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Theaterwelten

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Auch der Beginn der Pubertät und die Probleme eines Heranwachsenden gehörten für die Jungen zu ihrer Zeit auf dem Gymnasium. Sie traten als 10-jährige Kinder ein und verließen die Schule als junge Männer von 18 Jahren. Sexualität war ein anarchischer Faktor und die bürgerliche Gesellschaft schützte sich davor, indem sie ein duales Verhaltenssystem etablierte. Schule, Familie, populäre Literatur und Zeitungen konstruierten eine Welt, in der Sexualität außerhalb der Abgeschlossenheit des ehelichen Schlafzimmers so gut wie nicht vorkam. Parallel zu dieser konventionellen Welt der bürgerlichen Moral existierte eine florierende Unterwelt der Pornografie und Prostitution. Bezahlter Sex war dabei nicht auf gelegentliche Bekanntschaften und Bordelle beschränkt. Den Wohlhabenden stand vielmehr eine Halbwelt aus Varietés und Künstlerateliers offen, wo attraktive Mätressen jene erwarteten, die bereit waren, sie auszuhalten. Derartige Vergnügungen lagen allerdings außerhalb der finanziellen Möglichkeiten der meisten Schüler. Es gab jedoch eine reizvolle Einrichtung, die als Das süße Wiener Mädel bekannt war, möglicherweise eine Verkäuferin, deren größte Ambition eine aufopfernde Affäre mit einem Hochschulstudenten war. Arthur Schnitzler war ein ausgewiesener Experte in Bezug auf das Thema „Süßes Wiener Mädel“.

Das Wiener Theater befand sich zu dieser Zeit auf einem der Höhepunkte seiner Geschichte. Dank der Arbeiten der großen Dramatiker am Hofburgtheater in der Ringstraße konnte Erwin, zumindest ersatzweise, Erfahrungen aus der Welt der Liebesaffären sammeln. Josef Kainz, der von vielen Kritikern für den besten Darsteller aller Zeiten gehalten wird, brachte hier einige seiner bekanntesten Rollen hervor: Hamlet, Cyrano, Tasso, Orestes, Mephisto, Don Carlos. Des Kaisers Lieblingsschauspielerin, Katherina Schratt, war eine der Hauptdarstellerinnen. Das Wiener Publikum und die Kritiker waren die kompetentesten der Welt; es wurde keinerlei Schlamperei geduldet. Sonntags gab es spezielle Nachmittagsvorstellungen für Schüler und Arbeiterbünde. Wie Stefan Zweig bemerkte, waren die Theater mehr als nur eine Bühne für Theaterstücke, es war eine Art Mikrokosmos, in welchem sich die österreichische Gesellschaft selbst darzustellen pflegte.

Erwin liebte das Theater – er besuchte es, sooft es ihm möglich war, zeitweise zweimal die Woche, und führte ein kommentiertes Verzeichnis der besuchten Aufführungen. Als Schüler war sein bevorzugter Stückeschreiber Franz Seraphicus Grillparzer. Grillparzer wurde 1791 in Wien geboren, dem Jahr, in dem Mozart starb. Er war ein zurückhaltender Mensch, der sein ganzes Leben lang zwischen den Anforderungen seiner Arbeit und romantischen Liebesabenteuern mit wunderschönen, aber unerreichbaren Frauen zerrissen war, und gleichzeitig ein Meister des erotischen Dramas.

Ein Beispiel aus seiner Sappho:

Nach Frauenglut mißt Männerliebe nicht

Wer Liebe kennt und Leben, Mann und Frau!

Gar wechselnd ist des Mannes rascher Sinn,

Dem Leben untertan, dem wechselnden.

Das waren für einen heranwachsenden Schüler ergreifende Dramen. Sie müssen zu Erwins Überzeugung beigetragen haben, dass es im Leben noch mehr als Bücher und Theorie gibt.

Einige Seiten aus Erwins Theater-Notizbuch sind erhalten geblieben, datiert auf Herbst und Winter 1904/05, seinem vorletzten Jahr in der Oberstufe. Sein erster Eintrag bezieht sich auf eines der größten Dramen der deutschen Literatur, Schillers Wallenstein. Am beeindruckendsten fand Erwin die Aufführung am Burgtheater mit Sonnenthal in der Hauptrolle. Am 3. September 1904 wurde am Raimund Theater Friedrich Hebbels (1813–1863) Herodes und Mariamne aufgeführt, eine Tragödie in fünf Akten reimloser Verse. Herodes wurde von Wiecke gespielt, und Erwin war der Meinung, dass er sogar Kainz übertraf, da er mehr Temperament und mehr Wärme zeige: „eine dürre Figur unglaublicher Elastizität“. Am 8. Oktober fand Erwin auf dem obersten Balkon Platz, „aus der Perspektive eines Vogels“, um Hebbels Gyges und sein Ring zu sehen. Er kommentierte das Stück wie folgt:

