Читать книгу Lindenherz - Tala T. Alsted - Страница 16

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Grobe Hände ziehen und zerren an ihr, reißen sie mit sich. Bei jedem Schritt verursachen metallene Ketten ein leises Klirren. Sie stolpert mit den Händen voran auf eiskalte Steine und rammt noch einmal mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Als sie benommen versucht, sich aufzurappeln, blickt sie genau in bedrohliche, kalte Augen. Wie große Eisblöcke starren sie, ohne jegliches Mitgefühl. Lippen ziehen sich ein wenig nach oben. Eine ruckartige Bewegung, dann schlägt Johann neben ihr hart auf dem Boden auf. Im Dunkeln sieht sie alles nur schemenhaft. Sie zittert, als sich der Angreifer nähert, sich bückt und Johanns Haar packt. Mehrmals drückt er die Stirn ihres Freundes mit Schwung auf den harten Steinboden, bis er reglos und blutend liegen bleibt. Wie hypnotisiert vor Angst starrt sie in die Finsternis, sieht eine große Hand näher kommen, die sie am Kiefer packt. Dann kracht ihr Hinterkopf dumpf gegen die Wand und die Dunkelheit um sie herum wird noch schwärzer. Als sie das nächste Mal die Augen öffnet, erkennt sie das Gesicht des Mannes, der sich über sie beugt. Katharina schreit so laut sie kann. Wie erstarrt, gelingt ihr keine Regung. Der Schrei erstickt, sie bekommt kaum Luft, sicher wird sie jetzt sterben! Ihr Herz rast so als seien dies die letzten Schläge, die es eilig noch hinter sich bringen will. Wieder fasst die Hand nach ihr.

»Lass mich los!«, ruft sie. »Fass mich nicht an!«

»Katharina, ich bins, Johann, du träumst«, hört sie denjenigen sagen, der jetzt ihre Schultern umklammert. Die Worte erreichen sie gedämpft wie durch eine dicke Glasscheibe. Langsam verschwindet der grauenhafte Anblick des kindlichen Johanns mit dem blutüberströmten Gesicht und weicht der im Dunkeln schemenhaften Gestalt des älteren Johanns, der sich über sie beugt. Etwas hilflos streichelt er ihre Wange.

»Du hast geträumt«, wiederholt er unaufhörlich bis sie seine Worte endlich versteht. Nur ein Traum. Je mehr sie erwacht, desto besser kann sie sich auch wieder bewegen. Doch den festen Griff um ihre Kieferknochen spürt sie noch immer. Geräuschvoll atmet sie ein und aus, während Johann sie in seine Arme zieht und in gleichförmigen Bewegungen hin und her wiegt, als wäre sie ein Kleinkind. Zum Fenster fällt Mondlicht herein, sodass Katharina allmählich die Konturen der Bücherregale ausmachen kann. Sie liegt in ihrem Zimmer bei Edi, in Sicherheit. Als ihr Atem wieder normal geht, löst sich Johann behutsam aus der Umarmung und sieht sie forschend an.

»Besser?«, fragt er leise. Katharina nickt vorsichtig. In ihrem Inneren toben die Gefühle mit solcher Wucht – sie kann unmöglich weiterschlafen! Johann sitzt unschlüssig auf der Bettkante. Ohne lange nachzudenken, rückt Katharina ein Stück zur Seite und zieht ihn neben sich. Als sie sich wortlos an seine Brust schmiegt, legt er sofort beide Arme um sie und drückt sie fest an sich. Erleichtert atmet sie seinen Geruch ein und kann sogar sein Herz schlagen hören. Oder ist es ihr eigenes? Während er ihr mit beiden Händen über das Haar und den Rücken streicht, fragt er leise: »Erzählst du mir von deinem Albtraum?«

Weil die schrecklichen Bilder sie ohnehin auf keinen Fall so schnell loslassen, schildert sie alles haargenau. Schon allein die Erinnerung daran lässt ihren Blutdruck erneut steigen.

