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Der Hochschulstudent

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Als Erwin im Herbst 1906 mit dem Studium begann, eilte ihm dank seiner gymnasialen Reputation der Ruf eines hervorragenden Schülers, sogar der eines Genies, voraus. Dieser Ruf wurde bald durch seine brillanten Leistungen in Mathematik und Physik bestätigt. Hans Thirring, der 1907 an die Universität kam, erinnert sich an seine erste Begegnung mit Erwin in der Bibliothek der mathematischen Fakultät. Ein Student kam herein, stählerne grau-blaue Augen und blonder Harrschopf. Ein anderer Student stieß Hans leise an und sagte: „Das ist der Schrödinger“. Alle Studenten nahmen ihn als jemand Besonderen wahr. Auch war er nicht abweisend oder reserviert, sondern half häufig, wenn Schwierigkeiten in Mathematik oder Physik auftraten. Erwin und Hans wurden gute Freunde und Hans merkte an: „Wir sahen in ihm einen Forschergeist bei der Arbeit, jemand der sich immer einen Weg zu etwas Originärem bahnte, zu jedem Forschungsthema.“

Sein bester Freund zu Studienzeiten war der Botanikstudent Franz Frimmel, genannt Fränzel, von dem er sagt, dass er sein einziger wirklicher Freund gewesen sei. Sie verbrachten gemeinsame Stunden ohne Unterbrechung mit der Diskussion philosophischer Fragestellungen, von denen er später meinte, dass es sich hierbei um Themen gehandelt habe, die jedem heranwachsenden Studenten aufregend erscheinen. Manchmal liefen sie in der Abendzeit lange in der Stadt herum, diskutierten ihre Meinungen in Bezug auf den Sinn des Lebens und kamen nicht vor den frühen Morgenstunden zurück. Während dieser Freund eine große Ehrfurcht vor der Religion hatte, zeigte Erwin zu dieser Zeit eine heftige Abneigung ihr gegenüber. Er war der Überzeugung, dass Fränzels „Religionslehrer ihn von dem wahren Lebensweg abgebracht hatten“ – vermutlich, indem sie ihm den Zugang zu biologischen Fragestellungen erschwerten.

Erwin und Fränzel lasen zusammen und diskutierten detailliert das 1904 erschienene Buch Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Es war das einzige Mal, dass Erwin auf diese Art und Weise gemeinsam mit einer anderen Person ein Buch las. Dieses hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung seiner philosophischen Ideen, allerdings wird es schwierig sein, allen Nutzen zu erfassen, den er in dem Buch gefunden haben wird. Möglicherweise hatte es das Buch seinem Freund Fränzel angetan und er teilte Erwin seine Begeisterung mit. Jahre später, als er sich an der italienischen Front mit der Philosophie beschäftigte, erwähnt er Semon erneut und bezeichnet ihn als einen wichtigen Einflussfaktor in Bezug auf sein Denken. Sein Buch Was ist Leben?, das eine solch enorme Wirkung auf die Molekularbiologie hatte, muss seinen Ursprung in diesen mitternächtlichen Diskussionen mit Fränzel über die Theorien der lebendigen Organismen gehabt haben.

Richard Semon erwarb seinen Doktortitel 1883 in Jena. Er war ein Lieblingsschüler Ernst Haeckels, von dem er die Faszination für die weitreichende Theorie übernahm, die alles zu erklären versucht. Der Grundgedanke der Philosophie von Die Mneme leitet sich indessen von Lamarck ab. Erwin verkaufte alle Bücher seines Vaters nach dessen Tod, eine Maßnahme, zu der er aus finanziellen Gründen gezwungen war und die er noch sehr bedauern sollte. Unter den wenigen Werken, die er zurückbehielt, war Philosophie Zoologique von Jean Baptiste Lamarck, ursprünglich 1809 publiziert. Lamarck wurde als Begründer der Lehre über die Vererbung von erworbenen Eigenschaften bekannt, vertrat seine Position aber niemals dogmatisch. Seine Nachfolger teilten sich auf zwei Gruppen auf: die Mechano-Lamarckisten und die Psycho-Lamarckisten. Ein modernes Beispiel für erstgenannte Gruppe ist Trofim Lysenko. Die Just So Stories von Kipling enthalten mehrere Fabeln mit Lamarck’schen Elementen, wie zum Beispiel: How the elephant got its trunk. Es geht hier um die Frage, in welchem Umfang durch Umweltbedingungen hervorgerufene Veränderungen des Phänotyps den Genotyp beeinflussen können, die Erbinformationen, die an den Nachwuchs weitergegeben werden. Konsens ist heute, dass solche Effekte allenfalls eine Nebenrolle im Vererbungsgeschehen spielen. Im größten Teil von Die Mneme scheint Semon die Konzepte Lamarcks zu akzeptieren. In einem der letzten Kapitel betont er aber die selektiven Mechanismen und die Evolution nach Darwin’schem Vorbild.

