Читать книгу Arztroman Sammelband: Drei Romane: Ihre Verzweiflung war groß und andere Romane - A. F. Morland - Страница 11
3
Оглавление„Na, wie war’s?“, fragte Oma Clara, als sie mit Berta Dietrich die Grünwalder Arztpraxis verließ.
„In die Seeberg-Klinik muss ich“, stöhnte Frau Dietrich.
„Ach du Schreck. Warum denn?“
„Operiert muss ich werden“, seufzte Frau Dietrich unglücklich. „Eine Zyste hab’ ich im Knie.“
„Sie Ärmste! Kommen Sie, hängen sie sich bei mir ein.“ Clara Griesmayer hustete. „Was man nicht alles kriegen kann. Wieso denn eine Zyste? Wo kommt die denn auf einmal her?“
Berta Dietrich erklärte es ihr so, wie sie es von Dr. Kayser gehört hatte.
„Wann legen Sie sich in die Seeberg Klinik?“, erkundigte sich Oma Clara.
„Übermorgen.“
Clara Griesmayer hustete. „So bald schon?“
„Gut, dass Dr. Kayser Belegarzt der Seeberg-Klinik ist, sonst hätte ich wahrscheinlich nicht so schnell ein Bett gekriegt. Ich will keine Thrombose bekommen.“
Oma Clara nickte sehr ernst. „Thrombosen sind eine sehr gefährliche Angelegenheit.“
„Und dass die Zyste platzt und sich die Flüssigkeit zwischen die Muskeln ergießt, muss ich auch nicht unbedingt riskieren. Das ist nämlich ziemlich schmerzhaft, sagt Dr. Kayser.“
Clara Griesmayer schüttelte sich. „Lassen Sie uns aufhören, über Krankheiten zu reden. Es gibt erfreulichere Themen.“ Sie erzählte ihrer guten Bekannten von ihren heißgeliebten Enkelkindern.
Auch Berta Dietrich war bereits Großmutter. Iris hieß ihre vierzehnjährige Enkelin – ein sanftes, zartes, sensibles Mädchen. Bedauerlicherweise führten Iris’ Eltern keine besonders glückliche Ehe. Das Kind litt darunter, deshalb holte Frau Dietrich es so oft wie möglich zu sich. Doch die Nestwärme, die Iris zu Hause fehlte, konnte ihr die Großmutter nur zu einem geringen Teil ersetzen.
„Ich beneide Sie um das Eheglück Ihrer Kinder, Frau Griesmayer“, sagte Berta Dietrich traurig. „Meine Tochter und ihr Mann ...“ Sie seufzte. „Patrick ist ein guter Kerl, aber er hat keine Zeit für seine Familie. Als Geschäftsmann hat er es geschafft, wie man so schön sagt, doch privat ... Um da hinzukommen, wo er heute ist, musste er hart arbeiten, und das tut er immer noch. Er verdient viel Geld, o ja, sehr viel Geld. Aber alles Geld der Welt kann Liebe, Harmonie, Zärtlichkeit und Geborgenheit nicht ersetzen. Sonja, meine Tochter, ist eine junge, attraktive, lebenslustige Frau. Sie bringt die Geduld nicht auf, zu warten, bis Patrick mal für sie Zeit hat. Sie hat auch kein Verständnis dafür, dass für ihren Mann immer zuerst das Geschäft kommt.“
Oma Clara rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. „Das ist auch nicht richtig.“
„Nein“, sagte Berta Dietrich, „aber ich kann Patrick dennoch nicht verurteilen. Er ist ein herzensguter Mensch. Ich liebe ihn. Und auch er ist mir sehr zugetan.“
Frau Griesmayer nickte bedächtig. „Sie sind auch eine großartige Schwiegermutter.“
„Deshalb tut es mir besonders weh, dass Sonja ihrem Mann seit Längerem schon nicht mehr treu ist“, erklärte Frau Dietrich betrübt. „Sie fühlt sich von ihrem Mann vernachlässigt und hält sich deshalb anderswo schadlos. Das ist nicht richtig. Das kann ich nicht gutheißen.“
„Weiß Ihr Schwiegersohn davon?“, fragte Clara Griesmayer.