„Ich glaube nicht, dass ein junger Mensch meines Alters dieses Stück verstehen kann, nicht so sehr die äußere Handlung. Aber genau wie man sich die emotionalen Prozesse, die in anderen Menschen ablaufen, nur vorstellen kann, wenn man derartige Gefühle selbst schon einmal in irgendeiner Form wahrgenommen hat, genauso kann man auch bei der Aufführung nur in einen emotionalen Zustand gelangen, wenn man schon ähnliche Emotionen erfahren hat, und das trifft auf den Gefühlzustand von Rhodope offensichtlich nicht zu.“

Am 26. Januar 1905 sah er Schillers Don Carlos, eine Marathonproduktion. Das Stück begann um 18:30 Uhr und endete um 0:30 Uhr. Die Titelrolle wurde von Kainz gespielt, nicht gänzlich zu Erwins Zufriedenheit: „Ich habe Schillers Briefe über Don Carlos mit Interesse gelesen und glaube, dass ich mit der Zeit ein vollständiges Verständnis des Stückes erlangen sollte.“

Die Wiener Kunstwelt war zur Jahrhundertwende sogar erotischer als das Avantgarde-Theater, da es nicht so sehr darum ging, bei einem zahlenden bürgerlichen Publikum anzukommen. Gustav Klimt führte 1897 eine Revolte junger Künstler an, als er eine Bewegung ins Leben rief, die unter dem Begriff Sezession bekannt wurde. 1894, Klimt war zu der Zeit ein äußerst talentierter, aber ziemlich konventioneller Künstler, erhielt er den Auftrag, drei heroische Deckengemälde für den großen Saal der neuen Universität anzufertigen. Sie sollten die Philosophie, die Medizin und Rechtswissenschaften repräsentieren. Als zum vereinbarten Termin 1900 und 1901 die ersten beiden Gemälde fertiggestellt waren, hatte er sich mittlerweile mit Leidenschaft den Ideen Wagners, Nietzsches und Schopenhauers hingegeben, sie in kraftvolle symbolische Bilder übersetzt und mit verstörenden, erotischen weiblichen Figuren gefüllt, welche die männliche Kunst der Philosophie und Medizin in einem Meer heilloser Sexualität zu ertränken schienen. Das war nicht das, was sich die Universitätsprofessoren und die liberale Regierung vorgestellt hatten. Ein Sturm öffentlichen Protests und persönlicher Schmähungen brach über den reuelosen Künstler ein. Von der Boulevardpresse wurde er beschuldigt, ein schierer Pornograph zu sein, die Geistlichen sahen ihn mit aufrührerischen jüdischen Philosophen im Bunde, die Akademiker bezeichneten ihn als anti-intellektuell und die Sozialdemokraten beklagten seinen Mangel an Optimismus in Bezug auf die Zukunft der Gesellschaft. Diese Auseinandersetzung zog sich einige Jahre hin. Die Regierung versuchte standhaft zu bleiben, aber die Gemälde schmückten nie die Universität, sondern wurden in das Museum Moderner Kunst überführt.

Wie wurde Erwin als Heranwachsender von der erotischen Kunst des avantgardistischen Wiens beeinflusst? Unter den Papieren, die er sein Leben lang aufbewahrte, befanden sich Kopien der Zeitschrift des Wissenschaftsklubs der Universität. Die Ausgabe von 1909 zeigt eine erotische Zeichnung, die mehr oder weniger auf Klimts „Fischblut“ zurückzuführen war. Wie so viele Zeichnungen und Bilder Klimts ist es ein verzweifelter Versuch, „das Gefühl der Weiblichkeit zu erfassen“. Ein Großteil Erwins erotischen Lebens war vermutlich ähnlichen Gedanken gewidmet – es ging ihm nicht darum, eine Frau zu besitzen oder zu dominieren, sondern das Wesen ihrer Sinnlichkeit einzufangen, indem er sie durch sie und mit ihr erfuhr.

Aber all das sollte Zukunftsmusik sein. Die Avantgarde war gewiss nicht die Welt von Erwin Schrödinger und Tonio Rella, als sie gemeinsam im Herbst 1906 das Studium aufnahmen. Erwins Romanze mit Lotte Rella dauerte an, aber sie bewegte sich innerhalb der Grenzen, die durch die damalige Moral bestimmt wurden. Erwin notierte die Namen aller Liebschaften in seinen Ephemeridae und versah sie mit einem Hinweis auf die Trennung. Diese Aufzeichnungen sind erhalten geblieben.

Erwin Schrödinger

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