»Das war nicht nur ein Traum!«, konstatiert Johann dann. »Das passt auffallend zu der Geschichte, die deine Großmutter beschrieben hat.«

Die Parallele scheint offensichtlich.

»Die Frage ist nur, ob ich mich erinnere oder ob ich Edis Erzählung nochmal erlebe …«, wirft Katharina ein.

»Wie sah der Mann aus, dessen Gesicht du zuletzt erkannt hast?«, will Johann wissen. »Von ihm hat Edith nämlich nicht gesprochen.«

Katharina zögert mit der Antwort. »Hast du den reich geschmückten Herrn bemerkt, der gestern hinter Herrn Ludowig stand? Er war es.«

Johann schnappt nach Luft und unterbricht seine Streicheleinheiten. »Sicher?«, fragt er.

»Ich hab ihn mit Sicherheit im Traum gesehen. Aber vielleicht hab ich nur von ihm geträumt, weil er mich gestern so auffällig angeschaut hat.«

»Er hat dich angestarrt?« Johann stemmt sich auf die Unterarme und sucht im Dämmerlicht ihren Blick.

»So hat es sich angefühlt«, gibt Katharina kleinlaut zurück. »Natürlich haben mich auch alle anderen angegafft.« Nach allem, was sie in den letzten Stunden erlebt hat, wäre es nicht verwunderlich, wenn sie die Dinge durcheinanderbrächte.

»Er heißt Reinhard von Waldkron und besucht Herrn Ludowig hin und wieder. Die Leute erzählen, er sei ein Vertrauter des Kaisers.«

Eine ganze Weile schweigt er.

»Die Geschichte von unserer gemeinschaftlichen Fieberkrankheit mit anschließendem Vergessen bleibt merkwürdig. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Aber Edith hat Recht. Was wir tun ist schrecklich leichtsinnig und gefährlich …«

Katharina umklammert ihn fester. Bestimmt will er vorschlagen, sie sollten sich nicht mehr sehen! Jetzt, wo sie sich gerade erst neu kennenlernen.

»Bleib bei mir!«, stammelt sie deshalb eilig.

»Katharina, ich kann keinesfalls hier …«, beginnt er.

»Besuch mich weiter so oft es geht«, verbessert sie hastig. Er stößt einen gequälten Laut aus, während seine Hände erneut anfangen, rastlos über ihren Rücken zu streichen.

»Ich weiß gar nicht, ob ich mich zurückhalten könnte …«, murmelt er undeutlich in ihre Locken. »Aber mein Verstand sagt, es ist riskant, hat keine Zukunft … Und dann kommst du und schaltest die Vernunft einfach aus!«

Katharina verzieht die Lippen. »Jetzt gib bloß nicht mir die Schuld!«, ruft sie mit gespielter Empörung.

»Natürlich!«, entgegnet er. »Du bist schließlich die Zauberin, die so lange hext, bis ich alles Wichtige aus dem Blick verliere …«

»Ach ja?« Katharina nähert sich langsam seinem Gesicht und sieht ihm dabei fest in die Augen. Sein unruhiger Atem streift ihre Haut und seine Hände halten inne mit ihren Zärtlichkeiten, so als verunsichere sie ihn. Katharina folgt einem Impuls und drückt ihre Lippen auf seinen Mund. Johann stöhnt leise auf, doch sie lässt ihn nicht zu Wort kommen. Sie vergisst Uhrzeit, Raum und Albtraum in diesem Kuss. Das Blut rauscht überlaut durch ihren Kopf. Sie fühlt sich außer Stande, etwas anderes wahrzunehmen, als den eigenen, aufgewühlten Körper und Johann, dessen Hände überall zu sein scheinen, so als wollten sie jeden Millimeter ihrer Haut wenigstens einmal berühren. Noch nie hat Katharina eine solche Euphorie erlebt! Sie weiß, dass sie jetzt zu allem ja sagen würde.

