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Sie muss eingeschlafen sein, denn plötzlich steht Edi in der Tür und klopft noch einmal an den Rahmen. Es ist Zeit für das Vesper, das Edi niemals ausfallen lässt.

»Du hast geschlafen? In diesem Zimmer? Ich wollte dich zum Tee rufen!«

Edi blickt sich misstrauisch um. Eine Hand stützt sie in ihre schmale Hüfte. Passend zum goldenen Herbst trägt sie ein senfgelbes, knielanges Kleid, das sie trotz ihrer 73 Jahre beinahe jugendlich wirken lässt.

Katharina rappelt sich auf und sofort schießt ihr Blick zum Spiegel, aber der zeigt nur braune Tapete und weißes Bett. Hat sie geträumt? Einen Moment lang überlegt sie, ob sie Edi von dem seltsamen Traum erzählen soll. Aber andere Fragen drängen sich in den Vordergrund: »Warum nutzt du das Zimmer eigentlich nicht? Und woher hast du diesen Schrank?«

»Den alten, verschlissenen Kasten hier?«, vergewissert sich Edi, ohne auf die erste Frage einzugehen und pocht mit dem Fingerknöchel an das Holz. Als Katharina nickt, erklärt sie: »Den hat mein Vater selbst gezimmert. Dieser Raum war früher mein Kinderzimmer. Ach, wie lange das jetzt her ist!«

Liebevoll streichelt sie das alte Holz. »Man sieht ihm die Jahre an, nicht wahr?«

Katharina nickt. »Dem Spiegel auch«, ergänzt sie. »Der ist schon richtig fleckig!« Sie tritt einen Schritt näher heran, um mit den Fingern über das Glas zu streichen. Aber da spürt sie plötzlich Edis warme Hand auf ihrem Unterarm.

»Nicht anfassen!«, warnt Edi etwas zu laut – und verharrt ihr Blick nicht ein wenig zu lange auf dem Spiegelglas? Eine Gänsehaut bildet sich auf Katharinas Haut, genau da, wo Edis Finger lagen. Ist es doch kein Traum gewesen? Weiß Edi vom Geheimnis des Spiegels?

»Warum nicht? Ist es wegen dem Wald?«, fragt Katharina frei heraus und versucht möglichst gleichgültig zu klingen. Edi sieht sie sofort an, die Pupillen ihrer braunen Augen scheinen sich dabei zu weiten. Doch dann zwinkert sie, kneift die Lippen fest aufeinander und schüttelt den Kopf.

»Was redest du denn da? Welcher Wald?«, erwidert sie nur und klingt beinahe ärgerlich. »Ich glaube, du hast schlecht geträumt! Jetzt lass uns erst einmal essen.«

Mit diesen Worten dreht sie sich um und geht über den Flur zur Treppe, die ins Untergeschoss führt. In dem Augenblick fällt es Katharina schwer, ihr zu glauben, obwohl sie ihr doch sonst immer vertraut. Kein Zweifel, Edi möchte nicht darüber reden und ein solches Verhalten weckt Katharinas Neugier erst recht! Sie folgt Edi die ausgetretene Holztreppe hinunter. In der Mitte jeder Stufe befindet sich eine Senke, in die in den vergangenen Jahrzehnten viele Füße getreten sein müssen. Sie denkt an die Leute, die einmal in diesem Haus gewohnt haben und in dem Ort, in dem es steht: Grünfels. Diesen Namen hat der Fremde – Johann – auch erwähnt. Ist es das gleiche Grünfels, in das man durch den Spiegel gelangt? Existiert womöglich eine zweite Ausgabe davon in einer Art Parallelwelt? Sie schüttelt rasch den Kopf, denn sie ist sich bewusst, wie verrückt das klingt. Das hier ist schließlich die Wirklichkeit, kein Fantasy-Roman!

Als sie unten ankommen, beginnt Edi ungewöhnlich vergnügt zu plaudern. Sie deutet euphorisch auf die überdimensionierte Zimmerpflanze, die in einem riesigen Kübel auf dem Boden steht, weil sie schon längst nicht mehr auf das Fensterbrett passt.

»Schau doch, meine Zimmerlinde hat zum ersten Mal Knospen bekommen! Endlich scheint sie sich hier im Flur wohlzufühlen!«, kommentiert Edi. Etwas irritiert über den abrupten Themenwechsel betrachtet Katharina die noch ungeöffneten, haarigen Kügelchen, auf die Edi mit dem Finger zeigt.

Das, was Edi als »Flur« bezeichnet, könnte problemlos als »Salon« durchgehen! Denn die beinahe zwei Meter hohe, baumartige Pflanze steht zwischen einem antiken dunkelroten Samt-Sofa und einem dazu passenden Ohrensessel. Ein zierlicher Couchtisch und ein wunderschöner, runder Teppich vervollständigen das geschmackvolle Arrangement. Bis auf einen schmalen Garderobenschrank erinnert überhaupt nichts an einen typischen Hausflur, denn an alle freien Wände schmiegen sich hohe Regale, bis auf den letzten Zentimeter mit Büchern bestückt. Den absoluten Blickfang bildet aber eine Säule aus gestapelten Hardcovers, die vom Boden bis zur Decke reicht. Sie besteht ausschließlich aus Werken, die Edi für nicht gut befunden und deshalb auf diese Art zur Kunstinstallation umfunktioniert hat.

