Читать книгу Arztroman Sammelband: Drei Romane: Ihre Verzweiflung war groß und andere Romane - A. F. Morland - Страница 26
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Berta Dietrich hatte die Operation gut überstanden, der postoperative Wundschmerz hielt sich in erträglichen Grenzen.
Schwester Marianne wechselte die Infusionsflasche aus und beobachtete aufmerksam den Tropf.
Die Patientin bekam die verordneten Pillen, und Schwester Marianne achtete darauf, dass sie sie einnahm. Dr. Seeberg war bereits im Haus.
In Kürze würde die Morgenvisite beginnen. Frau Dietrich mochte den Klinikchef, der sie selbst operiert hatte, sehr. Sie hatte von Anfang an Vertrauen zu ihm gehabt, und er hatte wirklich großartige Arbeit geleistet. Achtundvierzig Jahre war er alt, das wusste Frau Dietrich von Schwester Marianne, und aus derselben Quelle stammte die Information, dass Dr. Ulrich Seeberg verwitwet war und mit seiner zweiten Frau, Dr. Ruth Seeberg, einer Anästhesistin, eine Tochter namens Babs und einen Sohn namens Kai hatte.
Babs war fast zweiundzwanzig und studierte Medizin. Kai war sechzehn, ein Lausbub mit einer ziemlich ausgeprägten Tierliebe. Und Dr. Kayser war mit der Familie Seeberg eng befreundet. Ganz schön viel, was Berta Dietrich in dieser kurzen Zeit in Erfahrung gebracht hatte.
Als Dr. Seeberg nun zur Tür hereinkam, lächelte Frau Dietrich ihn freundlich an.
Ein Rattenschwanz von Weißkitteln folgte ihm. Auch Dr. Carlos Morena gehörte dem kleinen Grüppchen an. Er war gebürtiger Spanier und lebte schon lange in Deutschland. Frau Dietrich wusste – ebenfalls von Schwester Marianne – dass er in der Seeberg-Klinik der Playboy vom Dienst war. Ein hübscher Mensch. Fünfunddreißig Jahre alt, frei und ungebunden.
Warum hätte er dem weiblichen Geschlecht nicht zugetan sein sollen? Es sprach nichts dagegen. Frau Dietrich hatte auch für ihn ein freundliches Lächeln. Dr. Ulrich Seeberg sah sich kurz die Fieberkurve an und erkundigte sich dann nach Berta Dietrichs Befinden.
„Ich bin zufrieden, Herr Doktor“, antwortete die Patientin.
„Schmerzen?“
„Kaum.“
Dr. Seeberg untersuchte die Patientin und war mit dem Ergebnis zufrieden. „In ein paar Tagen sind Sie wieder auf den Beinen“, versicherte er ihr.
„Wie dumm von mir, mich so sehr vor der Operation zu fürchten“, meinte Berta Dietrich verlegen.
„Jeder hat Angst, wenn er sich unters Messer legen muss, Frau Dietrich. Sie sind da bei Gott keine Ausnahme. Die einen geben es offen zu, die anderen wollen es sich nicht einmal selber eingestehen. Die Menschen sind eben verschieden. Ich finde, es ist keine Schande, sich zu fürchten. Das ist eine völlig normale Reaktion.“
„Es tut gut, mit seiner Angst an einen so verständnisvollen Arzt zu gelangen“, sagte Berta Dietrich dankbar. Dr. Seeberg hatte noch ein paar aufmunternde Worte für die Patientin, dann ging er weiter. Eine Stunde später bekam die Frau Besuch von einem anderen Arzt.
Dr. Sven Kayser schaute bei seiner Patientin auf einen Sprung rein. „Sie sehen großartig aus, Frau Dietrich“, stellte der Grünwalder Arzt zufrieden fest. „Ist alles in Ordnung?“
„Alles in bester Ordnung“, antwortete Berta Dietrich.
