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5.4. Das Fremde als Springpunkt von ErfahrungErfahrung

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Wenn also das Eigene und das Fremde im Sinne dieser und anderer Theorien miteinander untrennbar verflochten sind, so bildet dieses „Feld“ die Bedingung der Möglichkeit der ErfahrungErfahrung des bzw. mit dem Fremden. WaldenfelsWaldenfels, Bernhard spricht in diesem Zusammenhang von „Erfahrungsbereichen“ und „Erfahrungsgehalten“. Eine zentrale TheseThese ist, dass das Fremde und das Fremdartige – diese Unterscheidung adaptiert Waldenfels von Alfred SchützSchütz, Alfred’ Unterscheidung zwischen Neuem und Neuartigem1 (→ Kapitel 6) – Erfahrung in einem existentiellen Sinn eröffnen. Gerade darin bestehen Reiz und Risiko des Fremden als eines Neuen, Ungewohnten und Unbekannten, dem sich schon die klassischen HeldenHeld von MythosMythos und Sage zu stellen haben. Ohne die Konfrontation mit Unvertrautem gibt es keine Erfahrung. Waldenfels’ Untersuchung liefert mehrere Definitionen des Fremden und des Fremdartigen, aber alle haben miteinander gemeinsam, dass sie das Moment der Erfahrung in sich tragen.

In diesem Kontext ist die so genannte „Kette des Fremden“ von Wichtigkeit. Der Autor bedient sich zweier literarischer Beispiele für seine Definition dieser Formulierung: Eduard MörikesMörike, Eduard Gedicht Peregrina und Albert CamusCamus, Albert’ L’Etranger. In beiden steht die ErfahrungErfahrung der Entstehung von FremdheitFremdheit im ZentrumZentrum, wenn wie bei Mörike die Geliebte zur wilden unverständlichen Fremden wird oder der HeldHeld sich in einem symbolischen RaumRaum (symbolisch) verliert, der ihn von sich zu entfernen scheint: „Diese Kette [des Fremden, A.v.m.] ist dort festgemacht, wo Lebensbereiche und Lebenswelten im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen ihre VertrautheitVertrautheit verlieren.“2 WaldenfelsWaldenfels, Bernhard unterstreicht die prekäre Rolle der Wissenschaft, die alles vertraut zu machen trachtet. Wie könnte, fragt der Autor, ein „Wissen und Handeln aussehen […], das sich Fremdem aussetzt, ohne es einzugemeinden“.3

Das Fremde wird also in dieser Konzeption nicht ethnischEthnie substanzialisiert und ‚verdinglicht‘, sondern wie bei Alfred SchützSchütz, Alfred lebensweltlich und sozial gedacht (→ Kapitel 6) als das, was eine scheinbar selbstverständliche OrdnungOrdnung durchbricht: „Das Fremdartige, das die GrenzenGrenze bestimmter Ordnungen überschreitet, setzt eine bestimmte FormForm der NormalitätNormalität voraus.“4

Der Fremde wird als „abartig“, als abweichend, eben als deviant wahrgenommen–diese Wahrnehmung ist immer soziokulturell gerahmt. Fremd, das können unter bestimmten Umständen das KindKind, der ‚Wilde‘, der ‚Irre‘, der ‚Narr‘, die FrauFrau, aber auch das anthropoide TierTier, der AutomatAutomat sein: „Diese exemplarischen Figuren bevölkern auch das Unbewußte und suchen den MenschenMensch auf vielfache Weise im privaten und öffentlichen LebenLeben heim.“5

Ein solches Verständnis von Fremdem schafft die Möglichkeit, die westliche ModerneModerne – und WaldenfelsWaldenfels, Bernhard tut dies unter Berufung auf Robert MusilsMusil, Robert epochalen RomanRoman Der MannMann ohne Eigenschaften – als jene FormForm der KulturKultur zu beschreiben, in der jedwede ‚normalenormal‘ OrdnungOrdnung ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Gleichzeitig ist jeder Versuch, eine solche zu re-etablieren, zum Scheitern verurteilt. Der von Musils Romanfigur propagierte „Möglichkeitssinn“ wird dabei zum programmatischen Erfahrungsmodus, mit Fremdem umzugehen. Mit Möglichkeitssinn meint Waldenfels im Anschluss an Musil, dass die WirklichkeitWirklichkeit ganz andersAndersheit sein könnte, als es die normalisierte Wahrnehmung des Gegebenen, der Sinn fürs Wirkliche, annimmt. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn ihre Plätze tauschen. Moderne wäre also eine dynamische, aber auch fragile prozessuale Anordnung von Kultur, eine Infragestellung des Bekannten und Vertrauten, in der das Fremde auf der Tagesordnung steht, und zwar nicht nur in Gestalt der Andersartigkeit der Anderen, sondern vor allem auch in der Andersartigkeit des Eigenen.6

Theorien des Fremden

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