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Die Sozialstation

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Ich erwähnte bereits, dass ich mehr zufällig von dieser Station erfuhr, die einem ungewöhnlichen Konzept folgte und die, wie ich heute sagen kann, damals der Zeit in vielen Dingen voraus war.

Ich ahnte nicht, dass ich dabei auf Anthonys Schwester treffen würde, die nicht mehr den Familiennamen trug.

Anthony und ich hatten uns damals etwas aus den Augen verloren. Das sollte sich mit diesem Tag wieder ändern.

Ich interessierte mich einfach als Reporter für dieses Projekt.

Unbeabsichtigt traf ich etwas vorzeitig ein und musste zunächst mit einer Mitarbeiterin der Station vorlieb nehmen, was ich doch bald nicht bereute. Es war eine ältere etwas mollige, sehr hilfsbereite und redselige Dame, die sich sofort anbot, mich herumzuführen. Sie hieß Schwester Eveline, es war Tamaras immer dienstbereite zweite Hand auf dieser Station.

Ihre Wangen glühten vor Eifer, während sie mich mit den einzelnen meist bunt bemalten Baracken und Werkstätten auf dem Gelände hinter dem Eingangsgebäude vertraut machte. Ich habe den Klang dieser Stimme noch gut im Ohr, und so will ich sie hier auch selber sprechen lassen, bevor ich mich mit einem Bericht abmühe, der doch nur trockener ausfallen kann als ihrer.

„Die Leute erledigen hier kostengünstig Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten jeder Art – an Hausgeräten, an Möbeln, an elektrischen Apparaten, an kleineren Fahrzeugen. Eigentlich alles, was repariert werden kann, kommt hier an und wird auch in kurzer Zeit repariert. Auf alles gibt es anschließend eine Garantie. Wenn etwas nachher nicht wirklich funktioniert, stehen die Leute gleich wieder mit einer Reklamation vor der Tür. Und deshalb kommt es auch praktisch nie vor.

So etwas spricht sich herum. Die Leute, die hier arbeiten, haben über Aufträge nicht zu klagen.“

Überall vor und in den Baracken und Werkstätten sah ich Leute arbeiten, jüngere und ältere, Männer so wohl wie Frauen. Sie reparierten Fahrräder und Motorräder, erneuerten Polster oder besserten sie aus, reparierten Puppen und Kinderspielzeug. Es herrschte ganz offensichtlich eine fröhliche Stimmung.

„Ein Schlag, wenn auch nur ein kleiner,“ fuhr Schwester Eveline fort, „gegen die Großproduzenten und Warenhäuser mit ihrer Wegwerfmentalität und ewigen Produktionssteigerungsideologie. Ein Großteil dessen, was wir üblicher Weise entsorgen, gehört noch lange nicht in den Müll. Viele Leute in diesem Viertel begreifen das. Sie sehen, dass sie viel sparen. Und sie begreifen sogar, dass sie dabei an Lebenswert und Lebensfreude nichts einbüßen.

Und die Menschen, die hier arbeiten – alles Leute, die oft seit Jahren traurig als Arbeitslose herumsaßen – haben ihre Lebensfreude wieder entdeckt. Und ihr Selbstwertgefühl. Wissen Sie, was das Schönste ist? Wenn die Kunden kommen und ihre Reparaturwünsche mit den Leuten, die hier arbeiten, besprechen. Denken Sie an den Unterschied: Jemand kommt, um eine alte Puppe reparieren zu lassen oder eine alte Kommode. Der Mann oder die Frau, die nun reparieren, kennen genau das Gesicht – sie wissen, für wen sie es tun. Das löst etwas aus: Sein Bestes zu geben und später die Freude auf diesem anderen Gesicht zu sehen. Dies ist der Unterschied. Viele, die immerhin Arbeit haben, sitzen in einer Fabrik und stanzen gesichtslose Einzelteile. Sie erfahren nie, wer sich daran freuen wird. Und so bleibt auch ihre eigene Freude schattenhaft und grau. Ihr ganzes Interesse gilt ihrer Lohntüte. Eine schließlich armselige Freude.

Da gibt es vieles, das wir in unserer automatisierten Wohlstandgesellschaft vergessen haben: Wie Freude entsteht.

