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4.5. Die VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen

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Kommen wir noch einmal auf die zentrale Aussage der Lévinasschen Alteritäts-Philosophie, auf die VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen, auf die Tatsache, dass er uns immer zuvorkommt, zu sprechen: Wie zeigt und wie manifestiert sich diese AnwesenheitAnwesenheit des Anderen in mir? Um LévinasLévinas, Emmanuel’ Denkweise zu verstehen, sei noch einmal auf das, was DerridaDerrida, Jacques als „DislokationDislokation des griechischengriechisch LogosLogos“ bezeichnet hat, verwiesen. Diese Dislokation, diese Dezentrierung bzw. VerschiebungVerschiebung, wird aus einer Perspektive vorgenommen, die geistesgeschichtlich betrachtet unverzichtbarer Teil der okzidentalen TraditionTradition ist, nämlich die personale Gottesvorstellung im JudentumJudentum und den aus ihm hervorgegangenen ReligionenReligion. Lévinas’ Philosophie ist insofern säkularisiertes Judentum (und bis zu einem gewissen Grade auch ChristentumChristentum), als sie die Vorstellung von GottGott als dem Anderen, der uns anspricht, in ihrer Denkstruktur aufnimmt und systematisch ausbreitet. Aus dem transzendenten jenseitigen ‚Gott‘ wird ein ‚antezendentaler‘, d.h. uns vorausgehender und von uns nicht gewählter, immanenter und diesseitiger Anderer, den wir schon in uns selbst antreffen, noch ehe er uns äußerlich begegnet sein muss.

Die Präferenz des Anderen gegenüber dem SelbstSelbst thematisiert Lévinas nun auf unterschiedliche Weise:

1 Die erste Erfahrungsweise dieser VorgängigkeitVorgängigkeit ist die Epiphanie des Antlitzes.1 „Das GesichtGesicht ist keine Metapher und keine Figur […]“, fügt DerridaDerrida, Jacques kommentierend an.2 Das altertümliche deutschedeutsch Worte AntlitzAntlitz enthält im Gegensatz zum Gesicht, das sich vom Passiv ‚gesehen werden‘ ableitet, die KonnotationKonnotation eines aktiven Gegenübers, das ich ansehe, dass es mich ansieht: „Das Antlitz ist nichts anderes als die IdentitätIdentität des seins. Es zeigt sich, wie es selbst ist, ohne Begriffe.“3 Vorgängigkeit wiederum besitzt einen zeitlichen und einen prinzipiellen Aspekt, etwas/jemanden, das/der mir stets zuvorkommt und das/der mich anspricht, bevor ich selbst das Wort erhoben habe.Diese DifferenzDifferenz ist aber nicht eine, die mir äußerlich gegenübertritt, sondern die schon immer in mich eingeschrieben ist. Dieser Vorrang manifestiert sich in dem, was Lévinas als EpiphanieEpiphanie des Antlitzes bezeichnet. Wobei das Wort Epiphanie in unserer kulturellen TraditionTradition, wie schon angedeutet, eine religiöse Aufladung in sich trägt, eine FormForm von Erscheinung, deren Bedeutung über die reine Wahrnehmung hinausgeht und auf etwas zielt, was Evidenz besitzt.Das AntlitzAntlitz ist also eine Art InstanzInstanz, die über die bloße Sichtbarkeit hinausgeht und die sich auch darin manifestiert, dass der Anblick GottesGott unerträglich ist. Das GesichtGesicht ist aber auch – und hier klingt wohl auch die phänomenologische Schulung an – die verletzliche Stelle des Anderen. In ihr manifestiert sich zugleich die GesteGeste der Zuwendung (oder auch der Abwehr). Jene Geste steht in der philosophischen Formel von der EpiphanieEpiphanie des Antlitzes im ZentrumZentrum. Epiphanie, ein griechischesgriechisch Wort aus dem neutestamentarischen Kontext, bedeutet: in Erscheinung treten, sich offenbaren. In der alteritärenAlterität Begegnung, so ließe sich sagen, tritt der Andere im Gestus seines bloßen, nacktennackt, ungeschminkten Gesichtes, unabhängig von dessen spezifischer Beschaffenheit in Erscheinung. Mehr als alle anderen körperlichen Dimensionen manifestiert sich im „Antlitz“ ein SeinSein, das vom Anderen her zu denken ist. DerridasDerrida, Jacques Kommentar aus dem Jahre 1967 bringt das recht bündig auf den Punkt, wenn er schreibt:Im GesichtGesicht teilt sich der Andere leibhaftig als Anderer mit, das heißt als etwas, was sich nicht offenbart, als das, was sich nicht thematisieren läßt. Ich kann unter keinen Umständen über den Fremden reden, ein Thema aus ihm machen, ihn im Akkusativ als Gegenstand bezeichnen. Ich kann allein, ich darf einzig und allein zum Fremden sprechen, ihn im VokativVokativ anreden, der keine Kategorie und kein Kasus der SpracheSprache, sondern das Hervortreten, die Erhöhung der Sprache selbst ist.4

