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Katharina klappt das Buch zu, in dem sie in den letzten drei Stunden gelesen hat, während Gabriele, Edi und sie in gleichmäßigem Tempo über die Autobahn rollen. Inzwischen dämmert es und sie kann die Buchstaben kaum noch erkennen.

In den vergangenen Wochen hat Katharina etliche Romane gelesen, in denen die jeweiligen Protagonisten auf die unterschiedlichsten Arten in die Zukunft oder Vergangenheit gelangten: Ganz klassisch per Zeitmaschine, mit Hilfe eines magischen Elixiers oder eher zufällig durch geheimnisvolle Steinkreise, Bäume oder Türen. Alternativ besitzen die Zeitreisenden ein Gen, eine Krankheit, einen Fluch oder eine Gabe, die das Unmögliche möglich machen. Aber keines der Szenarien will so recht zu ihrer Situation passen.

Dafür beschäftigen sie und Sarah sich jetzt ausführlich mit dem Zeitreisen. Denn nachdem Katharina begonnen hat, in ihrem gemeinsamen Blog einen Science-Fiction-Roman nach dem anderen zu rezensieren, weckte das auch Sarahs Neugier. Interessiert ein Thema Sarah erst einmal, lässt es sie nicht wieder los, selbst wenn sie frisch verliebt ist.

Mittlerweile hat Katharina Kilian persönlich kennengelernt, denn er verbringt etliche Nachmittage bei Sarah. Zeitweise kann sie die Nähe des händchenhaltenden Paars kaum ertragen. Ein bisschen beneidet Katharina ihre Freundin auch, weil sie es mit einem ganz normalen Freund so viel einfacher hat als Katharina mit Johann. Kilian ist nie um eine lustige Bemerkung oder eine ergänzende Information verlegen. Selbst zum Zeitreise-Thema kann er etwas beisteuern.

Erst vor ein paar Tagen hat er ihnen einen Artikel ausgedruckt, in dem es um verschiedene wissenschaftliche Theorien zur Möglichkeit von Zeitreisen durch so genannte »Wurmlöcher« geht. Solche Löcher in Zeit und Raum tauchen in einigen von Katharinas Romanen auf. Meist flechten die Autoren die physikalischen Begründungen in pseudowissenschaftlicher Manier ein, andere verzichten völlig auf eine Erklärung des übernatürlichen Geschehens. Doch diesmal hat Katharina bei der Lektüre regelrecht eine Gänsehaut bekommen.

Denn es geht um eine Theorie darüber, wie Reisen durch die Zeit mit Hilfe von zwei schwarzen Löchern funktionieren könnten. Immer wieder liest sie den Abschnitt, den Sarah neongelb markiert hat: »2016 zeigten Wissenschaftler, dass passierbare Wurmlöcher theoretisch möglich sind: Die nötige abstoßende negative Energie an den Eingängen eines Wurmlochs kann von außen durch spezielle Quantenverbindungen zwischen zwei schwarzen Löchern, die das Wurmloch bilden, erzeugt werden. Wenn diese beiden Löcher auf eine bestimmte Weise verbunden sind, dann bewegt sich ein Objekt, das in eines der Löcher hineinfällt, durch das Wurmloch hindurch. Es kann – mit Hilfe besonderer Ereignisse im äußeren Universum – aus dem zweiten schwarzen Loch wieder austreten.« Die Sätze wühlen Katharina auf. Die Rede ist von einer prinzipiell möglichen Abkürzung, einer Brücke durch die Raumzeit! Vieles von dem Text versteht sie überhaupt nicht. Sie ist kein Physik-Genie – manche Fachbegriffe und Gedankengänge scheinen augenblicklich für Knoten in ihren Hirnwindungen zu sorgen. Sind es solche Wurmlöcher, die Besuche in Johanns Zeit ermöglichen? Der Text erwähnt verschiedene Theorien, Einschränkungen und Probleme, die es ihr am Ende unmöglich machen, zu beurteilen, inwiefern das alles zu ihren Erlebnissen passt. Aber die Tatsache, dass selbst anerkannte Wissenschaftler Zeitreisen für möglich halten, elektrisiert Katharina. Selbst wenn ihre Zeitreise vermutlich anders funktioniert, gibt es ihr doch das Gefühl, nicht verrückt zu sein.