„Irgendwelche Bitten oder Beschwerden?“
„Nein, Herr Doktor, ich bin rundum zufrieden“, strahlte Frau Dietrich. „Die Ärzte und das Pflegepersonal – alle sind wahnsinnig nett zu mir.“
„Vorsicht!“, grinste Dr. Kayser. „Die verfolgen damit einen ganz bestimmten Zweck! Zum einen wollen sie Sie so lange wie möglich hierbehalten, und zum anderen sollen Sie so bald wie möglich mit irgendeinem anderen Wehwechchen wiederkommen. Und Werbung sollen Sie für die Seeberg-Klinik natürlich auch machen, solange Sie draußen sind.“
„Ich kann diesem Krankenhaus wirklich nur das allerbeste Zeugnis ausstellen.“
Dr. Kayser nickte ernst. „Das weiß ich. Wenn es anders wäre, wäre ich hier nicht Belegarzt. War bloß ein Witz, was ich gesagt habe.“
„Dr. Seeberg ist Ihr Freund, nicht wahr?“
„Wir verstehen uns seit vielen Jahren blendend“, antwortete Sven Kayser.
„Sollte ich wieder einmal operiert werden müssen, dann nur in diesem Haus.“
Sven lächelte. „Es wird Doktor Seeberg freuen, wenn ich ihm das sage.“
Frau Dietrich dankte ihm bewegt für seinen Besuch. Von ihrer Familie würde niemand kommen, meinte sie mit feuchten Augen. „Meine Tochter befindet sich zur Zeit in Kaprun, und mein Schwiegersohn gar geschäftlich in Hongkong.“
„Und wo ist Iris?“, fragte Sven Kayser.
„Die hat Sonja bei einer Schulfreundin untergebracht. Vielleicht kennen Sie die Familie. Kasparek heißt sie.“
Jemand von den Kaspareks gehörte nicht zu Dr. Kaysers Patienten, das wusste er mit Gewissheit. Er schüttelt den Kopf.
„Wenn Sie mich nicht in die Seeberg-Klinik geschickt hätten, wäre Iris jetzt bei mir.“
„Es war nötig, Sie so bald wie möglich zu operieren“, erwiderte Dr. Kayser.
„Sehe ich ja ein, Herr Doktor“, sagte die Patientin, „und ich bin froh, dass ich es hinter mir habe. Und wie das so ist im Leben – kaum hat man selber keine Sorgen mehr, macht man sich schon wieder welche um andere.“
„Um wen machen Sie sich denn Sorgen, Frau Dietrich?“, wollte Sven wissen.
„Um meine Enkeltochter“, seufzte Berta Dietrich. „Das Kind wird immer weniger.“
Sven Kayser horchte auf. „Ist Iris krank?“
„Organisch wahrscheinlich nicht“, meinte Berta Dietrich. „Aber gemütskrank – das könnte sie sein. Ist ja kein Wunder. Meine Tochter und ihr Mann leben in permanentem Kriegszustand. Dass das der Kleinen weh tut, kann ich verstehen. Mir ist es ja auch nicht einerlei. Aber ich kriege die vielen Streitereien wenigstens nicht ständig hautnah mit. Die arme Iris aber schon, und das hat sie anscheinend appetitlos gemacht.“
Dr. Kayser sagte, er wolle sich das Kind gerne einmal anschauen.
Frau Dietrich nickte. „Ich habe meiner Tochter bereits empfohlen, mit der Kleinen zu Ihnen zu gehen, doch sie ist der Ansicht, das sei nicht nötig.“
„Das zu entscheiden sollte sie mir überlassen. Lieber einmal zu viel zum Arzt gehen als einmal zu wenig.“
„Ich werde noch einmal mit ihr reden, wenn ich hier raus bin und Sonja aus Österreich zurück ist“, versprach Berta Dietrich, und Dr. Kayser verabschiedete sich. Seine nächste Station war Dr. Ulrich Seebergs Büro.
