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5.3. Die Figur der Verflechtung

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Das neue Verständnis von DialogDialog und die positive Akzentuierung des FrageFrage-Modus leiten fast unvermeidlich zur Bestimmung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem über. Denn beide kommunikativen Elemente implizieren eine andere RelationRelation zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Sie überschreiten die binäre Dyade, jene FormForm der AbhängigkeitAbhängigkeit, die auf dem Prinzip der zweiteiligen OppositionOpposition beruht.

‚Verflechtung‘ ist jene von Norbert Elias forcierte Denkfigur,1 die die polare Gegenüberstellung, die ja auch ein Abhängigkeitsverhältnis beinhaltet, modifiziert und überschreibt. Sie ist, wie WaldenfelsWaldenfels, Bernhard unter Berufung auf Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice hervorhebt, weder eine „Verschmelzung“ noch eine „TrennungTrennung“, sondern vielmehr eine „Abhebung im gemeinsamen Feld“.2 Mit der DekonstruktionDekonstruktion DerridasDerrida, Jacques hat sie gemein, dass sie die Binarität von Oppositionen überhaupt hinterfragt, in diesem Fall die zumeist für selbstverständlich genommene Trennung von Eigenem und Fremdem. Das Fremde, das Waldenfels an dieser Stelle mit dem Anderen in eins setzt, und nicht automatisch mit einer spezifischen kulturellen DifferenzDifferenz gleichsetzt, ist immer schon im Eigenen gegeben und vorausgesetzt.

Es gibt in dieser Verflechtung immer eine VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen (→ Kapitel 4). Bei Sich-SeinSein ist immer schon ein Bei-sich-Sein im Anderen. Diese AsymmetrieAsymmetrie ist indes reziprok: Sie hebt sich insofern auf, als sich jeder MenschMensch in der gleichen asymmetrischen Situation befindet. Die „FestungFestung Ich“ ist insofern als ein höchst prekärer SelbstschutzSelbstschutz gegenüber jener Zumutung zu sehen, die durch die AnwesenheitAnwesenheit des Anderen gegeben ist. Um bei MusilsMusil, Robert Metapher zu bleiben, ließe sich sagen: Während also die Festung Ich sich gegen den Anderen als einen FeindFeind eben dieses Ichs wappnet, ist dieser längst in den Innenraum eingedrungen, der durch die Festung verteidigt werden sollte.

Die Formel von der AndersheitAndersheit des Ichs hat mindestens zwei Bedeutungen. Die eine bezieht sich auf die fragile Beschaffenheit jenes Ichs, das eben anders ist als das klassische SubjektSubjekt der idealistischen Philosophie; die zweite bringt die Figur des Anderen ins SpielSpiel, durch die sich die Position des Ichs verschiebt und verändert. In Der Stachel des Fremden wird das mehrmals pointiert: „Es gibt keinen Sprecher und Täter, der sich als reiner Autor seiner Reden und Taten aufspielen könnte, es gibt kein Reden oder Tun, das nicht auch ein AntwortenAntwort wäre.“3

Der zweite Halbsatz des Zitats liefert eine Erklärung für die Behauptung des ersten. Wir sind nicht die Urheber und Erfinder unserer Sätze, unsere FreiheitFreiheit ist stets relational zu sehen. Wir befinden uns, ob wir wollen oder nicht, immer in jener Beziehung, die WaldenfelsWaldenfels, Bernhard als „AntwortenAntwort“ bezeichnet. Programmatisch heißt es an anderer Stelle: „Was hier in Zweifel rückt, ist die Vorstellung eines Cogito, das aus sich heraustritt, um nach den bestandenen Abenteuern der AndersheitAndersheit zu sich selbst zurückzukehren.“4

Das ist in der Tat ein klassisches NarrativNarrativ der okzidentalen Philosophie und LiteraturLiteratur. Die OdysseeOdyssee des HomerHomer führt das klassisch vor: Das Ausfahrt-Abenteuer mit all seinen spannenden, amüsanten und gefährlichen Irrungen und Wirrungen dient letztendlich nur einem Telos, einem tieferen Sinn und Zweck: in der HeimatHeimat anzukommen. Dieses narrative MusterMuster entspricht jenen Typen früher Prosa, die BachtinBachtin, Michail als Chronotopoi bezeichnet hat: dem Abenteuerroman und der AutobiographieAutobiographie.5 Der klassischen Narration liegt eine MatrixMatrix zugrunde, deren Kern darin besteht, ein kompaktes Ich zu konstituieren.

