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6.2. EinschlussEinschluss im AusschlussAusschluss: Die Figur des Fremden bei Georg SimmelSimmel, Georg

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Wie der Luzerner SoziologeSoziologe Rudolf StichwehStichweh, Rudolf anmerkt, sind in den Jahren zwischen 1890 und 1945 eine Reihe von Texten publiziert worden, „für die sich heute der Name einer SoziologieSoziologie des Fremden anbietet“.1 In diesem Zusammenhang fallen unter anderen auch die Namen von Georg SimmelSimmel, Georg (1858–1918),2 Robert Ezra ParkPark, Robert Ezra (1864–1944), Werner SombartSombart, Werner (1863–1941) und Alfred SchützSchütz, Alfred (1899–1959). Sie gelten als zentrale Stichwortgeber in einer Disziplin, für die das Thema nicht nur wie geschaffen schien, sondern auch durch die die Figur eine bedeutsame kulturanthropologische Weitung erfuhr.

Der Text von Georg SimmelSimmel, Georg, der neben Karl MarxMarx, Karl und Alfred WeberWeber, Samuel als einer der Mitbegründer der deutschendeutsch SoziologieSoziologie gilt, steht dabei zeitlich am Anfang, erschien er doch bereits im Jahre 1908. Mit der Figur des Fremden hat sich Simmel, der nicht zuletzt auch als Theoretiker des Geldes, der Mode und der GeschlechterGeschlecht hervorgetreten ist, Horst StengerStenger, Horst zufolge „immer wieder beschäftigt, mit Fremdheitserfahrungen kaum, jedenfalls nicht mit einem deutlich konturierten systematischen Interesse“.3 Diese Ansicht ist weit verbreitet und zugleich erstaunlich, schon deshalb, weil sie die systematische Absicht hinter der essayistischen FormForm übersieht. Mit Simmels kultursoziologischem ‚Gründungstext‘ über den Fremden liegt nämlich eine schwergewichtige und äußerst verdichtete Abhandlung vor, die sowohl die Figur und Funktion des Fremden als auch dessen ErfahrungenErfahrung in Augenschein nimmt. Woran sich die aktuelle Soziologie reibt, ist womöglich jene unsystematische, ‚essayistische‘ Verfahrensweise eines ihrer Gründungsväter. Dabei bleibt außer Acht, welche reflexive, analytische Leistung und welche Plastizität durch diese kreisende und assoziative Denkbewegung möglich sind. Gerade im Hinblick auf ein überaus komplexes und paradoxes PhänomenPhänomen wie FremdheitFremdheit kann dieses Verfahren neue Bedeutungskontexte eröffnen.

Zentrale TheseThese bei SimmelSimmel, Georg ist, dass sich FremdheitFremdheit als eine soziale Beziehung und Position begreifen lässt. Dieses Alteritätskategorie ist demzufolge keine substanzielle Eigenschaft, sondern relational und darüber hinaus kontextabhängig. Ähnlich wie in den Texten von Alfred SchützSchütz, Alfred und Robert Ezra ParkPark, Robert Ezra4 kommt dabei auch die Binnenperspektive des Fremden, also die FremdheitserfahrungFremdheitserfahrung zur SpracheSprache. Wie wir gesehen haben, macht es in Hinblick auf das Thema dieses Buches einen erheblichen Unterschied, ob man diese aus der subjektiven Perspektive des- und derjenigen, der/die die ErfahrungErfahrung von Fremdheit und die damit verbundene Zuschreibung von außenAußen erfährt, erlebt, oder ob man diese aus einer Außenperspektive darstellt.

SimmelsSimmel, Georg zentraler Text über den Fremden findet sich in einem Werk, das auf GrundGrund seines Titels ein systematisches Vorgehen suggeriert: SoziologieSoziologie. Untersuchungen über die FormenForm der VergesellschaftungVergesellschaftung. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Werk aber als überaus heterogenHeterogenität und enthält viele Themen, die Simmel in knappen, essayistisch behandelten Texten behandelt hat: Streit und Geheimnis, Raum und Erbamt (Vererbung eines herrscherlichen Amtes), Schmuck und Adel, Treue und Dankbarkeit, soziale Stratifikation, IndividualismusIndividualismus und GruppeGruppe. Zusammengehalten wird das Buch durch eine systematische methodische Fragestellung, in der die Soziologie als eine Wissenschaft von der Vergesellschaftung begriffen wird. Dieser prozessual gedachte Vorgang wird dabei sowohl im Lichte der SozialisationSozialisation wie auch der KulturalisationKulturalisation definiert. Was Simmel thematisiert und ihn für die gegenwärtige KulturanalyseKulturanalyse attraktiv macht, ist der Umstand, dass soziale und kulturelle PhänomenePhänomen hier immer im Zusammenhang mit Beziehungen und Positionierungen untersucht werden.