Man sieht dem Zimmer nach wie vor deutlich an, dass es einmal eines von zwei Verkaufsräumen von »Ediths Edelbuchhandlung« gewesen ist, die sie erst vor fünf Jahren endgültig aufgegeben hat. Trotzdem besitzt Edi noch genügend Bücher, unzählige um genau zu sein, um jeden Winkel ihres beschaulichen Häuschens damit zu füllen. Die Bücherschränke ersetzen hier quasi die Tapete – selbst auf dem Klo. Als ehemalige Buchhändlerin und leidenschaftliche Leserin hat sich Edi im Laufe ihres Lebens durch ganze zwischen Buchdeckel gepresste Wälder geschmökert. Weil Katharina fast genauso viel Zeit bei ihr wie bei ihrer Mutter gelebt hat, verwundert es kaum, dass sie diese Bücherliebe teilt.

***

Katharinas Mutter Gabriele sitzt bereits am Esszimmertisch. Auf der Nase trägt sie ihre gigantische, schwarz umrandete Lesebrille, während sie die Lokalnachrichten überfliegt.

»Da seid ihr ja endlich«, seufzt sie, während sie ihre Brille absetzt und die Zeitung umständlich zusammenfaltet. »Ich muss rechtzeitig zur Nachtschicht wieder in der Stadt sein und wir wollen doch noch zum Friedhof die Vergissmeinnicht und die Stiefmütterchen einpflanzen!«

Schon bevor Edi und Katharina sitzen, schenkt sie Kaffee ein. Katharina ignoriert die Hektik, die ihre Mutter verbreitet. Nicht zum ersten Mal fällt ihr auf, wie verschieden die beiden Frauen sind, mit denen sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hat. Gabriele Jung leitet im städtischen Krankenhaus als Stationsschwester die zentrale Notaufnahme. Immer mit vollem Einsatz, analytisch-rational und aus ganzem Herzen eine Großstadtbewohnerin, grenzt sie sich deutlich von ihrer Mutter ab. Wo Edith verspielte Kleider und silbernen Schmuck bevorzugt, favorisiert sie eine schnörkellose und elegante Garderobe. Während Edi sich gerade einen cremigen Cupcake und zusätzlich ein sahniges Kuchenstückchen auf den Teller lädt, würde ihre Tochter höchstens einen trockenen Keks zu ihrem Kaffee nehmen. Aber ein Hobby teilen auch sie: Geschichten. Nur, dass Edith vorbehaltlos alles liest, sogar fantastische Romane, während Gabriele ausschließlich realitätsnahe Fiktion und Fachbücher konsumiert.

***

Wenig später trägt Katharina eine flache Holzkiste mit einem Duzend kleinen Pflänzchen den Sandweg entlang, der von Edis Haus ins Dorf führt. Dort geht es auf der anderen Seite des idyllischen Tals wieder einen Berg hinauf zum Friedhof. Die Sonne scheint beinahe noch sommerlich warm. Katharina genießt es zusammen mit Edi und ihrer Mutter durch Grünfels zu gehen, denn in letzter Zeit haben sie selten etwas zu dritt unternommen. Die Arbeit spannt Gabriele zu sehr ein, selbst in den Herbstferien – ein Krankenhaus steht schließlich niemals still.

Das schwarze Metalltor gibt ein quietschendes Geräusch von sich, als Edi es öffnet. Eine hübsche, mit Efeu bewachsene Sandsteinmauer umgibt den Begräbnisplatz. Die feinen, glatten Birkenblätter strahlen hellgelb. Von hier aus hat man einen guten Blick hinunter auf den Ort, dessen Häuser sich wie Perlen einer Kette entlang der Dorfstraße aneinanderreihen. Nur Edis Haus liegt abseits, etwas enger an den Hang geschmiegt, umgeben von Obstwiesen und nah am Waldrand.

Katharina stellt die Kiste mit den Pflanzen zwischen die Gräber ihres Vaters und ihres Großvaters und fängt an, die Pflänzchen neben die jeweiligen Grabsteine zu sortieren: Vergissmeinnicht für Christopher Klee, 1973–2004, gestorben bei einem Autounfall als Katharina nur drei Jahre alt war, und Stiefmütterchen für Reiner Jung, 1946–1976, ertrunken im Fluss als seine Tochter Gabriele zwei Jahre alt war.

Katharinas Kehle fühlt sich zu eng an, wie immer, wenn sie daran denkt, auf welch grausame Art sich die Geschichte in ihrer Familie wiederholt hat. Hier liegen zwei Männer begraben, die sie nur zu gern kennengelernt hätte, denn ihre Frauen reden nicht häufig über sie. Der Tod ihres Partners Christopher hat Gabriele Jung so mitgenommen, dass sie sich erst nach über einem Jahr wieder um Katharina kümmern konnte. In dieser Zeit betreute Edith ihre Enkeltochter. Auch jetzt liegt wieder ein trauriger Ausdruck in Gabrieles Augen, als sie vor dem Grab sorgfältig eine Plastiktüte ausbreitet, sich darauf kniet und beginnt, kleine Löcher für die Vergissmeinnicht auszuheben.