Und dass nicht das Geld sondern dass die Freude das wichtigste ist.“

Einer der Arbeiter drückte beim Anblick Evelines jetzt verschämt seine Zigarette aus.

„Ja. Wir haben in den Baracken ein Rauchverbot. Zweimal brannte eine Baracke nieder, weil einer der Leute dort unachtsam eine Zigarette liegen ließ.

Wir haben schließlich darüber abgestimmt. Die Leute selbst waren mehrheitlich dafür, dass jedes Rauchen während der Arbeit verboten wird.

Das ist auch so ein Punkt: Die Leute sind im Prinzip sehr vernünftig. Was man erklärt und nachher gemeinsam in Ruhe aushandelt, das führt auch zum Zuspruch und zur Abstimmungsmehrheit. Man muss solche Gesetze nicht von oben verordnen. Die Leute, wenn man sie erst zum Denken bringt, tun es selbst.“

„Wird alles so entschieden – alles in gemeinsamer Abstimmung der Leute hier?“ fragte ich.

„Fast alles, ja.

Für Tamara ist es ein Prinzip. Sie mag das Wort ‚Chefin’ nicht. Sie sieht sich nur als ‚Verwalterin’. Und sie vermittelt den Leuten auch das Gefühl, dass sie es tatsächlich so meint. Dafür liebt man sie hier.“

Sie führte mich zu einer weiteren Baracke, die voller Kühlschränke stand.

„Schauen Sie hier: ein neues Projekt. Es steht erst am Anfang. Leute von der Station sammeln an jedem Abend das nicht verkaufte Essen ein – speziell bei den Bäckereien den liegen gebliebenen Kuchen, die Torten, die Brötchen. Alles was üblicher Weise sonst abends entsorgt wird. Doch auch bei den Gemüsehändlern werden sie vorstellig. Sie sammeln das Angewelkte, alles was dem Anspruch üblicher Kunden nicht mehr genügt und was doch noch gut essbar ist. Sie bringen es in Obdachlosenasyle und Altersheime. Oder wir verzehren es hier. Kuchen vom Vortag – es sind oft ganze Kuchenberge und sie bieten Gourmetfreuden in Fülle.“

Schwester Eveline ging auf eine längere Baracke zu, die eine ästhetisch besonders reizvolle Bemalung hatte, es standen Bildhauerarbeiten so wie geschnitzte Holzfiguren davor, einige offenbar noch in Arbeit.

„Schauen Sie! Wir haben auch einige Künstler unter uns, sie arbeiten in der Regel wie alle anderen in den Werkstätten. Doch sie nehmen sich ihre ‚Künstlertage’, und dann schaffen sie solche kleinen und manchmal auch schon sehr beachtlichen Kunstwerke.“

Sie streichelte liebevoll über eine der Holzplastiken, einen Wolf, auf dessen Rücken sich genüsslich eine Katze ausstreckte.

„Die Kunstwerke stehen zum Verkauf und manchmal, freilich nicht oft, werfen sie bemerkenswerte Gewinne ab. Ich sagte ihnen schon, dass alle Gewinne hier in der Station gleich verteilt werden? Das heißt: Wenn es der Gemeinschaft gut geht, verdient jeder einzelne gut.

Bei einem Kunstwerk freilich gibt es ein paar Sonderregelungen und es gibt Sonderprämien. Und auch wer handwerklich und bei Reparaturen Beachtliches leistet, kann mit Sondervergütungen rechnen. Auch das wird in gemeinsamen Abstimmungen festgelegt.“

Sie öffnete die Tür. Ich blickte in einen Raum, der mit weiteren Bildhauerarbeiten gefüllt war – wie auch mit einer Reihe von Staffeleien. Überall an den Wänden hingen Bilder, oft die Wand bis zum Boden bedeckend.

„Immer wieder gibt es hier Leute, die plötzlich ihr malerisches und bildhauerisches Talent entdecken. Manche leisten Beachtliches – ich könnte mir einige ihrer Werke sogar in den öffentlichen Museen vorstellen, jedenfalls müssten sie den Vergleich mit anderen Werken zeitgenössischer Künstler nicht scheuen.

Den Platz in die Museen werden sie wahrscheinlich nie finden. Doch etwas anderes geschieht: Tamara vermittelt sie an Krankenhäuser oder öffentliche Einrichtungen. Dort haben sie dann ihren Platz für den ganz ‚alltäglichen Gebrauch’, wenn ich so sagen darf. Und der Künstler weiß, wer die Menschen sind, die seine Kunstwerke ansehen.