Der knappe, überaus dichte Text über den Fremden findet sich im neunten und vorletzten Kapitel des Buches. Es ist der dritte Exkurs im RahmenRahmen von SimmelsSimmel, Georg Überlegungen zu Raum und Räumlichkeit. Raum versteht Simmel dabei nicht in einem vornehmlich physischen oder territorialen Sinn, sondern als ein soziokulturelles Gestaltungsprinzip. Der Raum ist nur dann ein menschlicher Raum, wenn er bestimmte soziale und kulturelle Funktionen erfüllt, wenn er von MenschenMensch nach ganz bestimmten Regeln bewohnt und benutzt wird. Der Raum ist ein wesentlicher Faktor dessen, was menschliche KulturKultur und GesellschaftGesellschaft möglich macht und plastisch verdichtet.

Der Fremde wird dabei nicht durch bestimmte ‚essentialistischeessentialistisch‘ Eigenschaften, sondern durch seine PositionierungPositionierung in einem gegebenen soziokulturellen Raum bestimmt. Jede Veränderung dieses Raumes kann die jeweilige Position von MenschenMensch verändern. Wenn sich ein sprachlich, ethnischEthnie oder religiös zunächst heterogenerHeterogenität Raum tendenziell homogenisiert (wie das im Fall der europäischen Nationsbildungen der Fall war und ist), dann werden Menschen, ohne dass sie sich selbst geändert haben, plötzlich Fremde, zumindest aber Marginalisierte, die sich am RandRand einer symbolischen RaumRaum (symbolisch)ordnung oder gar außerhalbAußerhalb von ihr befinden. Umgekehrt ist es natürlich ebenfalls denkbar, dass Menschen in einem gegebenen Raum ihre deplatzierte Position aufgeben und sich plötzlich in einer anderen, günstigeren sozialen Position befinden.

SimmelsSimmel, Georg Ausführungen über den Fremden sind also von vornherein in eine Theorie des Spatialen eingebettet. Diese geht davon aus, dass sich, systemtheoretisch gesprochen, in modernenmodern GesellschaftenGesellschaft verschiedene Dimensionen des Räumlichen ausdifferenzieren. Er unterscheidet zwischen physischen, sozialen, symbolischen und imaginären Räumen. Darüber hinaus betont Simmel den engen Zusammenhang zwischen dem Raum und seinen Beschränkungen: Konstitutives Bestimmungsmerkmal des Raumes ist seine GrenzeGrenze. Fremde sind MenschenMensch, die sich außerhalbAußerhalb oder an den Rändern eines gegebenen sozialen und symbolischen Feldes befinden. Nicht zuletzt denkt Simmel dieses Makrophänomen raumzeitlich, das heißt als einen bewegten modus vivendi. Dieser Punkt ist für sein Verständnis des Fremden ganz entscheidend. Denn ähnlich wie bei Chamisso (→ Kapitel 3.3.) sind Fremde für ihn Menschen, die nicht in verfestigte Raumordnungen passen.

SimmelsSimmel, Georg Text akzentuiert in seinem Konzept des Fremden das Moment der BewegungBewegung: Fremde MenschenMensch sind dadurch charakterisiert, dass sie wandern: Sie zeichnen sich durch eine „Gelöstheit von jedem gegebenen RaumpunktRaumpunkt“ aus und stehen damit im Gegensatz zu jenen Fixierungen, die für das PhänomenPhänomen des Raumes charakteristisch sind.

Der und die Fremde verkörpern also die EinheitEinheit beider Bestimmungen. Er und sie sind nicht im Raum fixiert und befinden sich zugleich im Status innerer wie äußerer Beweglichkeit. Generell gesprochen ist das Verhältnis zum Raum zum einen die notwendige Bedingung, zum anderen aber das „SymbolSymbol“ des „Verhältnisses zu MenschenMensch“. Auf die Figur des und der Fremden umgelegt, bedeutet dies, dass fremdefremd Menschen ihr Verhältnis zu den Räumen, in die sie einwandern, ex negativo bestimmen. Dies geschieht durchaus unfreiwillig: Flucht vor gewaltpolitischer VerfolgungVerfolgung, KriegKrieg oder Vertreibung sind klassische FormenForm von krasser Fremdbestimmung. In dem Raum, den sie neu betreten, sind sie oft durch den Abstand zu den von anderen, den Einheimischen, bewohnten Gefilden bestimmt und befinden sich auch symbolisch außerhalbAußerhalb dieser. Ihnen wird von den Lokalen ein Platz zumeist am RandeRand zugewiesen.