Inzwischen umgibt sie völlige Dunkelheit. Die Lichter der Fahrzeuge auf der gegenüberliegenden Autobahnseite blenden sie. Katharina beschließt, dass sie gar nicht verstehen muss, wie und warum es funktioniert. Da sich seit Jahrzehnten nichts an der Verbindung geändert zu haben scheint, dürfte der Weg zwischen ihrer und Johanns Zeit keinesfalls von heute auf morgen verschwinden.

»In 500 Metern nehmen Sie die Ausfahrt«, unterbricht die strenge Stimme des Navigationssystems Katharinas Gedanken. Ein erwartungsvolles Beben breitet sich in ihrem Körper aus. Bald erreichen sie Mainz!

***

Das Wetter zeigt sich wenig weihnachtlich. Dichte graue Wolken hängen tief über dem Rhein, an dessen Ufer entlang sie am nächsten Vormittag in Richtung Stadtzentrum schlendern. Fasziniert betrachtet Katharina die Reste eines römischen Theaters und eine riesige Festungsanlage am Berghang, die sich in die moderne Architektur der letzten 2000 Jahre einpassen muss. Weder die kalte Luft noch der längere Spaziergang stören Katharina, denn sie läuft mit federnden Schritten zwischen ihrer Mutter und Edi – diese Zeit zu dritt ist zu selten geworden.

Der Weihnachtsmarkt durchzieht die gesamte Altstadt, wo sich Menschenmassen mit Einkaufstüten oder Glühweinbechern durch verwinkelte Gassen schieben. An jeder Kreuzung gibt es einen kleinen, von hübschen Fachwerkhäusern umrahmten Platz, über den der Duft von Süßem oder Gebratenem weht. Katharina atmet tief die Luft ein.

»So hab ich mir das vorgestellt! Wartet, ich kauf uns einen heißen Punsch!«, ruft Gabriele ihnen über die Schulter zu, als sie bereits auf eine der vielen Verkaufsbuden zugeht.

»Bring uns gebrannte Mandeln mit!«, schreit Edi ihr nach. Katharina lacht, weil Edi immer Süßigkeiten in ihrer Nähe braucht.

Die nächste Stunde vergeht beinahe unbemerkt, so sehr fesseln die verschiedenen Stände Katharinas Aufmerksamkeit. Auf dem Marktplatz überragt die gewaltige Domkirche einen riesigen, glitzernden Weihnachtsbaum.

»Kommt, den Dom müsst ihr gesehen haben«, bestimmt Edi und hakt sich bei Katharina unter. Zielstrebig von einer Marktseite auf die andere zu gelangen, gestaltet sich als nicht so einfach. Aber schließlich stehen sie vor einem schweren Portal, das in die Kathedrale führt. Sobald sie die steinerne Halle betreten, umschließt sie trotz der vielen anderen Besucher eine angenehme Stille. Dicke Säulen aus hellem Stein schrauben sich hinauf zur Gewölbedecke und eine Weile sitzen sie zu dritt still nebeneinander in einer der hölzernen Bankreihen. Katharina blickt nach oben, wo durch Bogenfenster Licht hereinfällt. Ein kleines Faltblatt erzählt davon, wie man mit dem Bau des Doms bereits Ende des 10. Jahrhunderts begonnen hat – ungefähr 200 Jahre bevor Johann geboren wurde. Die unvorstellbar lange Geschichte, die sie in diesem Raum umgibt, weckt ein aufgeregtes Kribbeln in Katharinas Brust. Sie betrachtet die architektonischen Details genauer und versucht sich vorzustellen, wie viele Menschen vor ihr das ebenso getan haben.

Nach einer Weile richtet sich Gabriele auf.

»Was haltet ihr davon, wenn ich mir ein paar der schönen Läden ansehe und wir uns um eins an der Weihnachtskrippe vor dem Dom treffen?«, schlägt sie vor, während sie bereits den korrekten Sitz ihres Mantels kontrolliert. Edi und Katharina stimmen gleichzeitig zu.

»Siehst du dir mit mir das Dommuseum an?«, fragt Edi und Katharina nickt wieder. Sie hat sich schon immer für vergangene Zeiten interessiert – und die Begegnung mit Johann in den Herbstferien hat dieses Interesse noch einmal zusätzlich angestachelt. Edi lächelt sie an und drückt ihre Hand.