Ute Morell, die 44-jährige Chefarztsekretärin, begrüßte ihn herzlich. „Herr Doktor Kayser! Wie schön, Sie zu sehen.“
„Hallo, wie geht’s immer?“, gab Sven heiter zurück. „Sie sehen phantastisch aus. Woher haben Sie denn diese gesunde Bräune?“
Ute Morell lachte. „Nicht aus dem Sonnenstudio.“
„Sondern?“, fragte Dr. Kayser.
Ute Morell wippte mit den Augenbrauen. „Teneriffa.“
„Wie lange?“, erkundige sich Sven Kayser.
„Zwei Wochen“, antwortete die Chefarztsekretärin.
Sven grinste. „Vielen Dank für die Ansichtskarte.“
Die Sekretärin sah ihn einen Moment irritiert an. „Ich habe Ihnen keine geschrieben.“
„Ach, deshalb habe ich keine bekommen“, schmunzelte Dr. Kayser.
„Ich habe überhaupt niemandem geschrieben“, erklärte Ute Morell.
Sven Kayser staunte. „Nicht einmal Ihrem Chef?“
„Dem natürlich schon, aber sonst niemandem. Vergangenes Jahr war ich im Juni auf Gran Canaria – und wissen Sie, wann meine Karten angekommen sind? Ende November.“
Sven lachte. „Die müssen über ein Mars-Postamt umgeleitet worden sein.“
„Scheint so“, sagte Ute Morell. „Auf jeden Fall habe ich mich danach entschlossen, das Kartenschreiben einzustellen. Die einzige Ausnahme ist Doktor Seeberg – weil er so gerne Urlaubskarten bekommt.“
„Ist er in seinem Allerheiligsten?“
Die Sekretärin nickte. „Doktor Schlüter, Doktor Rüsch und Doktor Liebig sind bei ihm.“
Dr. Kayser hob die Hände. „Wenn der Häuptling Kriegsrat hält, möchte ich nicht stören.“
Im selben Moment wurde die Tür geöffnet, und die drei Ärzte, die Ute Morell soeben genannt hatte, traten ins Vorzimmer. Dr. Kayser schüttelte den Kollegen die Hand.
„Praktischer Arzt müsste man sein“, grinste Dr. Thomas Rüsch, genannt Onkel Tom, weil er alle Schwestern „Kindchen“ zu nennen pflegte. „Dann hätte man tagsüber Zeit, gute Freunde zu besuchen.“
Sven lachte. „Nur keinen Neid aufkommen lassen, Herr Kollege.“
„Höre ich da Sven Kaysers Stimme?“, fragte Dr. Seeberg im Hintergrund.
„Ich beglückwünsche dich zu deinem exzellenten Gehör“, gab Sven amüsiert zurück.
Dr. Schlüter, Dr. Rüsch und Dr. Liebig verließen das Vorzimmer und gingen auf ihre Stationen, während Dr. Kayser das Büro seines Freundes betrat. Dr. Ulrich Seeberg zeigte auf Sven. „Kaffee?“
„Danke, ja.“
Dr. Seeberg zeigte auf Ute Morell. Er brauchte kein Wort zu sagen. „Okay, Chef“, sagte die tüchtige Sekretärin sofort und „warf“ die Kaffeemaschine an.
Ulrich Seeberg musste sofort loswerden, dass sie neuerdings zu Haus einen Alligator hatten. „In Pflege“ sagte er finster. „Die Frau, der das junge Ungeheuer gehört, ist für drei Wochen zur Kur nach Abano gefahren ...“
Sven Kayser schmunzelte. „Und Kai hat die reißende Bestie heim gebracht.“
„Er hat eben ein Herz für Tiere“, stöhnte Ulrich. ,„Kai, hab’ ich zu ihm gesagt, warum bringst du uns keine Tanzmaus? Oder einen Zwerghasen? Warum muss es gleich ein ausgehungertes Krokodil sein?’“
„Wo habt ihr das liebe Tierchen denn untergebracht?“, erkundigt sich Dr. Kayser.