Bisher haben wir das Fremde unter anderem aus kognitiver Perspektive (das Unbekannte), als Kategorie der DifferenzDifferenz, als ProduktProdukt systematischer psychisch-affektiver Verdrängung, als Gegensatz zur ‚HeimatHeimat‘ und in vielen weiteren Konstellationen kennengelernt. SimmelSimmel, Georg thematisiert das Fremde indes als eine höchst widerspruchsvolle Erscheinung, in der Kategorien wie NäheNähe und Ferne eine zentrale Rolle spielen.

Der SoziologeSoziologe unterscheidet in seinem Essay die permanenten von den potenziellen WanderndenWandernde. Erstere führen ein nomadisches LebenLeben, die anderen haben oftmals provisorisch an einem OrtOrt angesiedelt, sind aber ihrer ganzen Haltung nach mobil. Die ÜbergängeÜbergang sind dabei fließend und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Räume, von denen die Rede ist, nicht nur physisch-reale, sondern auch symbolische und virtuelle sind. Beide Typen gehören „von vornherein“ nicht in die räumliche OrdnungOrdnung, in der sie sich befinden. Vor allem für die MenschenMensch, die sich nach ihrer Wanderung niederlassen und eingerichtet haben, ist dies markant. Sie sind einst in diesen Raum gekommen und trugen Qualitäten in ihn hinein, die nicht aus diesem stammen und stammen können:

Die EinheitEinheit von NäheNähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen MenschenMensch enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: Die DistanzDistanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere WechselwirkungsformWechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremdfremd – dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinn des Wortes –, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, stehen jenseits von Fern und Nah. Der Fremde ist ein Element der GruppeGruppe selbst, nicht andersAndersheit als die Armen und die mannigfaltigen, inneren FeindeFeind – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein AußerhalbAußerhalb und Gegenüber einschließt.5

NäheNähe und DistanzDistanz sind zwei Momente räumlicher VerdichtungVerdichtung, die das Verhältnis von MenschenMensch zueinander bestimmen. Dabei ist zunächst ganz klar, dass die Fremden sich in diesem Verhältnis auf dem Pol der Distanz befinden, während die Heimischen in einem prinzipiellen Nähe-Verhältnis zueinander stehen. Sie können jedoch unter andere, ganz spezifische Ausschlussbedingungen fallen, wenn sie zum Beispiel Arme, innere FeindeFeind oder aber auch, im Falle traditioneller patriarchalischer GesellschaftenGesellschaft, Frauen sind.

Wie schnell sichtbar wird, hat die NäheNähe-Ferne-RelationRelation noch eine andere konstitutive Bedeutung: Durch den Fremden, der plötzlich Teil unserer GruppeGruppe geworden ist, rückt das Ferne in die Nähe und das Nahe, das sich durch die AnwesenheitAnwesenheit von Fremden gleichsam ‚verfremdet‘, in die Ferne: Diese Konstellation ist für SimmelSimmel, Georg das entscheidende, AngstAngst auslösende Charakteristikum des Fremden, das uns zu nahe kommt.