Auch HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist folgt einem narrativen MusterMuster, das, wie wir gesehen haben, dem der OdysseeOdyssee durchaus verwandt ist. Auf seinem Weg von der sinnlichen Gewissheit hin zur absoluten VernunftVernunft durchläuft der Geist die verschiedensten Stadien, bis er bei seiner ‚wahren‘ Bestimmung in der Vernunft endet (→ Kapitel 2).

Im Unterschied zu dieser klassischen Meistererzählung bekommt hier ein gespaltenes Ich seinen Auftritt, das nie bei sich ankommt und das sich selbst immer tendenziell fremdfremd bleibt. Dadurch werden aber Termini wie „EnteignungEnteignung“ und „AneignungAneignung“ eigentümlich relativiert, aber keineswegs völlig annulliert. Folgende Theoriebezüge werden von WaldenfelsWaldenfels, Bernhard aufgerufen, um die Verflechtung von Eigenem und Fremden, von Ich und Anderem zu unterstreichen:

 Die Sozialtheorie von G.H. MeadMead, Gerorge Herbert, in der die GespaltenheitGespaltenheit von I and Me im RahmenRahmen einer Theorie des Selbstgesprächs in den Mittelpunkt rückt.

 Philosophische Überlegungen von Daniel LagacheLagache, Daniel (zum PhänomenPhänomen der verbalen Halluzination) und Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice (Chiasma), die den Kern der Ent-Persönlichung im Ich selbst ins ZentrumZentrum ihrer Überlegungen stellen.

 Die von Freud (Jenseits des Lustprinzips) und Melanie KleinKlein, Melanie ausgehende Theorie des englischen Psychoanalytikers D.W. WinnicottWinnicott, Donald Woods vom „Übergangsobjekt“, das die abwesende MutterMutter ersetzt und repräsentiert. Parallel dazu hat René SpitzSpitz, René das symbiotische Verhältnis von Mutter und KleinkindKleinkind als eine FormForm des DialogsDialog interpretiert.6

 Die von LacanLacan, Jacques in seinem Aufsatz über das SpiegelstadiumSpiegelstadium (→ Kapitel 7) erstmals herausgearbeitete Spaltung des SubjektsSubjekt, „das sich nur auf dem Umweg über imaginäre Spiegelungen und symbolische Ordnungen aufbaut“. „Auch hier tritt die AndersheitAndersheit bereits in der intrasubjektiven Sphäre auf, so bei der frühkindlichen IdentifizierungIdentifizierung mit dem eigenenEigentum SpiegelbildSpiegelbild, in dem das KindKind sich zugleich wieder erkennt und verkennt.“7

 Mit Blick auf (LévinasLévinas, Emmanuel und) DerridaDerrida, Jacques heißt es: „Die Zeitlichkeit des eigenenEigentum Daseins bedeutet, daß das SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein als die Urstätte des Sinnes immer schon sich selbst gegenüber im Verzug ist; die GegenwartGegenwart ist immer schon mit Nicht-Gegenwart, das Selbe mit Anderem durchsetzt.“8 Der/die/das Andere trägt ein Moment des Inkommensurablen in sich.

 BachtinsBachtin, Michail Theorie der Vielstimmigkeit der SpracheSprache. Das (eigeneEigentum) Wort befindet sich immer schon auf der GrenzeGrenze zwischen Eigenem und Fremdem. Die Redevielfalt im RomanRoman ist ein (Wechsel-)SpielSpiel zwischen beiden, miteinander verflochtenen Momenten. Im Zwischenreich eines solchen DialogsDialog sind als dramatische Personen ein idealer Autor und ein idealer LeserLeser angesiedelt.9

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