Aber Johann rückt nach einer gefühlten Ewigkeit ein wenig von ihr ab und hält schwer atmend inne. »Wo soll das denn hinführen?«

Katharina fühlt sich selbst nahezu überwältigt von dem unbekannten Chaos in ihrem Inneren und von der Ekstase, die ihre Küsse ausgelöst haben. Sie zwingt sich, betont langsam zu atmen. Sanft kuschelt sie den Kopf wieder an Johanns Oberkörper und sagt: »Schlaf bitte hier bei mir.«

Johann drückt einen weiteren Kuss auf ihren Scheitel, dann liegen sie schweigend Arm in Arm, während sich ihre Atemzüge langsam normalisieren und schließlich in einen völligen Gleichklang übergehen. Nach langen, langen Augenblicken hört Katharina an Johanns regelmäßigem Atem, dass er schläft. Unbändige Begeisterung darüber, ihn hier so dicht bei sich zu haben, durchströmt sie bis in die Fußspitzen. Sie genießt den kostbaren Augenblick, weil sie nicht weiß, ob es jemals wieder einen solchen geben wird. Nochmal und nochmal durchlebt sie dabei in Gedanken die vergangene Stunde bis sie endlich auch einschläft.

***

Katharina wacht auf, weil sie eine Bewegung wahrnimmt. Johann! Sofort fühlt sie sich hellwach. Er sitzt mit einem hochkonzentrierten Gesichtsausdruck neben ihr im Bett. Katharina verschluckt sich beinahe, als sie sieht, was er auf der Bettdecke ausgebreitet hat.

»Was zum …!«, beginnt sie. Johann wirft ihr sofort einen schuldbewussten Blick zu. In der Hand hält er ihr Smartphone, das ohne seinen Rückendeckel recht nackig aussieht. Schließlich kann man so direkt in sein Inneres sehen, wo winzig kleine Schrauben glänzen, gleich neben der eckigen Kamera und der Sim-Karte in ihrem Steckplatz. Der Akku liegt daneben auf der Bettdecke.

»Ich will wissen, wie das funktioniert!«, stößt er mit einem Seufzer aus. Scheinbar hat es ihm nicht weitergeholfen, das Gehäuse des Telefons zu öffnen. Katharina stellt erleichtert fest, dass er dabei offenbar behutsam vorgegangen ist, denn alle Teile sehen unversehrt aus.

»So richtig viel vom Innenleben eines Smartphones kannst du so nicht erkennen«, sagt Katharina. »Hier gibt es eine Speicherkarte, auf der Informationen liegen. Der Akku dort sorgt für die Energie, damit es überhaupt geht … Das da ist der Lautsprecher und das die Kamera. Mehr versteh ich auch nicht. Tut mir leid!«

Johann brummt unzufrieden, beginnt aber unter Katharinas wachsamen Blick die Einzelteile so vorsichtig wieder zusammenzusetzen, wie sie ihm das nie und nimmer zugetraut hätte. Eine Erinnerung blitzt in ihrem Kopf auf. Ja, sie ist sich sicher: Johann nimmt nicht zum ersten Mal ungefragt technische Geräte auseinander. Als er das Telefon zurückgibt und mit einem halben Lächeln aufsteht, entwischt ihr dieser Erinnerungsfetzen.

***

Sie stehen schweigend auf und helfen dann Edi dabei, das Frühstück vorzubereiten. Keiner scheint ein Gespräch anfangen zu wollen, stattdessen hängen alle ihren eigenen Gedanken nach, die vermutlich um dasselbe Thema kreisen. Der stürmische Wind rüttelt an Edis alten Holzfensterrahmen, was in einem gespenstischen Pfeifen mündet. Draußen verbiegen sich die kahlen Äste der Obstbäume, als wollten sie ihnen ein Zeichen geben. Das aufgewühlte Wetter dringt direkt in Katharinas Inneres, denn nur mit Mühe gelingt es ihr stillzusitzen. Nervös fährt sie mit der Zeigefingerkuppe die olivgrüne Oberfläche des Keramikeierbechers entlang, der vor ihr steht. Draußen beginnt es zu regnen, wie um die Trostlosigkeit der Situation zu unterstreichen.