Das Fremde in seiner persönlichen wie unpersönlichen Dimension ist im Sinne einer Theorie der VergesellschaftungVergesellschaftung, wie sie SimmelSimmel, Georg vor Augen steht, ein maßgeblicher, ja konstitutiver Faktor. Ohne FremdheitFremdheit gäbe es nicht jenes ZusammengehörigkeitsgefühlZusammengehörigkeitsgefühl, das sich durch die Abgrenzung vom Fremden her- und einstellt. Das ist insofern ein provokanter Befund, als sich die FrageFrage stellt, ob die Organisation von Zusammenhalt und SolidaritätSolidarität überhaupt ohne jene Figur möglich ist, die sich laut Simmel außerhalbAußerhalb unserer GemeinschaftGemeinschaft oder an ihren Rändern befindet. Gerade weil sich die/der Fremde in dieser markanten Position befindet, gehört sie auf höchst paradoxe Weise zu jenem Raum, der sie ausschließt; hat sie, obschon exterritorialExterritorialität oder peripher, eine zentrale Bedeutung für die soziokulturelle KonstruktionKonstruktion menschlicher Räume. Simmel spricht in diesem Zusammenhang von „WechselwirkungsformWechselwirkungsform“. Nur wenn der/die Fremde eine solche Funktion einnimmt, ist er/sie streng betrachtet ein Fremder oder eine Fremde. Der Autor verweist zum Beispiel auf hypothetische Bewohner anderer Sonnensysteme und statuiert, dass die möglichen vielleicht menschenähnlichen Lebewesen auf dem Sirius soziologisch und kulturell für uns gar nicht existieren, da sie jenseits des Verhältnisses von Nah und Fern stehen. Das bedeutet aber auch, dass Nah und Fern keine arretierten Größen darstellen, sondern die Plätze tauschen können. Ein MenschMensch der DiasporaDiaspora ist stets bzw. zunächst randständig in der KulturKultur, in die er einwandert, aber der einheimische Mensch findet sich in der diasporischen Partialkultur unversehens in der Position jener Deplatziertheit, die für den Fremden eigentümlich ist. Das lässt sich auch umkehren: Jede marginale ‚Platzzuweisung‘ erzeugt Fremdheit. Diese ist demzufolge nicht angeboren, sondern Ergebnis sozialer Platzierungen, mit denen symbolische Markierungen einhergehen.

Im Unterschied zum Fremden, der in der Ferne bleibt, kommt uns der MenschMensch, der in unsere KulturKultur einwandert, etwa der Exilant, nahe. Dadurch wird er ein widersprüchliches Element der GruppeGruppe selbst, so wie die Armen, die FeindeFeind, oder die Frauen bzw. Männer. Unabhängig von seinem jeweiligen Fremdheitsattribut (Kultur, SpracheSprache, GeschlechtGeschlecht, ReligionReligion, HautfarbeHautfarbe) gehören der FlüchtlingFlüchtling, der Migrant oder der Vertriebene genau deshalb zu einer Gruppe bzw. zu einer Kultur, weil sie scheinbar nicht dazugehören. Ihre räumliche PositionierungPositionierung schließt ein „AußerhalbAußerhalb“ und ein „Gegenüber“ mit ein.

Die klassische oder vormoderne Figur des Fremden ist SimmelSimmel, Georg zufolge der HändlerHändler, der Tauschagent. Aber auch in den hypermodernenhypermodern GesellschaftenGesellschaft unserer Tage sind diese Funktionen enorm wichtig, wenn man dem HandelHandel das Gastgewerbe und bestimmte Dienstleistungsfunktionen, wie die elektronische Datenübertragung, hinzufügt. In vorkapitalistischen Eigenbedarfs-Ökonomien bedarf es nur der Händler: für ProdukteProdukt, die in einem bestimmten Raum nicht erzeugt werden und von außenAußen importiert werden.

Dabei lassen sich je nach Entwicklungsgrad von ÖkonomieÖkonomie und HandelHandel zwei Typen unterscheiden. Der eine ist der Fremde als HändlerHändler, der aus seiner (bisherigen) HeimatHeimat ProdukteProdukt beschafft, die es in der anderen KulturKultur nicht gibt. Diese Wanderbewegung entspricht der BewegungBewegung des Hin- und Herpendelns.

Der andere ist der Fremde als HändlerHändler, der OrteOrt aufsucht, in denen er selbst fremdfremd ist, um dort Gegenstände zu beschaffen.6 Der Händler erscheint hier als Agent und Repräsentant fremder ProdukteProdukt schlechthin: „Die Position verschärft sich für das Bewusstsein, wenn er statt den Ort seiner Tätigkeit wieder zu verlassen, sich an ihm fixiert.“7 Er wird zum Träger des Zwischenhandels, „Supernumerarius“ in einem Kreis etablierter gesellschaftlicher Beziehungen, die vorkapitalistisch durch GrundGrund und BodenBoden sowie durch Handwerk charakterisiert sind. Seiner ursprünglichen gesellschaftlichen Position nach ist der Fremde kein BodenbesitzerBodenbesitzer oder HandwerkerHandwerker. SeinSein Verhältnis zum territorialen Raum ist nämlich unsicher, denn seine Position ist zwar eine wichtige, aber immer deplatzierte. Darin besteht seine für die jeweilige GemeinschaftGemeinschaft durchaus wichtige, womöglich lebensnotwendige Sonderstellung. Komplexere GesellschaftenGesellschaft bedürfen eines Netzwerks von Händlern. Dabei handelt es sich also um keine Gefälligkeit gegenüber der betreffenden Gesellschaft, sondern der Fremde erfüllt eine maßgebliche ökonomische Funktion, die mit TauschTausch, HandelHandel und GeldGeld konnotiert ist. Diese Faktoren sind wiederum imstande, MisstrauenMisstrauen und NeidNeid hervorzubringen. Beispiele für diesen traditionellen Typus des fremden Händlers liegen auf der Hand: die europäischen JudenJuden, die Griechen und Armenier im Osmanischen ReichOsmanisches Reich, die Chinesen und Inder in mittlerweile nahezu allen Erdteilen dieser WeltWelt.