Den Psycho-Lamarckismus kennzeichnet eine etwas mysteriösere Theorie, die möglicherweise erklären mag, warum das Thema für Erwin und Fränzel in ihrer späten Phase des Heranwachsens von Interesse war. Besteht eine Wechselwirkung zwischen einem Organismus und seiner Umwelt, wird in dessen Geist eine Gedächtnisspur produziert. Diese Erinnerungen können an die Nachkommen weitergegeben werden, entweder durch Beeinflussung der Keimzellen oder direkt durch irgendeine Art der psychischen Vererbung. Instinktive Verhaltensweisen werden als Beispiel für diese vererbte Erinnerung angesehen. Ein ähnlicher Ansatz wurde schon früher von Ewald Herring, Professor für Physiologie in Prag und ein Kollege Ernst Machs, in Umrissen dargestellt. Auch fand die Idee in England durch Samuel Butlers Buch Unconscious Memory – ein weiteres Werk von ihm ist Erewhon – eine gewisse Verbreitung. Ein eloquenter Vertreter des Psycho-Lamarckismus war auch der Schweizer Psychiater Carl Jung.

Semons Grundannahme war, dass sich alle biologischen Phänomene auf die Existenz einer Art Erinnerungsaufzeichnung in der lebenden Zelle zurückführen lassen, die er als Mneme bezeichnet. Demnach leiten sich Vererbung, Differenzierung, Regeneration, Entwicklung, instinktives und erlerntes Verhalten, das bewusste Abrufen vergangener Ereignisse, motorische Fertigkeiten und alles weitere aus der Mneme her. Beide, die ererbten und die erworbenen Eigenschaften eines Organismus, werden von den Engrammen kontrolliert, die sich innerhalb der Zellen befinden. So ist die Regeneration der Gliedmaße eines Molches auf die Engramme für die Gliedmaßbildung zurückzuführen und die Capri-Erinnerung eines Reisenden, hervorgerufen durch den Duft heißen Olivenöls, folgt aus den korrespondierenden Engrammen seiner Gehirnzellen. Als Mneme wird nun die Summe aller Engramme bezeichnet, die ein Organismus durch Vererbung erlangt oder erworben hat. Die Entstehung eines Engramms wird durch einen Reiz hervorgerufen, den man sich als eine Veränderung des energetischen Zustands des Organismus vorzustellen hat.

Warum ging für Erwin von diesem Buch eine solche Faszination aus? Zwei Gründe sind vorstellbar. Zum einen hatte er keine besondere biologische Ausbildung; die Biologie war eine terra incognita, in welcher man ohne Bestürzung bizarren Konzepten begegnen konnte. Zum anderen, vermutlich der wichtigere Punkt, waren alle deutschsprachigen Wissenschaftler vom Geist Goethes durchdrungen, dem größten Naturphilosophen aller Zeiten. Ganz gleich, wie kühl und abstrakt die universitäre Ausbildung war, sie nahmen in ihrer Jugend Goethes Gefühl für die Einheit der Natur in sich auf:

„Treue Beobachter der Natur, wenn sie auch sonst noch so verschieden denken, werden doch darin miteinander übereinkommen, daß alles, was erscheinen, was uns als ein Phänomen begegnen solle, müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, andeuten und sich auf eine solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.“

Erwin und Fränzel, wie sie in den Straßen Wiens umherstreiften und die sanften Gaslichter ihre Schatten über die Bürgersteige schoben – so kann man sich schon gut vorstellen, dass sie von mehr als nur Semons weit hergeholten Analogien bewegt wurden. Einer von ihnen äußerst religiös, der andere eher agnostisch, suchten sie gemeinsam Lösungen für das Rätsel des Daseins zu ergründen.

Erwin Schrödinger

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