»Ist jemandem über Nacht ein gewitzter Einfall gekommen, wie ich Herrn Ludowig nachher mein Wegbleiben erkläre?«, durchbricht Johann die Stille. Er wartet ihre Antwort gar nicht ab, denn offenbar hat er bereits eine Idee. »Ich könnte von dem hell erleuchteten Zauberschloss berichten, in dem bei Bedarf die ganze Nacht über sonderbar kalte Glaslichter leuchten, die komplett ohne Feuer auskommen. Ich würde zum Beispiel sagen: Man ließ mir wortwörtlich im Handumdrehen ein duftendes Schaumbad ein, servierte mir die herrlichsten Speisen und ich durfte in einem wunderbar weichen Bett schlafen. Natürlich könnte ich den Rückweg dorthin niemals wiederfinden. Es erschien einfach wie aus dem Nichts im Schneegestöber und von einem Moment auf den anderen stand ich in den warmen Räumen …«

Er lächelt unsicher. Katharina findet, seine Ausrede klingt genau wie ein typisches Volksmärchen. Edi bewegt den Kopf hin und her, so als wöge sie die verschiedenen Möglichkeiten ab.

»Du könntest auch so tun, als ob du die Erinnerung verloren hättest«, schlägt sie vor. Aber Johann winkt ab.

»Das kennen die Leute doch schon. Außerdem werden sie sich über eine unterhaltsame Anekdote viel mehr freuen.«

»Hauptsache, sie halten dich nicht für verrückt!«, kommentiert Katharina und stellt sich vor, sie müsse etwas Ähnliches vor ihren Klassenkameraden vortragen.

»Die Leute in meiner Zeit glauben so was gerne!«, sagt Johann überzeugt. »Die Winterabende in der Burg sind lang und überhaupt klingt unsere Geschichte doch wie ein unglaubliches Märchen …«

Da nickt Edi langsam. »Aber verstrick dich nicht in Ungereimtheiten. Erwähne auf keinen Fall den Baum oder die Richtung, in die wir gegangen sind! Noch besser: Beschreib ihnen einen anderen Weg! Ansonsten hältst du dich möglichst nah an der Wahrheit, denn so vermeidest du Fehler, falls du alles mehrmals aufsagen musst.«

Johann nickt angespannt. »Ich soll ganz bestimmt immer wieder von vorn erzählen!«

»Es ist tatsächlich ein fantastisches Märchen!«, seufzt Katharina. Sie schaut verträumt hinaus in den Regen. Den nimmt sie aber nicht wahr, sondern sieht stattdessen noch einmal wie Johann sie umarmt, streichelt und küsst. Der wirft ihr sofort einen warnenden Blick zu. Merkt man ihr so deutlich an, was in ihrem Kopf vor sich geht?

»Kinder, ich habe kein gutes Gefühl dabei!«, unterbricht Edi dann als nächste ihren Tagtraum. Ihr ernster Tonfall lässt Katharina aufschrecken. »Ihr solltet eure Treffen diskreter gestalten oder noch … seltener.«

Katharina weiß, was sie eigentlich damit sagen will und schluckt angestrengt. Das glitzernde Märchen aus ihrer Vorstellung zerbröselt bis nur Leere bleibt.

»Das wäre vernünftig«, stimmt Johann ihrer Oma auch noch zu. Eine ganze Weile schweigen sie und Katharina starrt verbissen zum Fenster hinaus. Um die Tränen zurückzuhalten, verfolgt sie betont interessiert die an der Scheibe perlenden Wassertropfen mit den Augen. Sie benutzen scheinbar eigene Straßen und schließen sich hin und wieder zu größeren Flüssen zusammen, während der Wind am Fensterrahmen rüttelt.