2 Um den Anderen zu ‚verstehen‘, kann ich nur in Kontakt mit ihm treten. Genauer gesagt stehe ich jedoch vielleicht bereits ohne es zu wissen oder zu wollen im Kontakt mit ihm. Er hat mich nämlich angerufen: Er manifestiert sich nicht nur als AntlitzAntlitz, sondern auch als die StimmeStimme, als der RufRuf, der mich ereilt.5 Damit bekommt aber der Begriff der VernunftVernunft eine völlig verschobene Bedeutung: Vernunft lässt sich als ein Vernehmen dessen begreifen, was jemand gesagt hat. Dabei ist das Sprechen nicht nur ein instrumentales Medium der KommunikationKommunikation, vielmehr ist sie, der das PhänomenPhänomen von Stimme und Ruf zugrunde liegt, selbst eine EpiphanieEpiphanie des Anderen. Die SpracheSprache richtet sich an dieses ‚fremdefremd‘ unerreichbare Gegenüber, das indes in ihr nicht begrifflich enthalten ist. Das heißt aber, dieser (oder auch diese und dieses) ist auf paradoxe Weise in der Sprache enthalten und manifestiert sich im So-SeinSein der Sprache selbst, eben weil er begrifflich nicht in ihr vorkommt. Mit anderen Worten: Die Sprache enthält ein Moment der Zuwendung, des Auf- und Anrufs. Deshalb ist der VokativVokativ, dieser scheinbar marginale Kasus der Grammatik europäischer Sprachen, für das Verständnis der Sprache selbst zentral: weil die Sprache immer schon eine Anrede, ein kommunikativer Akt ist.

3 Um die ethischeEthik Implikation, die in der menschlichen Grundkonstellation der AlteritätAlterität enthalten ist, zu verstehen, muss man noch einmal auf die Figur des personalen GottesGott eingehen, der strukturell das Modell für das PhänomenPhänomen des Alteritären für LévinasLévinas, Emmanuel abgibt und der sich als unsichtbares, transzendentes GesichtGesicht (AntlitzAntlitz) und als vernehmbare StimmeStimme offenbart. In der LogikLogik von Lévinas fallen dabei Immanenz und TranszendenzTranszendenz tendenziell zusammen. Der konkrete empirische MenschMensch vertritt dabei den Anderen schlechthin, der mich transzendiert, das heißt hier übersteigt. Die Begegnung mit dem Anderen hat nämlich eine strukturell religiöse Dimension. Dieser Andere bleibt nämlich ein Geheimnis und begründet zugleich eine InstanzInstanz, die mich als ethisches und freies Wesen konstituiert.

4 Das Vis-à-vis „ist das einzige Wesen, das ich töten wollen kann“, es ist aber das einzige, das mir den Befehl erteilt; ‚Du wirst keinen Mord begehen‘ und meine MachtMacht absolut einschränkt“.6 Das was früher einmal Metaphysik gewesen ist, kristallisiert sich als eine EthikEthik heraus, die als Seinslage des MenschenMensch bestimmt ist.

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