Erstaunlicherweise finden sie die Museumsräume vergleichsweise leer vor. Während sich draußen tausende Leute drängen, bewegen sich hier drinnen nur wenige mit ruhigen Schritten durch die Räume. Im Erdgeschoss und Keller glänzen hervorragend ausgeleuchtete Domschätze, die teilweise viele Jahrhunderte alt sind, in geputzten Glasvitrinen. Da gibt es filigrane Schmuckstücke, uralte Bücher und geschmiedete Waffen. Prunkvoll, aber auch gruselig glitzern Reliquien in ihren wertvollen Kästchen. Katharina tritt näher an eine heran und ihr Gesicht spiegelt sich unschön blass in der Glasscheibe. Beinahe kommt es ihr vor, als blicke ihr ein Paar Geisteraugen entgegen.

»Die Menschen damals waren ungeheuer gläubig, aber auch abergläubisch«, raunt Edi, die direkt neben ihr steht und ebenfalls die kleine silberne Truhe betrachtet. »Einmal ein Körperteil – und sei es nur der Fingernagel eines Heiligen – zu berühren, versprach Genesung oder anderes, was man sich dringend wünschte. Dafür unternahm man sogar anstrengende Pilgerreisen, für die man sein Zuhause für lange Zeit hinter sich ließ und viel Geld ausgab. Auch die Kreuzzüge entstanden aus der Idee heraus, die Heiligtümer des Christentums in kirchlichen Besitz zu bringen – das hört man schon deutlich daran, wie sich die Kreuzritter selbst nannten: Perigrini, was so viel heißt wie Pilger. Der Begriff Kreuzzug kam erst lange nach dieser Zeit auf.«

»Aber das waren doch Eroberungskriege und keine friedlichen Wallfahrten«, wendet Katharina ein. Edi nickt eifrig.

»Die Kreuzfahrer sahen sich als Krieger Gottes mit Jesus Christus als ihren Heerführer. Als Belohnung für ihren Einsatz garantierte ihnen die Kirche den Einzug ins Paradies. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass es noch andere Gründe gab, mitzugehen. Die Aussicht auf Macht und Reichtum im irdischen Leben zum Beispiel.«

Katharina schaudert und geht weiter zur nächsten Vitrine, die das glanzvolle Gewand eines Bischofs enthält. Es bildet einen riesigen Kontrast zu dem einfachen Alltag auf der schlammigen und stinkenden Burg, die Katharina im Oktober bei ihrem unfreiwilligen Besuch im mittelalterlichen Grünfels gesehen hat. Ganz automatisch wandern ihre Gedanken zu Johann, der mehr als einmal erwähnt hat, wonach er strebt: Nach der Anerkennung seines Lehrmeisters Ludowig von Grünfels, um einen besseren Stand in der Gesellschaft zu erreichen. Wenn er erst Ritter wäre, stünden ihm neue Wege offen und wo könnte er sich besser bewähren als in einer Schlacht.

»Wann fanden diese Kreuzzüge denn …« Katharina stockt mitten im Satz, weil Edi nicht mehr neben ihr steht. In einer fahrigen Bewegung dreht sie sich um und mustert die schwarzen Vitrinen, die ihr die freie Sicht auf den nur spärlich ausgeleuchteten Raum versperren.

»Edi?«, fragt sie zaghaft und wiederholt den Ruf dann noch einmal lauter. Vielleicht ist sie schon vorausgegangen, denkt Katharina, und läuft weiter in den Ausstellungsraum hinein. Sie versucht durch eine große, lange Glasfront zu spähen, in der verschiedene historische Gegenstände angestrahlt werden. Ihre Augen zucken ruckartig von links nach rechts, denn auch auf der anderen Seite kann sie niemanden sehen. Warum steht sie plötzlich völlig allein im Museum? Wo halten sich die übrigen Besucher auf? Ihr Herz klopft heftig und auf einmal schwitzt sie, obwohl es gar nicht warm ist. Wieder tappt sie ein paar Schritte vorwärts. Sie stößt einen schrillen Schrei aus, als unvermittelt ein weiterer Glaskasten direkt vor ihrer Nase auftaucht und sie beinahe hineingelaufen wäre. Dahinter starren sie die leeren, dunklen Augenhöhlen eines menschlichen Schädels an, der offensichtlich zur Ausstellung gehört. Ein Zucken durchfährt ihren Oberkörper, als jemand sie auch noch von hinten an den Schultern packt.