Wieder ein kleines Plus an Freude.

Lassen Sie uns nun zur Kapelle gehen!“

Sie schlug den Weg zu einem hübschen weißen Gebäude ein mit zwei Kuppeltürmchen und einer Reihe bunter Glasfenster.

Ich hatte von dieser Kapelle bereits gehört, auch manches was mir eher skurril erschien.

„Man erzählte mir von den Andachtsfeiern in der Kapelle und dass dort auch getanzt wird.“

„Während der Andacht?

Nein. Auch feiern wir keine wilden, ausschweifenden Feste, wie manche Gerüchte behaupten.

Die Leute – diese in den angrenzenden Häusern und Straßen – lassen gern ihre Fantasien spielen. Alles was ihre eigenen Wünsche sind, die heimlichen und nicht ausgelebten, packen sie in diese Fantasien hinein. Und sind erst die ersten Gerüchte in der Welt, pflanzen sie sich in Windeseile fort.

Nein, Orgien feiern wir nicht – auch wenn es keine Tabus für den einzelnen gibt, wie er sich das Leben genussvoll macht. Alles was nicht auf Kosten eines anderen geht, unterliegt keinem Tabu und keinem Verbot.

Kommen Sie! Werfen wir einen Blick hinein.“

Wir betraten die Kapelle, die im sanften Licht der farbigen Glasfenster schimmerte.

Unter einer gleichfalls mit Glasfenstern ausgestatteten Kuppel befand sich ein kleiner mit Kerzen und Blumen geschmückter Altar. Auf der rechten Seite standen und hingen eine Reihe von Instrumenten: ein Keyboard, Geigen und Gitarren, ein Bass, Trompeten und andere Blasinstrumente sowie Schlagzeuge.

„In jedem Fall aber wird musiziert!“

„Reichlich!“ sagte Schwester Eveline, und ihre Wangen glühten immer noch kräftiger. „Und es wird auch getanzt und gefeiert. Doch nicht während der Andacht, manchmal muss auch Einkehr und Ernst sein.“

„Es sind Andachtsfeiern ohne professionelle Pfarrer oder Priester, wie ich hörte – das ist doch diesmal korrekt? Und es wechseln die unterschiedlichen Konfessionen - es gibt protestantische und katholische Andachten, auch solche von Adventisten und anderen christlichen Religionsgemeinschaften; selbst von Buddhisten und Moslems.“

Wir wanderten an den Glasfenstern entlang.

„Das entscheiden die Leute hier in der Station,“ sagte Eveline. „Wer eine muslimische Andachtsfeier gestalten will, lädt die anderen dazu ein. Jeder kann seine eigene ihm wichtige Andachtsfeier den anderen anbieten. Und er kann auch einen Pfarrer beauftragen. Das tun nur wenige.

Wenn am Sonntag eine Andacht gefeiert wird, dann folgt meistens ein gemeinsames Fest. Dann wird musiziert und getanzt. Dann wird gut gegessen und gut getrunken.

Tamara sagt es so: Dem kleinen Fest für Geist und für Seele soll nun ein Fest für Seele und Körper folgen – nicht geistlos, doch die Leute dürfen sich den Wanst vollschlagen, so viel wie sie wollen.

Freilich, wer stark betrunken ist und zu pöbeln beginnt, der wird in eine Baracke verbannt und muss zunächst seinen Rausch ausschlafen.

Ich sagte es schon: Es gibt durchaus gewisse Gesetze. Wir haben sie gemeinschaftlich so festgelegt.“

Wir verließen die Kapelle. Jetzt blickten wir auf den dahinter liegenden Sportplatz.

„Dort ist sie – wie ich es vermutet habe,“ rief Schwester Eveline aus.

Auf dem Sportplatz tummelte sich eine Gruppe von jungen Männern bei einer Baseballspiel-Übung. Es waren Weiße, Schwarze und Puertoricaner gemischt. Eine Frau am hinteren Ende pfiff jeweils die Schüsse an.

Plötzlich griff die Frau selbst den Schlagknüppel und schlug den Ball in phantastisch hohem Bogen über den Platz. Beifall, laute Ho!Ho!-Rufe der versammelten jungen Männer. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung.