Katharina schluckt schwer, als sie ihre Mutter dabei beobachtet. Sie muss ihn sehr geliebt haben – zu dumm, dass Katharina sich überhaupt nicht mehr an ihren Vater erinnern kann! Sie hat einmal gelesen, dass die ersten Erinnerungen der meisten Menschen aus deren drittem oder viertem Lebensjahr stammen. Schon unzählige Male hat sie die wenigen existierenden Fotos von ihm angeschaut. Ihre Eltern hatten sie damals noch mit einer analogen Kamera geschossen, obwohl es bereits digitale Geräte zu kaufen gab. In Katharinas Gedächtnis haben sich die Bilder eingebrannt, auf denen ihr Vater neben ihr auf einer Spieldecke liegt. Auf einem hält er ihr ein Kuscheltier hin, auf einem anderen wiegt er sie in seinem Arm, auf einem dritten schlafen sie beide dicht nebeneinander. Selbst die Verwackelten gehen ihr nicht aus dem Kopf. Sie klammert sich an das wenige, das Edi und Gabriele von ihm erzählt haben: Dass er nach dem Mauerfall drei Jahre lang durch die Welt gereist sei. Dass er ihre Mutter ausgerechnet an so einem abgelegenen Ort wie Nicaragua kennengelernt habe, wo Gabriele ein freiwilliges Jahr in der Entwicklungshilfe absolviert hat. Dass er später, mit 26, sein Journalistikstudium abgeschlossen und kurz darauf bei der Lokalredaktion der Stadtzeitung angefangen habe. Aber eigene Erinnerungen an ihn fehlen Katharina völlig.

Ein Gedanke lässt sie einfach nicht los: Mehr Wissen über diese beiden Männer, über ihre eigenen Wurzeln, könnte sie zu einem vollständigeren Menschen machen. Sie ist davon überzeugt, dass sie dann viel sicherer wüsste, was sie mit ihrem eigenen Leben anstellen soll. Ihre Freundin Sarah will unbedingt Geschichte studieren. Aber Katharina kann nicht einmal sagen, ob ein Studium überhaupt zu ihr passen würde.

Ein Blick auf ihre Mutter reicht aus, um zu verstehen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, ihr weitere Details über ihre große Liebe zu entlocken. Beherzt greift sich Katharina daher ein Stiefmütterchen, um Edi beim Bepflanzen des zweiten Grabs zu helfen. Nachdenklich betrachtet sie die hellblauen Blüten.

»Hast du jemals überlegt, was anderes als blaue Stiefmütterchen auf Opas Grab zu pflanzen?«, fragt Katharina.

Edi sieht auf, ihre Mundwinkel bewegen sich dabei nach oben. »Nein, die passen einfach perfekt zu ihm!«

Katharina findet ihr Lächeln ansteckend. »Warum? War er so oft blau? Oder so kalt wie diese Farbe oder so voller Hoffnung?«

Einen Moment lang sieht Edi sie merkwürdig an. Dann schmunzelt sie wieder. »Ich finde, sie passen zu seinen Augen«, antwortet sie schließlich und widmet sich erneut der Blume, die sie sorgfältig in die Erde drückt.

Über Reiner Jung weiß Katharina nur, dass er Archäologe gewesen und eines Tages bei einem Unfall ertrunken ist. Edi hat ihn in ihrem Buchladen kennengelernt, wo er jedes nur erdenkliche Geschichtsbuch kaufte. Katharina stellt sich vor, wie sich die beiden, lange, tiefgründige Fachgespräche führend, eines Tages nähergekommen sind.

»Wie war er denn so?«, will sie – wieder einmal – wissen und die Frage entlockt Edi ein Seufzen. Aber als auch Gabriele interessiert aufsieht, bemüht sie sich um eine Antwort. Ihr Blick schweift dabei in die Ferne.

»Stellt ihn euch so vor: Abenteuerlustig, neugierig, geradezu draufgängerisch. Jemandem, der sich fühlte wie ein zweiter Indiana Jones, wurden ein Staat wie die DDR und ein Familienleben mit Kleinkind so schnell zu eng wie ein zu heiß gewaschenes Hemd. Denk nicht, er hätte dich nicht geliebt, Gabriele, das stimmt keinesfalls. Aber er war immer überall unterwegs – bloß selten zu Hause …«

Sie seufzt, dann greift sie das letzte verbleibende Stiefmütterchen und gräbt es ein. Katharina versucht ihn sich vorzustellen, diesen 30-jährigen Draufgänger, der seine Freiheit mehr liebt als ein normales Alltagsleben als Familienvater.

»Und dann ist ausgerechnet er ertrunken?«, fragt sie. »Ich meine, das passt doch nicht zu so einem Abenteuerhelden!«

Edi lacht, aber es klingt eher resigniert. »Das Leben folgt eben keinem dramaturgisch ausgefeilten Drehbuch!«

Lindenherz

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