»Aber ich fürchte, so vernünftig bin ich nicht«, flüstert Johann nach einer Weile, was Edi resigniert aufstöhnen lässt.

»Das habe ich geahnt. Schön, wie ehrlich du bist. Mir ist es ohnehin lieber, du kommst unauffällig hierher, als dass Katharina jemals wieder einen Fuß in deine gefährliche Zeit setzt.«

Der Klang ihrer Stimme lässt keinen Zweifel daran, wie ernst sie diese Worte meint. »Ich habe mir schreckliche Sorgen und Vorwürfe gemacht, Katharina«, fährt Edi fort. Bisher hat sie die Ereignisse des Vortags unkommentiert gelassen, doch jetzt scheint sie richtig auf Touren zu kommen. Ihre Stimme klingt ein paar Tonlagen höher als normalerweise. »Für Johann ist das Abenteuer noch längst nicht überstanden! Wir müssen hoffen, dass die Leute seine Geschichte glauben und keine weiteren Fragen stellen. Johann, du solltest einige Tage in der Burg bleiben! Sie werden dich im Auge behalten, um zu sehen, ob du die Zauberin wieder triffst, ob sie dich doch noch holt oder womöglich verhext hat. Du darfst sie nicht aus Versehen auf unsere Spur locken!«

Johann nickt ergeben. Edis Bedenken leuchten ein. Aber in einigen Tagen sind Katharinas Ferien vorbei und die nächsten stehen erst im Februar an. Sie kann schon vorher ein Wochenende hier verbringen, denkt sie. Als errät sie diese Idee, fährt Edi mit fester Stimme fort: »Es ist besser, wenn ihr euch erst im Sommer wiederseht.«

Johann zögert, neigt dann jedoch gehorsam den Kopf.

»Im Sommer? Das ist ewig lang!«, ruft Katharina empört.

»Es ist besser so, auf diese Art wächst Gras über die Sache!«, argumentiert Edi und Johann nickt auch noch.

Katharina kann es nicht fassen, sie sprechen von einem halben Jahr! Schmerzhaft beißen ihr nun doch Tränen in den Augen. Sie springt auf und stößt dabei beinahe den Stuhl um. So schnell es geht will sie einfach nur weg, aber als ihr verletzter Fuß den Boden berührt, blitzt wieder dieser brennende Schmerz auf. Durch fest aufeinander gebissene Zähne zieht sie die Luft ein und humpelt zur Tür. Der Abgang hat schwungvoll und resolut aussehen sollen, doch jetzt wirkt er mit Sicherheit höchstens mitleiderregend. Ohne sich umzusehen, kämpft sich Katharina weiter durch Küche und Flur. An der Treppe ins Obergeschoss holt Johann sie ein.

»Hast du vergessen, Zähne zu putzen?«, versucht er zu scherzen. Doch nach Witzen steht Katharina nicht der Sinn. Wie auch, denn offensichtlich besitzt sie überhaupt keinen Einfluss darauf, wann und wie oft sie Johann wiedersieht! Ausgerechnet nach dieser Nacht, die sie noch enger an ihn bindet. Ihr Inneres will mehr davon!

Johann hält sie an beiden Schultern fest, doch sie wendet den Blick ab, um zu verbergen, wie sehr sie sich wie der trotzige Teenager aufführt, der sie auch ist. Abermals kämpft sie die Tränen erfolgreich nieder. Gefährlich hin oder her, sie ist zum ersten Mal richtig verliebt!

Johann hält sie lange im Arm, drückt sie mitten auf der Holztreppe fest an sich und bald hüllt sie dabei eine beruhigende Stille ein. Ihre Wangen berühren sich, hell- und dunkelbraune Haarsträhnen fallen ineinander. Katharina kneift die Augenlider zu und lauscht auf ihren Herzschlag bis sie sich endlich beruhigt.