Frau Dietrich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Von mir wird er es jedenfalls nicht erfahren. Da kann, darf und will ich mich nicht einmischen. Vielleicht ahnt er etwas. Möglicherweise streiten er und Sonja deshalb in letzter Zeit immer häufiger und immer vor dem Kind.“
Oma Clara hustete und wiegte bedenklich den Kopf. „Damit tun sie Iris sehr, sehr weh.“
„Natürlich, denn sie liebt ihre Mutti genauso sehr wie ihren Vati, und sie kann es nicht ertragen, wenn ihre Eltern sich gegenseitig weh tun.“
„Also, ich glaube, ich könnte meinen Mund nicht halten“, sagte Frau Griesmayer und richtete ihr Kopftuch. „Ich würde mir meine Tochter und meinen Schwiegersohn vornehmen und sagen: Hört mal zu, so darf es mit eurer Ehe nicht weitergehen. Ihr habt eurem Kind gegenüber eine Verantwortung, also besinnt euch gefälligst darauf.“ Sie hatte streng und energisch gesprochen.
„Und was tun Sie, wenn die beiden Ihnen sagen, Sie sollen sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern?“
„Würden Sie das von Ihrer Tochter und von Ihrem Schwiegersohn zu hören bekommen?“, fragte Oma Clara zurück.
„Ich fürchte – ja.“
„Dann – dann ...“ Frau Griesmayer blieb kurz stehen. „Verzeihen Sie, wenn ich das sage. Dann haben Sie Ihre Tochter nicht gut erzogen. Ich habe drei Töchter, aber so etwas würde keine von ihnen zu mir sagen.“
„Nicht gut erzogen!“ Berta Dietrich nickte niedergeschlagen. „Ja, vielleicht ist Ihr Vorwurf berechtigt, Frau Griesmayer, aber ich habe meinen Mann verloren, als Sonja erst drei Jahre alt war. Ich musste mich mit dem Kind allein durchschlagen. Sonja war mein Ein und Alles. Ich hatte nur sie. Wahrscheinlich war ich deshalb immer nachsichtig mit ihr – und so habe ich sie verzogen, ohne dass es mir richtig bewusst war.“
Die Frauen gingen weiter. Sie erreichten Berta Dietrichs Haus, und diese lud Clara Griesmayer zu Kuchen und Kaffee ein.
„Ich möchte Ihnen keine Umstände machen“, wehrte Oma Clara ab. „Sie haben ein krankes Knie.“
„Kaffee kochen kann ich noch, und der Kuchen ist vom Konditor.“
„Wir können doch auch bei mir Kaffee trinken.“
„Dann muss ich noch weiter laufen, und der Heimweg bleibt mir auch nicht erspart.“
Das war ein Argument, das Clara Griesmayer gelten lassen musste. „Aber ich darf Ihnen helfen, ja?“, sagte sie, und damit war Berta Dietrich einverstanden.
„Schmeckt herrlich, der Pflaumenkuchen“, sagte Frau Griesmayer wenig später. Die beiden Frauen saßen im gemütlichen Wohnzimmer am hübsch gedeckten Speisetisch. Auf einem Bücherbord stand eine Delfter Uhr, die leise tickte.
„Nehmen Sie sich doch noch ein Stück“, forderte Frau Dietrich die gute Bekannte auf.
„Ach nein“, zierte sich die füllige Oma Clara, „ich kann doch nicht ...“
„Warum denn nicht?“
Frau Griesmayer sah an sich herunter. „Ich bin ohnehin schon so dick.“
„Ach was“, meinte Berta Dietrich mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Wenn ihnen der Kuchen schmeckt ... Und so dick sind Sie ja gar nicht.“
„Na“, machte Oma Clara, mit erheblichem Zweifel im Gesicht.
„Sagt Ihr Mann das?“
„Ich sehe es“, antwortete Frau Griesmayer.