»Nicht erschrecken, ich bin es doch nur!«, hört sie da Edis Stimme hinter sich. Im gleichen Moment durchflutet eine angenehme Welle Katharinas Körper und sie wirft sich förmlich in Edis Arme. Ein paar Atemzüge lang drückt sie sich an Edis Brust, bis sich ihr Herzschlag allmählich beruhigt. Auch danach hält sie Edi weiter fest umklammert, atmet tief den Duft ihres vertrauten, blumigen Parfüms ein und genießt einfach nur das Gefühl von Nähe und Sicherheit.

»Für einen Moment dachte ich, du hättest mich hier in diesem Gruselkabinett allein gelassen«, gibt Katharina zu und sie muss selbst ein bisschen lachen über diese unbegründete Furcht. Auch Edis Lippen verziehen sich zu einem Lächeln.

»Ich hätte dir Bescheid sagen können, bevor ich zur Toilette verschwinde«, gibt sie zu und streicht ihr dabei sanft über die widerspenstigen Locken, so als sei sie noch ein kleines Mädchen und nicht beinahe eine erwachsene Frau.

»Komm, wir gehen wieder nach draußen und kaufen uns einen dieser leckeren Schokoladenäpfel, die es da direkt vor dem Dom gibt!«, schlägt Edi gleich darauf vor und Katharina nickt begeistert: »Und danach suchen wir eines dieser hippen Buchcafés, von denen Gabriele gesprochen hat.«

***

Von einer weißen Weihnacht kann keine Rede sein. Am Seitenfenster des Autos eilen dicke Regentropfen in Bächen schräg von links nach rechts. Katharina folgt ihnen mit den Augen.

Der gemeinsame Kurzurlaub ist viel zu rasch vergangen, denn sie befinden sich bereits auf der Rückfahrt. Gestern Nachmittag hat sie noch Gelegenheit gehabt, die Stadt allein zu erkunden und ein paar Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Aber sie hat auch etwas für sich gekauft, etwas, das sie Edi und ihrer Mutter nicht gezeigt hat: Einen hübschen, handgenähten Mantel mit Kapuze aus dunkelgrauem Wollstoff. Sie hofft, dass er in Johanns Welt passt und dabei möglichst unauffällig aussieht. Statt Knöpfen, Reißverschluss oder Spangen lässt sich der Umhang über der Brust mit Schnüren zusammenbinden. Dazu ist es ihr nach einem wahren Schuhladen-Marathon gelungen, halbhohe braune Lederstiefel mit Schnürverschluss zu finden, die auf sie nicht allzu modern wirken.

Ausgehend von dieser Ausrüstung denkt Katharina automatisch an Johann. Ob es bei ihm schneit? Und ob er sich überhaupt darüber freut? Ganz bestimmt ist es eisig und zugig auf so einer winterlichen Burg. Sie vermisst ihn! Ob es ihm auch so geht? Oder genügen ein paar Wochen, um ihn auf andere Gedanken zu bringen? Ihre letzte Begegnung scheint unwirklich lange her zu sein und die Erinnerung daran verformt und verändert sich. Inzwischen kann sie nicht mehr mit Sicherheit sagen, was zur Wahrheit und was zum Wunschdenken gehört. Haben sie sich tatsächlich geküsst? Sie kuschelt ihren Kopf an ihre Jacke, die sie zwischen sich und die kalte Autoscheibe geklemmt hat.

Wieder denkt sie an Burg Grünfels, die sie nur einmal aus der Nähe gesehen hat. Sie mag ungesehen durch den Wald streifen können, aber Begegnungen mit Menschen stellen sich als weitaus komplizierter dar. Dorthin kommt man nicht einfach zu Besuch! Die Leute sind fest in ihrer Familie verwurzelt, man kennt sich. Wenn Katharina sich dort unauffällig und von den Leuten akzeptiert aufhalten wöllte, müsste sie schon dauerhaft da wohnen.

Bei diesem Einfall prickelt ihre Kopfhaut. Einerseits findet sie die Vorstellung aufregend, diese fremde Welt trotz Edis Warnung zumindest eine Zeit lang zu entdecken. Andererseits weiß sie überhaupt nicht, was sie hinter den Mauern der Häuser oder der Burg erwartet. Wie wohnt man, wie verbringt man den Alltag und verlassen Mädchen wirklich nur selten das Haus? Womöglich würde sie Johann nicht einmal öfter sehen als jetzt. Dazu gibt es weder Strom, Heizung, fließendes Wasser noch eine ordentliche medizinische Versorgung, genauso wenig wie Internet, Telefon und Bücher. Nein, das kann sie sich nicht vorstellen!

Lindenherz

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