rucksack. Dazu legt sie sorgsam Kurt Fuhrmanns Münze.

***

Kaum hat Katharina sich umgezogen und ihre improvisierte Verkleidung im Schrank verstaut, betritt Edi nach einem kurzen Klopfen das Zimmer.

»Hier bist du ja – ich hab dich überall gesucht!«, sagt sie und sinkt in den Ohrensessel. Augenblicklich fühlt sich Katharina ertappt. Ihre Oma kann ihr die Gefühle wahrscheinlich von der Stirn ablesen, denn prompt stellt sie fest:

»Du bist durch den Spiegel gegangen!«

Edis Blick ruht auf dem Schlüssel, der immer noch auf der Bettdecke liegt. Katharina schluckt hart – alles abzustreiten ist unmöglich! Sie öffnet den Mund, schließt ihn jedoch gleich wieder. Natürlich hat sie Edi ein Versprechen gegeben. Aber andererseits ist Edi ihr wichtige Antworten schuldig geblieben!

»Erzähl mir mehr über den Spiegel!«, tritt sie aus einem Impuls heraus die Flucht nach vorn an. »Wie geht das? Was ist das für ein Wald?«

Edi sieht sie lange an – beinahe resigniert, wie Katharina scheint.

»Ein gefährlicher Ort, das hab ich dir doch bereits gesagt!«, gibt sie schließlich zurück. Ihre Stimme klingt dabei strenger als gewöhnlich. »Ich weiß nicht, wie es genau funktioniert, aber es liegt weder am Spiegel noch am Schrank. Einmal hab ich ihn nämlich mit viel Mühe an eine andere Stelle geschoben …«

Edi dreht ihren Kopf zur Wand, als könne sie direkt hindurch in den Nebenraum sehen, wo der große Kleiderschrank mit dem ovalen Spiegel steht. Katharina wartet, ob Edi weiterspricht. Doch dann hält sie es nicht mehr aus: »Und was ist passiert?«

Edi schreckt auf, als habe Katharina ihre Gedanken gestört. »Nichts!«, gibt sie zurück. »Der Wald im Spiegel war verschwunden. Auch Hindurchgehen klappte nicht. Aber wenn ich an die Stelle trat, wo sich der Spiegel vorher befunden hatte, stolperte ich völlig unerwartet in die fremde Zeit. Deswegen hab ich den Schrank zurückgeschoben, denn normalerweise kommt niemand auf die Idee, direkt in ein Möbelstück hineinzulaufen. So ist es ungefährlicher!«

Katharina ordnet mit unruhigen Fingern die Bettdecke, während sie über Edis Worte nachdenkt. Wenn sie es richtig versteht, bedeuten sie, dass nicht der Spiegel oder der Schrank besonders sind, sondern der Ort! Als sie wieder aufsieht, begegnet sie Edis eindringlichem Blick, in dem sie echte Besorgnis erkennt.

»Katharina«, beginnt Edi. Sie verzieht das Gesicht bis ihre Stirn viel stärker als sonst in Falten liegt. »Johann und du, ihr habt das Geheimnis bisher gut gehütet. Aber was glaubst du, geschieht, wenn jemand euch beobachtet und folgt? Was, wenn noch mehr Leute herausfinden, dass es hier ein Schlupfloch in eine andere Zeit gibt, die ihnen womöglich besser gefällt als die eigene? Was für Konsequenzen hat es, wenn jemand moderne Gerätschaften dorthin bringt und dadurch den Lauf der Geschichte ändert?«

Ein unglaublicher Gedanke! Mit einem Schlag begreift Katharina, wie oft sich Edi bereits mit diesen Fragen gequält haben muss – auf keinen Fall erst seit Johann und sie den »Durchgang« kannten! Die Vorstellung von einer Gruppe bewaffneter Krieger, die durch den Spiegel ins Zimmer dringt, lässt sie erschaudern.

Ihre Überlegungen finden zu Edis Worten zurück. Wieder denkt sie darüber nach, wie eine solche Freundschaft wie die zwischen Johann und ihr weitergehen soll. Sicher können sie nicht ewig durch den Spiegel reisen, so als sei das der Linienbus in die nächstgrößere Stadt, wo ein guter Bekannter wohnt. Oder vielleicht doch? Es scheint zumindest keine Nebenwirkungen zu geben, sie fühlt sich wie immer.

Als habe Edi ihre Gedanken erraten, spricht sie weiter: »Ich kannte einmal jemanden, den ich sehr mochte. Er fand diese fremde Welt so faszinierend, so viel besser und schöner …«

Edi stockt. Katharina ahnt, dass sie Bilder aus längst vergangenen Zeiten sieht.

»Und was passierte dann?«, hakt sie leise nach. Dabei richten sich ohne ihr Zutun die kleinen Härchen auf ihrem Unterarm auf. Lange erwidert Edi nichts und Katharina glaubt schon, sie hätte die Frage überhört. Doch dann sagt Edi:

»Er hat sich verändert, sein Wissen missbraucht, ist größenwahnsinnig geworden … Man darf die Welten nicht vermischen. Es führt zu nichts Gutem. Du musst mir vertrauen!«

Katharina schluckt und schaut lange in Edis durchdringend blickende Augen. Erst als sie aus dem Erdgeschoss Gabriele nach ihnen rufen hören, blickt sie weg. Die Chance, weitere Fragen zu stellen, ist verstrichen.