»Glaub bloß nicht, es fällt mir leicht, hier den Vernünftigen zu mimen!«, unterbricht Johann die Stille. »Noch nie hab ich mich so verwirrt und aufgewühlt und gleichzeitig so euphorisch und verrückt gefühlt. Aber ich weiß auch nicht, was ich tun soll. Ich sehe keinen gemeinsamen Weg für uns beide, so sehr ich mir Mühe gebe.«

Katharinas Mund entweicht ein gequälter Schmerzenslaut, es hört sich an, als komme er von einem kranken Tier.

»Ich weiß«, flüstert sie, während sie in Gedanken wieder alle ihnen verbleibenden Möglichkeiten durchgeht: Johann in ihrer Zeit, alle seine Pläne, Ziele und bekannten Menschen aufgebend – es klingt unvorstellbar und er schließt es ja selber aus. Sie auf Burg Grünfels – dort kennt man sie schon als Melchior, den Enkel einer mächtigen Zauberin, und selbst wenn nicht, wie soll Johann das plötzliche Auftauchen eines unbekannten Mädchens erklären? Abgesehen davon könnte sie sich nie von Edi, Gabriele und Sarah dauerhaft trennen! Bleibt nur das gefährliche Wechselspiel, das sie seit Herbst betreiben und das sie immer wieder in neue Schwierigkeiten bringen wird. Am Ende gefährdet es auch Edi, deren Haus fast so etwas wie ein Versteck für den geheimen Weg darstellt. Je öfter man dieses Tor nutzt, desto wahrscheinlicher entdecken es andere.

»Wie ungerecht, dass ich mich ausgerechnet mit dir so verbunden fühle, Johann!«, stößt sie aufgebracht hervor. »Mit dir zusammen zu sein, das ist so vertraut, so sicher, als kennen wir uns schon ein ganzes Leben lang! Gleichzeitig gibt es da dieses Aufregende, das Neue, das ich alles noch erkunden muss, mit dir gemeinsam …«

Johanns Hände an ihren Schultern verkrampfen sich bei ihren Worten. Sie hält inne, als ihr dämmert, dass sie ihm gerade eine Liebeserklärung macht. Lange Zeit hängen die Sätze unkommentiert in der Luft. Katharinas Herz beginnt auf einmal heftig zu hämmern, als sie die Bedeutung des Gesagten realisiert. Nach vielen weiteren Herzschlägen räuspert sich Johann.

»Mir geht es genauso und ich fühle mich mehr als geschmeichelt. Aber was wäre, wenn dieses Gefühl völlig normal ist? Jeder, der sich verliebt, erlebt das so ähnlich. Alle die Lieder der großen Sänger erzählen von Paaren, denen es genauso geht. Bestimmt triffst du eines Tages …«

Mit einem empörten Schnauben schiebt Katharina ihn von sich weg. Unglaublich, was er da andeutet!

»Meinst du, mir passiert so was jede Woche?«, stößt sie mit schriller Stimme hervor. »Glaubst du, ich würde jeden küssen?«

»Nicht jeden natürlich!« Johann hebt beschwichtigend die Hände und tritt ein wenig zur Seite, offenbar, um etwas Abstand zwischen sie zu bringen. »Aber eines Tages womöglich …«

»Nein!«, faucht sie. »Du vielleicht, ich nicht!«

Johanns Blick flackert und er schluckt angestrengt, dann durchwühlt er mit einer hektischen Geste sein Haar. Eine ganze Weile taxieren sie sich schweigend und lauernd wie zwei kampfbereite Katzen. Keiner gibt nach, doch Katharina sieht in Johanns Augen die gleiche Verletzung und Kränkung leuchten, die sie auch fühlt. Ihre Hand zittert, als sie Johann schließlich vorsichtig über die Schulter streicht.

»Es nützt ja doch nichts, wenn wir uns gegenseitig die Schuld geben«, sagt sie resigniert. Sie registriert, wie Johann sich ein wenig entspannt. Lange blicken sie sich in die Augen, bis er sich mit einem Schulterzucken kerzengerade aufrichtet.