„Mein Gott, Sie sind keine Zwanzig mehr.“
„Sie auch nicht, aber Sie sind immer noch schön schlank.“ Clara Griesmayer sagte es mit unverhohlenem Neid in den Augen.
„Das liegt bei uns in der Familie. Vater, Mutter, Großeltern – alle waren dünn wie Zahnstocher.“
Frau Dietrich zwinkerte. „Also, Frau Griesmayer, noch ein Stück?“
„Na schön. Sie geben ja doch keine Ruhe. Es gefällt Ihnen wohl, andere zu mästen.“
„Ich sehe gern, wenn es meinen Gästen schmeckt.“ Berta Dietrich legte das Stück Pflaumenkuchen mit der Tortenschaufel auf Oma Claras Teller.
„Und Sie?“, fragte Frau Griesmayer.
Frau Dietrich ächzte. „Ich kann nicht mehr.“
„Aha. Aber ich muss.“
„Das ist der Nachteil, wenn man Gast ist“, lachte Berta Dietrich. „Da kann man nicht so, wie man will.“
Oma Clara verdrückte das Stück Kuchen ohne Probleme. Nach weiteren zwei Tassen Kaffee hielt vor dem Haus ein knallroter Sportwagen, und eine elegant gekleidete Frau Anfang dreißig stieg aus. Der Wind brachte ihr langes blondes Haar in Unordnung. Sie strich es sich mit einer unwilligen Handbewegung aus der Stirn und näherte sich dem Haus.
„Ihre Tochter kommt“, sagte Oma Clara: „Ich breche auf.“
„Deshalb brauchen Sie doch nicht zu gehen.“
„Mein Mann wird bald nach Hause kommen, und ich hab noch ein bisschen was zu tun“, sagte Frau Griesmayer und erhob sich.
Es läutete.
„Ich lass Ihre Tochter ein“, sagte Clara Griesmayer und verließ das Wohnzimmer. Sie öffnete die Tür.
„Tag, Frau Griesmayer“, grüßte Sonja Winter.
„Tag, Frau Winter. Wie geht’s?“
„Ganz gut. Und Ihnen?“, fragte Sonja.
„Ein bisschen Husten, hab mich erkältet, aber das wird schon wieder.“
Die eine trat ein, die andere ging hinaus.
„Ich hoffe, Sie gehen nicht meinetwegen“, sagte Sonja Winter lächelnd.
„Ich möchte vermeiden, dass mein Mann eine Vermisstenanzeige aufgibt – oder noch mal heiratet, wenn ich zu lange wegbleibe“, erwiderte Oma Clara und entfernte sich mit schweren Schritten.
„Sie mag mich nicht“, sagte Sonja zu ihrer Mutter, die in der Wohnzimmertür stand.
„Unsinn, das bildest du dir ein.“
„Ich fühle es.“ Sonja Winter ging zu Berta Dietrich und küsste sie. „Hallo, Mutter. Wieso gehst du mit einem Stock? Bist du gestürzt?“
Frau Dietrich erzählte ihrer Tochter, was ihr fehlte.
„Warst du schon beim Arzt?“, fragte Sonja.
„Ja. Dort habe ich auch Frau Griesmayer getroffen. Sie hat mich nach Hause begleitet.“ Sie drehte sich um und humpelte zum Sofa.
„Was sagt Dr. Kayser? Kann er dir helfen?“
Frau Dietrich setzte sich. „Ich muss in die Seeberg-Klinik.“
Sonja Winter erschrak. „Wozu?“
„Die Zyste muss operativ entfernt werden.“
Sonja setzte sich neben ihre Mutter. „Wann?“
„Übermorgen“, antwortete Berta Dietrich.
„Oh! Ich dachte, ich könnte dir Iris bringen, aber ... Naja, es wird sich eine andere Lösung finden.“
„Was hast du denn vor?“, erkundigte sich Frau Dietrich.
