Читать книгу Arztroman Sammelband: Drei Romane: Ihre Verzweiflung war groß und andere Romane - A. F. Morland - Страница 8
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„Mir laust der Affe“, staunte Schwester Gudrun. „Oma Clara! Seh’ ick richtig?“
„Ja, Sie sehen richtig, Schwester“, antwortete die füllige Frau, die soeben zur Tür hereingekommen war, griesgrämig. „Ich bin es wirklich. Sie haben keinen Geist vor sich.“
Oma Clara – Clara Griesmayer war ihr vollständiger Name – trug ein einfaches dunkelgraues Kleid und ein altes verwaschenes Kopftuch. Für Kleidung hatte sie noch nie viel Geld ausgegeben. Was sie sich ersparen konnte, bekamen ihre zahlreichen Enkelkinder, über die sie ihre Liebe mit dem Gießkannenprinzip verteilte. Sie war eine sehr gerechte Frau, aber sie war auch eine sehr eigenwillige Person, die sich nur ungern etwas sagen ließ.
„Wat führt Se denn zu uns?“, fragte Gudrun Giesecke, die Perle von der Spree, die nur dann ihren Berliner Dialekt vergaß, wenn sie sich ärgerte.
„Niemand führt mich, das sehen Sie doch“, erwiderte Oma Clara. Fünfundsechzig war sie letzten Monat geworden, aber sie sah älter aus – abgearbeitet. Sie wusste es, wollte es jedoch von niemandem hören. „Ich brauche keine Hilfe. Ich bin noch sehr gut auf den Beinen.“
„Und wat verschafft uns dann die Ehre Ihres geschätzten Besuches?“, erkundigte sich die grauhaarige Arzthelferin vergnügt.
„Ottokar, mein Mann, verschafft euch die Ehre“, grollte Oma Clara. Sie war in der Grünwalder Arztpraxis bestens bekannt, aber nicht als Patientin. In dieser Rolle trat sie nur alle Jubeljahre mal auf, denn sie vertrat den Standpunkt, dass sie keinen Doktor brauche. „Wenn nur die zum Arzt gehen würden, die es wirklich nötig haben, wären die Wartezimmer stets so gut wie leer“, pflegte sie zu sagen. „Die Hälfte aller Patienten sind Simulanten und eingebildete Kranke.“
Was Oma Clara zu wenig zum Arzt ging, ging ihr Mann zu viel, und da sie ihn oft zu Dr. Kayser begleitete, war sie hier ebenso gut bekannt wie Ottokar Griesmayer.
„Warum schickt Ihr juter Mann Se zu uns?“, erkundigte sich Schwester Gudrun vorsichtig.
„Husten tu’ ich ihm zu viel“, brummte die Patientin verdrossen. „Ich krieg’ das schon wieder hin, hab’ ich ihm gesagt, aber er hat darauf bestanden, dass ich mich von Dr. Kayser untersuchen lasse.“
„Freut mia, dat Ihr Mann sich mal bei Ihnen durchjesetzt hat“, meinte Schwester Gudrun schmunzelnd. „Det kommt ja wohl nicht allzu oft vor, wa?“
„Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier soll.“ Oma Clara unterdrückte ein Husten.
„Dr. Kayser wird sich jenau wie ick freuen, Sie zu sehen.“
„Ja, mag sein“, brummte Oma Clara. Und als sie kurz darauf Dr. Sven Kaysers Sprechzimmer betrat, sagte sie sofort, um alle Missverständnisse auszuräumen: „Ich bin nicht aus freien Stücken hier, das möchte ich vorausschicken.“
„Ich nehm’s zur Kenntnis“, entgegnete Sven Kayser schmunzelnd. Er wies auf den Patientenstuhl. „Würden Sie sich setzen, Oma Clara, wo Sie schon mal hier sind, und mir sagen, was Ihnen fehlt?“
Frau Griesmayer ließ sich auf den Stuhl sinken. „Nichts fehlt mir. Mein Mann ist ein Spinner. Und ein Hypochonder. Anscheinend genügt er sich selbst nicht mehr, deshalb fängt er nun an, seine Hypochondrie auf mich zu übertragen.“
„Was gibt ihm Anlass, sich um Sie Sorgen zu machen?“
Oma Clara winkte ab. „Ich huste ein bisschen.“
„Seit wann?“, erkundigte sich Dr. Kayser, der die kauzige Frau seit Langem ins Herz geschlossen hatte.