»Ich benutze jetzt noch einmal euer wunderbares Badezimmer und die Zahnbürste, dann breche ich auf«, sagt er langsam. Die Worte »Badezimmer« und »Zahnbürste« betont er mit besonderem Nachdruck.

***

Als er wenig später in seiner eigenen, frisch gewaschenen Kleidung in ihrem Zimmer steht, fehlt Katharina jeder Hoffnungsschimmer. Sie werden sich erst im Sommer wiedersehen.

Johann bindet seinen gefütterten Wollmantel mit einigen Lederschnüren vor der Brust zusammen. Die Tunika reicht ihm bis über die Knie. Er kontrolliert noch einmal den Sitz seiner Stiefel. Jetzt sieht er aus wie einem Hollywood-Blockbuster entstiegen und sein Anblick verursacht ein mulmiges Gefühl in Katharinas Magen. Johanns Aussehen unterstreicht schmerzhaft wie fremd sich ihre Lebenswelten in Wirklichkeit sind, so sicher und unauffällig er sich in ihrer Zeit auch zu bewegen vermag.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, zückt sie ihr Smartphone, tippt auf das Kamerasymbol und sagt: »Ein Abschiedsbild, bitte, wenn wir uns schon so lange nicht sehen können.«

Johann hält artig, aber mit ernstem Gesichtsausdruck still bis sie ein paar Aufnahmen von ihm geschossen hat.

»Ich finde es ungerecht, dass du Erinnerungsbilder hast, während ich versuchen muss, mir deine Gesichtszüge einzuprägen«, beschwert er sich.

Katharinas Miene leuchtet auf. »Wenn du mich im Sommer besuchen kommst, verspreche ich dir ein Bild von mir«, sagt sie mit einem herausfordernden Grinsen.

»Ein äußerst verlockender Grund, dich selbst nach so langer Zeit zu treffen!«, geht Johann mit einem feinen Lächeln auf das Spiel ein und Katharina schöpft Hoffnung – auch wenn es natürlich keine Lösung, nur einen Aufschub für das Hauptproblem ihrer Beziehung darstellt.

Sie steckt das Telefon weg und stellt sich dicht vor Johann um ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen zu drücken. Wieder erfasst sie diese blinde, fast verzweifelte Wildheit, mit der sie sich an den so vergänglichen Augenblick klammert.

»Bis Sommer, Katharina Lindenherz«, flüstert Johann schließlich mit einer kleinen Verbeugung, wie um sich gedanklich wieder auf seine eigene Zeit vorzubereiten. Katharina bringt kein Wort hervor, beobachtet nur still diese Verwandlung und wie er sich innerlich zu wappnen scheint gegen das, was in der Burg auf ihn zukommen wird. Er strafft die Schultern, streckt den Rücken gerade, schlägt die Kapuze über den Kopf und legt eine Hand auf den Knauf seines Kurzschwerts. Ein letzter Blick, dann geht er entschlossen durch das Loch in der Zeit hinüber in die Schneelandschaft.

Ohne sich von der Stelle zu rühren, behält Katharina ihn auch dort noch im Auge. Zuerst sieht sie nur seinen Rücken, dann kämpft er sich den Weg durch wahre Schneegebirge hinein in die Winterlandschaft. Genau genommen tritt er nicht einfach aus dem hohlen Stamm, sondern wirft sich in einem Hechtsprung hinaus, sodass er in einiger Entfernung auf dem Bauch im Schnee versinkt. Als er sich aufrappelt, ist seine soeben getrocknete Kleidung wieder nass, doch die weiße Decke direkt vor der Linde liegt immer noch unberührt da. Rückwärts entfernt er sich in die falsche Richtung und kehrt auch nicht mehr zum Baum zurück.

Katharina starrt mit hängenden Armen auf den Schrank mit dem ovalen Spiegeleinsatz. Mit einem Mal erfüllt sie eine innerliche Leere. Bis zu den Sommerferien dauert es noch über sechs Monate – eine unendlich lange Zeit!

Lindenherz

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