Sonja schürzte die Lippen. „Wir wollen für ein paar Tage nach Kaprun. Ein bisschen mit dem Segelflieger über den Alpen kreisen, ein bisschen Bergluft schnuppern, ein bisschen ausspannen.“
„Du und Patrick?“
Sonja senkte etwas verlegen den Blick und schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich fahre nicht mit Patrick. Mit jemandem, den du nicht kennst.“ Jetzt sah sie ihre Mutter an, und in ihren Augen funkelte ein kriegerischer Trotz. „Patrick hat ja – wie immer – keine Zeit, und ich sehe nicht ein, weshalb ich mich daheim vergraben soll. Zu Hause sterben die Leute, sagt man.“
Berta Dietrich schwieg. Sie betrachtete ihre Tochter nur traurig.
„Ich bin nicht geschaffen für ein Leben im goldenen Käfig“, meinte Sonja sich verteidigen zu müssen. „Ich bin jung, erst vierunddreißig. Ich möchte noch etwas erleben. Wenn Patrick lieber arbeitet, als mit mir und Iris zusammen zu sein, ist das seine Sache. Ich spiel’ da jedenfalls nicht mit.“
Sonja war Sportfliegerin. Sie gehörte einem Club an, in dem es vorwiegend Männer gab. Das Angebot an Verehrern war dementsprechend groß, und Berta Dietrich hatte auf Umwegen vernommen, dass ihre Töchter davon reichlich Gebrauch machte. Angeblich wechselte Sonja ihre Liebhaber sehr häufig. Frau Dietrich glaubte nicht, dass das nur hässliches Gerede war, und sie schämte sich für den unverantwortlich lockeren Lebenswandel ihrer Tochter.
Wer mochte es diesmal sein? Mit wem wollte Sonja ein paar Tage in Kaprun verbringen? Mit jemandem, den ich nicht kenne, dachte Frau Dietrich bitter. Das muss mir als Antwort genügen. Mehr würde sie mir auch nicht verraten, wenn ich sie mit neugierigen Fragen löchern würde.
„Ich bringe Iris zu den Kaspareks“, überlegte Sonja laut. „Ja, das ist eine gute Idee. Sie liegen mir seit Wochen mit der Bitte in den Ohren, ich solle Iris bei ihrer Tochter schlafen lassen. Okay, nun schickt es sich mal.“
Auf die Idee, die Reise nach Österreich abzublasen, kam Sonja nicht. Der neue Mann musste ihr sehr wichtig sein. Aber diesmal war Iris wenigstens nicht die Leidtragende.
Sie würde mit Jasmin Kasparek ihren Spaß haben. Sie hatte ihrer Omi schon oft von diesem Mädchen vorgeschwärmt. Jasmin war ihre beste Freundin.
„Wie geht es Iris?“, erkundigte sich Berta Dietrich.
Sonja wiegte den Kopf. „Sie ist in letzter Zeit ein bisschen dünn geworden.“
„Ist sie krank?“, fragte Frau Dietrich sofort besorgt.
„Nein. Sie hat bloß keinen Appetit“, antwortete Sonja Winter.
„Vielleicht solltest du mit ihr mal zu Dr. Kayser gehen.“
Sonja schüttelte den Kopf. „Ach was, das wird schon wieder. Man darf so etwas nicht überbewerten.“
„Man sollte es aber auch nicht ignorieren. Iris’ Appetitlosigkeit muss eine Ursache haben!“
„Jedes Kind isst mal mehr, mal weniger“, sagte Sonja unbekümmert. „Das ist kein Grund, sich gleich Sorgen zu machen und den Arzt aufzusuchen.“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr aus Platin. Ein Geschenk von Patrick. Er war sehr großzügig, und immer waren sie ja nicht wie Hund und Katze zueinander. Aber leider immer öfter. „Ich muss gehen, Mama.“
„Ich hab’ dir noch nicht mal etwas angeboten“, sagte Frau Dietrich schuldbewusst.
„Das macht nichts“, erwiderte Sonja lächelnd. „Ich bin weder hungrig noch durstig.“ Sie legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm. „Leider bin ich nicht in München, wenn du operiert wirst. Wir sehen uns hinterher. Ich wünsch’ dir alles Gute, obwohl es beinahe überflüssig ist, dehn die Seeberg-Klinik genießt den allerbesten Ruf.“