***

»Ach da seid ihr!«, ruft Katharinas Mutter. Sie wedelt mit zwei Plastiktüten, aus denen ein unverkennbarer Duft nach asiatischem Essen dringt: »Ich habe gleich was zum Abendessen mitgebracht!«

Gabriele strahlt übers ganze Gesicht und ignoriert dabei Edis Augenrollen, denn die hält in Unmengen von Plastik und Styropor verpacktes Essen für überflüssig. Trotzdem nickt Edi ihrer Tochter würdevoll zu, während sie in die Küche voran geht, um Teller und Besteck aus dem Schrank zu nehmen.

»Die nächsten zwei Tage hab ich frei«, verkündet Gabriele, was ihren gelösten Gesichtsausdruck erklärt. »Wir schlafen aus! Und wir könnten ins Kino gehen oder was anderes unternehmen!«

Katharina nickt freudig, denn für gewöhnlich arbeitet ihre Mutter zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten. Heute haftet ein Lächeln wie festgeklebt in ihrem Gesicht, Katharina ahnt, dass noch mehr dahintersteckt. Tatsächlich sagt Gabriele, als alle am Tisch sitzen, feierlich: »Ich hab uns eine Reise gebucht! Drei Tage, nur wir drei!«

Edi sieht genauso überrascht aus wie Katharina sich fühlt. Gespannt hängen sie beide an Gabrieles Lippen. »Natürlich nicht sofort – aber zu Beginn der Weihnachtsferien: Weihnachtsmarkt, Glühwein und ein Luxushotel! Warum schaut ihr so bestürzt? Gönnt mir die Freude, denn ich hab dann an den Weihnachtsfeiertagen wieder Dienst.«

Edi lächelt, während sie nach der schweren Keramikkanne greift, um Tee auszuschenken. »Und wohin geht es?«

»Mainz!«, antwortet Gabriele. Mit spitzen Fingern öffnet sie eine der Verpackungen, um sich Nudeln auf den Teller zu laden. »Im Harz war alles ausgebucht und in Nürnberg auch. Das wird meine erste Reise nach Mainz, ich hab schon recherchiert: Für euch gibt es ein paar interessante Ausstellungen und tolle Buchläden und für mich einen riesigen, weihnachtlichen Markt!«

»Eine hervorragende Idee!«, ruft Edi und ihre Augen leuchten warm. »Ein Ausflug zu dritt ist schon längst wieder fällig!«

Katharina fühlt, wie die Begeisterung der beiden sogleich auf sie überspringt.

Eine Zeit lang plaudern sie fröhlich über die Reiseplanung, auch wenn es noch gut einen Monat dauern wird, bis sie losfahren. Katharina schmecken die Frühlingsrollen gleich doppelt gut.

Doch nach einer Weile kehren ihre Gedanken von ganz allein wieder zu Johanns Sorge um sie und zu Edis Warnung zurück. Sie sollte sich besser vorbereiten auf eventuelle Gefahren! Zurzeit geht sie nur reiten, wenn sie Edi besucht, aber sie ist recht sportlich. Mehr Kraft wäre von Vorteil, damit sie sich sicherer fühlt. Auch Edi könnte ein wenig beruhigt sein. Außerdem muss sich Johann dann nicht mehr wie ihr Bodyguard aufführen, wenn er erst einmal begreift, dass sie gut alleine zurechtkommt. Aber stumpfes Krafttraining im Fitnessstudio findet sie wenig verlockend und sie will schließlich kein Bodybuilder werden. Katharina muss selbst schmunzeln bei der Vorstellung.

Ihre Mutter bemerkt ihr Lächeln sofort. »Hast du auch gute Neuigkeiten?«, fragt sie.

Katharina spürt, wie ihre Wangen etwas wärmer werden. »Ich hab mir nur soeben überlegt, dass ich Kampfsport lernen möchte.«

Jetzt genießt sie die volle Aufmerksamkeit der beiden Frauen. »Kampfsport? Ist das denn was für Mädchen?«, fragt Edi mit gerunzelter Stirn.

»Hat dich jemand bedroht?«, erkundigt sich Gabriele besorgt.

»Nein«, beschwichtigt Katharina sie. »Aber für ein Mädchen ist es doch nicht schlecht, sich selbst verteidigen zu können! Und ich hab Lust dazu! Ich schau gleich nach, wo es in der Stadt eine Kampfsportschule gibt!«

Sie ignoriert Edis nachdenklichen Blick und zieht ihr Smartphone aus der Hosentasche, um die Suchmaschine zu befragen. Im Handumdrehen entdeckt sie mehrere Kurse, einer heißt direkt »Selbstverteidigung für Mädchen« und findet in einem Kampfsport-Klub im benachbarten Stadtteil statt. In der Beschreibung steht, dass man durch Fall-, Ausweich- und Abwehrtechniken sogar erlernen kann, einen Gegner zu entwaffnen. Katharina nickt begeistert. »Das hier will ich ausprobieren!«, sagt sie und hält Gabriele ihr Handy unter die Nase.

»Klingt nicht übel«, bemerkt die, nachdem sie die Kursbeschreibung überflogen hat. Katharina drückt ihr ein Küsschen auf die Wange und füllt mit flinken Fingern das digitale Anmeldeformular aus. Als sie auf »Senden« tippt, legt sich ein zufriedenes Lächeln auf ihre Lippen.

Lindenherz

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