In seiner Bestimmung der Rolle des Fremden kommt SimmelSimmel, Georg auch auf einen ganz anderen Punkt zu sprechen, auf das, was er die Objektivität des Fremden nennt. Diese ergibt sich für ihn aus der Sonderstellung, die er in dem gegebenen Raum einnimmt. Unvoreingenommenheit meint, dass er in der betreffenden GruppeGruppe oder GemeinschaftGemeinschaft gering verwurzelt ist und deshalb nicht in die subjektiven Gegensätze der heimischen MenschenMensch verstrickt ist. Diese NeutralitätNeutralität ist also keine ‚natürliche‘ Eigenschaft, sondern ergibt sich aus seiner widerspruchsvollen Position im soziokulturellen Gewebe. Objektivität bedeutet nicht einfach bloßer Abstand und Unbeteiligtheit, sondern „ein besonderes Gebilde aus Ferne und NäheNähe, Gleichgültigkeit und Engagement“.8

Das Beispiel, das SimmelSimmel, Georg anführt, entnimmt er der GeschichteGeschichte italienischer Renaissance-Städte, die häufig Richter von auswärts beriefen, um ihre Unstimmigkeiten und Streitfälle zu schlichten. Ganz generell lässt sich dabei an Schiedsrichterfunktionen denken, wie wir sie auch vom Fußball oder aber der internationalen Diplomatie her kennen.

Unter bestimmten Bedingungen wird der Fremde auf GrundGrund seiner sozialen Stellung, seiner Außenseiterposition, zum Rezipienten von Konfessionen, BeichtenBeichte und Geheimnissen, die man den nahe stehenden MenschenMensch oft nicht mitteilt. Die von SimmelSimmel, Georg ins SpielSpiel gebrachte Kategorie der Objektivität, die hier rein soziologisch und relational zu verstehen ist, impliziert eine gewisse soziale FreiheitFreiheit: Der Fremde ist nicht an „Festgelegtheiten“9 gebunden. Sie hat aber auch damit zu tun, dass er in dem gegebenen gesellschaftlichen Raum keine Machtposition innehat. Das ermöglicht ihm die Sekundärmacht des Zuhörens und Schlichtens. Diese Freiheit gewährt auch die Möglichkeit, das Nahe wie auch das Ferne gleichsam aus der Vogelperspektive zu betrachten, wird doch KulturKultur stets aus der wirklichen oder angenommenen Perspektive des Fremden analysiert.

Aber diese privilegierte, objektive Ausnahmestellung kann leicht in GewaltGewalt und AggressionAggression umschlagen. Denn wenn die sozialen Gefüge ins Wanken kommen, dann schlägt die Stimmung gegen die Fremden sofort um: „Von jeher wird bei Aufständen aller Art von der angegriffenen Partei behauptet, es hätte eine Aufreizung von außenAußen her, durch fremdefremd Sendlinge und Hetzer stattgefunden.“10 Der AntisemitismusAntisemitismus der Nationalsozialisten, der sowohl KapitalismusKapitalismus als auch KommunismusKommunismus als fremde, ergo jüdische ProdukteProdukt begreift, ist ein erschreckendes Beispiel dafür. Immer ist es der MenschMensch, der von außen kommt, durch den das Übel in die eigeneEigentum HeimatHeimat geschleust wird.