„Wollen wir zu ihr?“

Eveline zögerte. „Wissen Sie – ich erzähle Ihnen so selbstverständlich all diese Dinge über unsere Station und ich vergesse oft dabei, dass ich so vieles eigentlich hier erst gelernt habe.

Ich selbst stamme aus einem Elternhaus mit einer stark religiösen Prägung. So war auch meine Erziehung. Mir wurde beigebracht, und ich glaubte es auch, dass ein gottgefälliges Leben ein Dasein in Verzicht und Askese bedeutet. Körperliche Freude war verpönt, die Freude am Essen noch gerade geduldet.

Ich musste das alles umlernen. Und ohne Tamara wäre es mir wohl nie gelungen. Sie sagt es mit ganz einfachen Sätzen: Alles was die Kirche an Sünden erfunden hat, können wir getrost vergessen – bis auf eine: Einen anderen Menschen schädigen, ihn belügen, bestehlen oder ihm Gewalt antun – das tatsächlich ist Sünde. Es ist die einzige.

Wer ein gottgefälliges Leben führen will, der muss dieses einzige Gebot beachten. Es gibt kein anderes, das wichtig wäre.“

Tamara, die Frau am Ende des Feldes, hatte uns jetzt erspäht.

Sie kam auf uns zu.

Schwester Eveline stellte mich vor.

Tamara war durch meine telefonische Anfrage bereits im Bild. Wir schüttelten uns freundlich die Hand.

„Sie schlagen fantastische Bälle.“

„Alles eine Sache der Übung.“

„Sie haben diese Station aufgebaut. – Allerdings sehen Sie sich nicht als Chefin oder wollen jedenfalls so nicht genannt werden.“

Tamara lachte. „Hat Schwester Eveline Sie da bereits informiert? - Chef und Chefin ist hier jeder für seinen eigenen Arbeitsbereich. Chefsein bedeutet, dass man verantwortlich ist.“

„Ja, Schwester Eveline hat mich eben herumgeführt und mir schon vieles gezeigt und erklärt. Ich war sehr beeindruckt. Vor allem von den demokratischen Abstimmungen und der solidarischen Verteilung der Gelder.“

Tamara lachte erneut. „So ist es: dass das eigentlich Selbstverständliche uns überrascht und beeindruckt, wenn wir es irgendwo in der Wirklichkeit antreffen.

Der Maßstab ist: Wann sind die Leute zufrieden und glücklich? Übrigens, wenn sie es sind: dann arbeiten sie auch effektiv – mehr als sie es sonst tun. Viele professionelle Unternehmer haben noch immer versäumt, das zu begreifen.

Wenn Sie wollen, gehen wir ins Haus und Sie können mir gern einige weitere Fragen stellen.“

Und jetzt stand mir die erst wirklich große Überraschung bevor. Als wir Tamaras Arbeitsbüro betraten, entdeckte ich ein kleines Familienfoto an der Wand: Tamara, etwa im Alter von Mitte zwanzig, der Vater, die Mutter, bei ihnen ein Halbwüchsiger mit den Zügen von Anthony.

Mein Blick bohrte sich in das Bild. Eine Täuschung?

Nein, Anthony und ich kannten uns seit dem neunzehnten Lebensjahr. Dies war unverkennbar das Gesicht des jungen Anthony.

So wagte ich nun zu fragen. Ich nannte Anthonys vollständigen Namen.

Er war es: ihr Bruder.

Anthony hatte mir gegenüber einmal eine acht Jahre ältere Schwester erwähnt. Doch nie hatte er Genaueres von ihr erzählt. Auch ihre Sozialstation erwähnte er nie.

Warum sich dies so verhielt, erfuhr ich bald darauf.

Das Schweigen Anthonys bedeutete keine innere Distanz gegenüber der Schwester. Im Gegenteil, sie fühlten sich immer sehr eng verbunden.

Doch gab es da vor Jahren ein trauriges bitteres dunkles Kapitel in Tamaras Leben, das dieses Leben fast zum Scheitern gebracht hätte. So vermied Anthony das Reden über sie damals fast ganz.

Ich werde später davon berichten.

Jetzt kehre ich zu unserem kleinen Warteraum auf der Insel zurück.

Eine große Freude stand uns bevor, mir und Patrick.

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