„Seit drei Wochen. Ich hab’ mich in der Waschküche erkältet.“
„Erlauben Sie, dass ich Sie untersuche?“, fragte Sven Kayser.
„Deswegen bin ich hier, aber das eine sage ich Ihnen gleich: Ich habe nichts gegen Sie. Sie sind ein lieber, sympathischer Mensch. Doch was immer Sie mir verschreiben: Ich werd’s nicht nehmen. Ich halte nämlich nichts von diesen Chemiebomben, die mehr Schaden anrichten als nützen.“
„Ich auch nicht, Oma Clara“, sagte Dr. Kayser.
„Sie auch nicht?“ Clara Griesmayer sah ihn überrascht an. Sie hustete kurz. „Aber Sie sind doch Arzt!“
„Muss ich deswegen mit Kanonen auf Spatzen schießen?“
Frau Griesmayer blies ihren voluminösen Busen auf. „Wenn ich krank werde, kuriere ich mich so gut wie immer selbst.“
„Dagegen ist vom ärztlichen Standpunkt nichts einzuwenden.“
Dr. Kayser verblüffte die Frau immer mehr. „Nein?“, sagte sie staunend.
„Das hängt natürlich von der Schwere der Erkrankung ab“, schränkte Sven Kayser ein, „aber einer harmlosen Erkältung kann man durchaus auch mit bewährten Hausmitteln zu Leibe rücken.“
Oma Clara musterte ihn ungläubig. Sollte sie Dr. Kayser so sehr verkannt haben? „Ist das wirklich Ihre Überzeugung?“, fragte sie Sven lächelte. „Aber ja!“
„Es gibt sehr gute Hausmittel“, sagte Oma Clara.
Sven Kayser nickte. „Bin ganz Ihrer Meinung.“
Clara Griesmayer strahlte ihn begeistert an. „Sie werden mir immer sympathischer.“ Sie hustete erneut ein wenig.
„Würden Sie bitte den Oberkörper frei machen, Oma Clara?“
„Ja. Ja, natürlich.“ Frau Griesmayer knöpfte ihr Kleid auf, und Dr. Kayser untersuchte sie. Er diagnostizierte eine hartnäckige Bronchitis. Nicht Ernstes.
„So“, sagte er freundlich. „Sie können sich schon wieder anziehen. Erzählen Sie mir mal, was Sie gegen Ihre Bronchitis tun.“
Die Patientin hustete. „Also, mein Mann würde sofort literweise hustenstillende Mittel in sich hineinschütten.“
„Das wäre grundfalsch.“
„Freut mich, dass wir einer Meinung sind, Herr Doktor. Ich koche mir, um den Auswurf zu lösen, einen Bronchialtee, dem ich reinen Bienenhonig zusetze. Auf Brust und Rücken kommt ein ätherischer Balsam, der sowohl durch die Haut als auch durch die Atemluft, mit der sich seine leicht flüchtigen Wirkstoffe vermischen, wirkt, und außerdem inhaliere ich homöopathische Hustenmittel. So ein Kopfdampfbad ist nicht jedermanns Sache. Mir macht es nichts aus. Ich gieße kochendes Wasser in eine Schüssel, gebe einen Teelöffel von der Erkältungssalbe hinein, setze mich davor, beuge den Kopf darüber und decke mich mit einem Badelaken ab, und dann atme ich den Dampf solange ein, wie er aufsteigt. Dann entferne ich das Badetuch, reibe mein Gesicht feucht ab und trockne mich mit einem Frottiertuch ab. Das bleibt dann noch eine Weile über meinem Kopf, bis ich mich abgekühlt habe. Weniger anstrengend, aber auch nicht so wirksam, ist das Inhalieren mit einem Trichter, deshalb halte ich nichts davon.“
Clara Griesmayer zählte auf, mit welchen Gemüsearten sie ihren Husten behandelte: Lauch, Lauchsaft, Löwenzahnsaft, Meerrettich und Petersiliensaft. Zu ihrem großen Erstaunen ergänzte Dr. Kayser ihre Liste mit: Rhabarber, Salbeisaft, Sellerie, Spargel, Spinat, Tomaten, Traubensaft, Wirsing und Zwiebeln. Und er schrieb ihr kein einziges Medikament auf. Da hatte er sie vollends für sich eingenommen.