Dr. Seeberg zog grimmig die Augenbrauen zusammen. „In der Badewanne.“
„Da würde ich ab sofort beim Reinsteigen sehr vorsichtig sein.“
„Seither wird bei uns nur noch geduscht“, sagte Dr. Seeberg.
„Wie lange ist die Ziehmutter des Alligators schon in Abano?“
„Vier Tage“, antwortete Ulrich Seeberg.
„Dann habt ihr euren geschuppten Freund ja nur noch siebzehn Tage.“
„Es wird uns schwerfallen, uns von ihm zu trennen“, erklärte Ulrich ironisch.
„Und was tust du, wenn die Dame sich in Abano verliebt und nicht mehr nach Hause kommt?“
Dr. Seeberg verdrehte die Augen. „Mal den Teufel bitte nicht an die Wand, Sven.“
„Wer füttert das Reptil?“, fragte Dr. Kayser.
„Kai natürlich. Das lässt er sich nicht nehmen.“
„Und was gibt er ihm?“, erkundigte sich Sven Kayser.
Ulrich rümpfte die Nase. „Das will ich gar nicht wissen.“
„Hat der Alligator einen Namen?“, fragte Sven.
Dr. Seeberg nickte. „Er heißt Bobby.“
„Vielleicht wird euch Bobby in diesen drei Wochen so sehr ans Herz wachsen, dass ihr ihn gar nicht mehr hergeben wollt.“
„Das bezweifle ich“, sagte Ulrich mit belegter Stimme. „Wenn ich mich nicht strafbar machen würde, würde ich Bobby glatt zur Flucht verhelfen.“
Ute Morell brachte den Kaffee und ging wieder hinaus. Die Ärzte wechselten das Thema. Dr. Kayser erwähnte seinen Besuch bei Berta Dietrich.
„Ihr Kreislauf gefällt mir nicht“, sagte Dr. Seeberg.
„Was ist damit?“, fragte Dr. Kayser.
„Er ist etwas instabil, aber das kriegen wir in einigen Tagen hin“, meinte Ulrich Seeberg zuversichtlich.
„Thomas Winter ist der Bruder ihres Schwiegersohnes“, klärte Sven Kayser den Freund auf. Er goss Milch in seinen Kaffee und rührte um.
„Winter erholt sich leider nur sehr schleppend“, bemerkte Ulrich Seeberg ernst. „Das war ein ganz böser Hinterwandinfarkt, der ihn da umgeworfen hat. Er ist noch lange nicht außer Gefahr. Es kann jederzeit zu einem Rückschlag kommen – den er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht überleben würde.“
Sven nahm einen Schluck vom heißen Kaffee. „Das erste EKG hat keinen Infarkt gezeigt.“
„Dafür war er auf dem zweiten Streifen um so deutlicher zu erkennen“, entgegnete Ulrich.
Nachdem sie den Kaffee getrunken hatten, wollte Sven Kayser den Patienten sehen. Dr. Seeberg begleitete den Freund auf die Intensivstation.
Sie zogen die vorgeschriebene Schutzkleidung an.
Thomas Winter lächelte matt, als er Dr. Kayser erkannte. Er hing an Schläuchen und Drähten, und die Apparate, von denen er umgeben war, summten, brummten, klackten, piepsten und tickten!
„Ich hab’ schon mal besser ausgesehen, was?“, versuchte sich Thomas Winter über seinen Zustand lustig zu machen.
„Sie schaffen das schon, Herr Winter“, sagte Sven Kayser optimistisch, obwohl der Patient nicht diesen Eindruck machte. Thomas Winter sah eher aus, als hätte er die letzten vierundzwanzig Stunden vor sich.
„Sicher, Doktor Kayser“, nickte er kraftlos. „Sicher, ich schaff’ das schon – irgendwie.“