Insofern gerät der Fremde potentiell in jene Position, die der französische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René GirardGirard, René als „SündenbockSündenbock“ bezeichnet hat. Wenn eine GesellschaftGesellschaft in eine KriseKrise – PestPest, HungersnotHungersnot, WirtschaftskriseWirtschaftskrise, verlorener KriegKrieg – gerät, wird von der betroffenen Bevölkerung nach einem Schuldigen gesucht. Wie Girard am Beispiel der Pest zeigt, sind es an der Wende zur NeuzeitNeuzeit in EuropaEuropa die Fremden im Eigenen, die ‚jüdischen Brunnenvergifter‘, die diese Funktion übernehmen müssen. Ihre schiere Existenz erklärt scheinbar den Ausbruch der Krise und ihre reale wie symbolische Vernichtung verspricht einen Ausweg aus ihr.11 In gewisser Weise lässt sich also auch sagen, dass Fremde produzierbar sind. In Freuds Terminologie heißt das, dass der Fremde jene Figur ist, an der sich die kollektive AggressionAggression einer sozialen Entität – einer überschaubaren vormodernen GemeinschaftGemeinschaft, aber auch einer abstrakten modernenmodern Gesellschaft – entlädt. Von einer MagieMagie der GewaltGewalt spricht Girard in diesem Zusammenhang: Der Gewalt wird die Kraft zugesprochen, reinigend und klärend zu wirken.12 Sigmund FreudFreud, Sigmund wiederum beschreibt, wie die Aggression nach AußenAußen im Sinne einer Triebentladung im Inneren funktioniert. Die strukturell gewalttätige KonstitutionKonstitution des Fremden schweißt die Einheimischen zu einer geschlossenen GruppeGruppe zusammen. Freud formuliert das ganz lapidar: „Es ist immer möglich, eine größere Menge von MenschenMensch in LiebeLiebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“13

Schauen wir uns nun an, wie SimmelSimmel, Georg das Verhältnis von Bekannten und Fremden vergleicht. Diese RelationenRelation unterscheiden sich signifikant voneinander. Zu den Fremden, die nur ganz allgemeine Qualitäten mit der einheimischen GruppeGruppe und ihrer KulturKultur gemeinsam haben, zu diesen Heimatlosen, unterhält die einheimische Gruppe ein höchst abstraktes, emotional schwaches GemeinschaftsgefühlGemeinschaftsgefühl. „JeJe größer die AbweichungAbweichung“, schreibt der französische Kulturtheoretiker René GirardGirard, René, „um so größer das Risiko der VerfolgungVerfolgung“. 14 Hinzuzufügen ist, dass sich diese Abweichungen potentiell durch Bündelung – soziale, ethischeEthik und sexuelle Unterschiede – aufladen.

Demgegenüber ist unser Verhältnis zu bekannten MenschenMensch durch VerbundenheitVerbundenheit und durch eine „Gleichheit von spezifischen Differenzen“ charakterisiert. Dieser Einklang baut sich gegen das Allgemeine auf: Die Verbundenheit etabliert potentiell ein Wir-GefühlWir-Gefühl gegen die Anderen.

Jenes Gemeinsame selbst vielmehr wird in seiner Wirkung auf das Verhältnis dadurch wesentlich bestimmt, ob es nur zwischen den Elementen eben dieses besteht und so, nach innen zwar allgemein, nach außenAußen aber spezifisch und unvergleichlich ist – oder ob es für die Empfindung der Elemente selbst ihnen nur gemeinsam ist, weil es überhaupt einer GruppeGruppe oder einem Typus oder der MenschheitMenschheit gemeinsam ist.15

Im Hinblick auf den Fremden konstatiert SimmelSimmel, Georg eine eigentümliche Mischung aus NäheNähe und Ferne, oder eine Affekthaltung aus Kühle und Wärme, aus Unbeteiligtheit und Beteiligtheit:

Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheit nationalernational oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden.16

Das Moment der nahen FremdheitFremdheit hat auch in der erotischenErotik Beziehung eine Bedeutung: Die Fremdheit bildet den Reiz, an dem sich das BegehrenBegierde entzündet. Inzestuöse Beziehungen beziehen ihren Reiz von kulturellen Verboten, aber sie tragen das Problem möglicherweise fehlender Fremdheit zwischen den Partnern in sich.17 Insofern ließe sich sagen, dass alle langwährenden Beziehungen tendenziell ‚inzestuös‘, das heißt symbiotisch werden. Zur KriseKrise intimerintim Beziehungen kommt es nicht zuletzt dann, wenn das Gefühl der Einzigartigkeit der eigenenEigentum LiebeLiebe wie die des geliebten MenschenMensch verschwindet. Die Partner werden einander fremdfremd, weil sie sich zu nahe gekommen sind. Dahinter lauert die FrageFrage, ob ‚unsere‘ Beziehung wirklich so einzigartig ist, wie es unsere romantische VerliebtheitVerliebtheit nahelegt hat: Ist das Zweien Gemeinsame nicht am Ende doch eines, das nicht bloß ihnen gemeinsam ist?18

Die Konklusion ist wohl, dass erfolgreiche erotischeErotik Beziehungen solche sind, in denen ein Spannungsverhältnis von Nah und Fern bestehen bleibt, in dem die ErfahrungErfahrung von NäheNähe und Ferne aufrechterhalten wird (vgl. die Analyse der Zärtlichkeit bei LévinasLévinas, Emmanuel → Kapitel 4). Im Falle ethnischerEthnie Unterschiede in intimenintim Beziehungen überlagern sich zwei verschiedene Fremdheiten, das mag das Gefühl der Einzigartigkeit verstärken, bietet aber wohl keine SicherheitSicherheit gegen den Verlust des „Einzigartigkeitsgefühls“, die SimmelSimmel, Georg für die intime Beziehung als konstitutiv ansieht.

SimmelSimmel, Georg erwähnt indes noch eine andere Konzeption des Fremden, in der jedwede Gemeinsamkeit ausgeschlossenAusschluss ist. Er erläutert dies am griechischengriechisch Begriff des ‚BarbarenBarbar‘, einer traditionellen Bezeichnung der antiken Griechen für alle anderen fremdsprachigen Völker. Den ‚barbaroi‘ werden all die generellen Eigenschaften abgesprochen, die man mit den MenschenMensch der eigenenEigentum KulturKultur teilt und die man für sich reklamiert: all die Werte, SittenSitten und Gepflogenheiten, die für selbstverständlich gelten. Diese Beziehung zum Fremden ist die „Nicht-Beziehung“. Das ist politisch gesprochen die Position des Rassisten gegenüber reichen oder auch armen Minderheiten, gegenüber kolonialisierten außereuropäischen Völkern oder gegenüber Nachbarvölkern, die man beherrscht. Die Nicht-Gemeinsamkeit wird zum entscheidenden Element unserer Nicht-Beziehung zum Fremden, der nah und fern zugleich ist. Der Fremde wird auch nicht in seiner Individualität und seiner sozialen Stellung wahrgenommen, sondern als bestimmter kultureller Typus behandelt. Beispiele dafür sind die mittelalterliche JudensteuerJudensteuer und die Nürnberger RassengesetzeNürnberger Rassengesetze des NationalsozialismusNationalsozialismus.

SimmelSimmel, Georg konstatiert zu Ende seiner kurzen Abhandlung eine Zunahme des Fremden als Folge des Überganges von blut- und stammesverwandtschaftlich organisierten GemeinschaftenGemeinschaft zu abstrakteren Gebilden. Ausdrücklich erwähnt er dabei das kulturelle Gebot der ExogamieExogamie, die Vorschrift, Fremde zu heiraten, das heißt MenschenMensch, die außerhalbAußerhalb des Familienverbandes stehen.

Charakteristika der GlobalisierungGlobalisierung gehören letztendlich in den Phänomenbereich des ‚Exogamen‘, also des Austausches und der VerbindungVerbindung mit immer Fernerem: Es kommt zu einer Zunahme von Wanderbewegungen und, damit verbunden, von FremdheitFremdheit. Die Beziehung von Nahem und Fernem verändert sich und überlagert sich. NäheNähe verschwindet nicht, wird aber relativ und relational, das heißt, sie ist nunmehr Teil einer WechselwirkungWechselwirkung, die sich aus der Polarität von nah und fern, bekannt und fremdfremd, ergibt.

Mit SimmelSimmel, Georg und seiner Philosophie des Geldes kann man auch daran denken, wie das abstrakte und immer virtueller werdende Tauschmedium GeldGeld die Raum-Koordinaten verschiebt. Es komprimiert gleichsam die global gewordene MenschheitMenschheit und weckt AngstAngst vor dem Verlust von ‚IdentitätIdentität‘, deren kulturelle KonstruktionKonstruktion ohne Bekanntheit und VertrautheitVertrautheit undenkbar ist. Kurzum besteht die Sorge, ‚HeimatHeimat‘, inklusive der mit diesem Begriff einhergehenden Affekte (ZugehörigkeitZugehörigkeit, StolzStolz, PathosPathos, Glücksgefühl), zu verlieren. Es gibt gerade in den hochentwickelten kapitalistischen GesellschaftenGesellschaft, die ohne die tiefgreifenden kulturellen Wirkungen des Geldes undenkbar sind, die Bereitschaft breiter Schichten in der Bevölkerung, gegen das abstrakt Fremde des Geldes und des KapitalsKapital Sturm zu laufen. Zuweilen lugen dahinter die alten stereotypen Feindbilder hervor: Der AntisemitismusAntisemitismus und generell jedwede Fremdenfeindlichkeit richten sich gegen ethnischeEthnie oder soziale GruppenGruppe, gegen innere und äußere FeindeFeind, die nicht selten mit dem Medium des Geldes verbunden sind und Verschwörungstheorien auslösen. Dabei überlagern sich historisch nicht selten linke und rechte Positionen: Das Feindbild des Kapitalisten verschmilzt mit jenem des JudenJuden. Der deutschedeutsch Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger schreibt mit Blick auf die sozialen Netzwerke unserer Tage:

In Karikaturen werden die der Globalisierungskritik latent innewohnenden Weltverschwörungstheorien schon manifester. Die alles umschlingende Krake versucht die ganze WeltWelt zu verschlingen und erhält allerorts Gegenwehr der „produktiven“ ArbeiterArbeiter usf. Hier gleichen sich die Illustrationen linker wie rechter GlobalisierungsgegnerInnen zusehends. Manch linke Gruppierung kann dabei nicht einmal auf die obligate Hakennase verzichten, die dem zigarrerauchenden und zylindertragenden Unternehmer angedichtet wird und damit ebenso aus dem Stürmer wie aus einer trotzkistischen, maoistischen oder Attac-Publikation stammen könnte.19

Abb. 2

Zerrspiegel der globalisierten WeltWelt

Darüber hinaus haben derartige Feindbilder noch eine ganz andere Stoßrichtung, wenden sie sich doch gegen die zunehmend abstrakter werdenden FormenForm der VergesellschaftungVergesellschaftung und der transnationalen kulturellen KommunikationKommunikation.20 Der, die und das bedrohliche Fremde werden mit dem GeldGeld gleichgesetzt. Insofern lebt die AmbivalenzAmbivalenz vormoderner KulturenKultur gegenüber der Figur des fremdenfremd HändlersHändler in der hypermodernenhypermodern Ära der GlobalisierungGlobalisierung fort, als Unbehagen an den transnationalen Akteuren etwa der Geldwirtschaft und des Welthandels. Was sich an der Kritik an Ungleichheit und Ungerechtigkeit entzündet, ist stets, rechts wie links, in Gefahr, sich in Feindschaft gegen ein bedrohliches AußenAußen zu verdichten.

Erstaunlich bleibt, dass SimmelsSimmel, Georg Analyse des Fremden zumindest vier Modi von Migrationen und Migranten unberücksichtigt lässt:

1 Das politische ExilExil;

2 die Flucht infolge der VerfolgungVerfolgung von Menschengruppen, die minoritär und fremdfremd bleiben wie die JudenJuden Europas und des Nahen OstenNaher Ostens;

3 MigrationMigration aus ökonomischen und sozialen Gründen;

4 die binnen- und transnationalen Wanderungen, die sich grosso modo vom peripheren, oftmals ruralen Raum in die urbanen Kristallisationspunkte der IndustrialisierungIndustrialisierung und Postindustrialisierung vollziehen.

Diese FormenForm von Wanderung mögen sich zum Teil mit dem von SimmelSimmel, Georg fokussierten Typus des fremdenfremd HändlersHändler überlagern, sind aber nicht mit ihm identisch. Obschon die GrenzenGrenze zwischen freiwilliger und erzwungener Wanderschaft fließend sein mögen, so divergiert die Position des fremden Teilnehmers an einem fremden Markt beträchtlich von jener, der vor GewaltGewalt und VerfolgungVerfolgung fließen und gegebenenfalls Hab und Gut zu Hause lassen muss. Der klassische Händler befindet sich, verglichen mit vielen anderen armen Migrantinnen und Migranten, die sich damals wie heute als Fremde für geringen LohnArbeitslohn abrackern, in einer vergleichsweise privilegierten Position. Deshalb träumen nicht wenige MenschenMensch mit Migrationshintergrund davon, einmal vom Ersparten ein eigenesEigentum Geschäft oder ein eigenes Lokal aufmachen zu können, um in den von Simmel beschriebenen Status aufsteigen zu können.

Theorien des Fremden

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