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Sonja Winter fuhr auf dem Heimweg bei den Kaspareks vorbei, und Jasmin schlug vor Freude Purzelbäume, als sie erfuhr, dass Iris bei ihr schlafen durfte – und gleich mehrere Nächte!

Als Sonja wieder in ihrem roten Sportwagen saß, fiel ihr ihre Mutter ein. Sie ist mit meinem Lebenswandel nicht einverstanden, dachte sie. Sie hat zwar kein Wort gesagt, aber ich hab’s ihr angesehen. Ich weiß, wie sie über mich und über meine Ehe denkt. Ein Blick in ihre traurigen Augen genügt.

„Denkst du vielleicht, ich bin happy?“, sagte sie laut vor sich hin, während sie aggressiv startete. „Ich würde viel lieber eine gute, harmonische Ehe führen, mit einem Mann, der mich versteht, der auf meine Bedürfnisse eingeht, der Zeit für mich hat. Aber Patrick ist ja die Jagd nach dem verfluchten Geld viel wichtiger als alles andere.“

Sie fuhr los, ohne in den Spiegel zu sehen. Ein Wagen bremste scharf ab, der Fahrer drückte wütend auf die Hupe. „Ja, ja, schon gut“, rief Sonja. „Reg dich ab. Jeder macht mal einen Fehler. Du etwa nicht?“

Sie fuhr nach Hause. Das große Haus war deprimierend leer. Nur Iris war daheim. Anderen Vierzehnjährigen wuchs schon der Busen. Iris nicht. Sie sah aus wie eine Zwölfjährige, war flach, dünn und blass. Sie hatte noch nicht einmal mit ihrem Zyklus angefangen.

Sonja fand sie in ihrem Zimmer. Iris lag auf dem Bett und las. „Warum gehst du nicht raus?“, fragte ihre Mutter.

„Was soll ich draußen?“, gab Iris gelangweilt zurück.

„Der Mensch braucht Licht und Luft. Ist ja kein Wunder, wenn du an Appetitlosigkeit leidest, wenn du dich immer in deinem Zimmer vergräbst. Du solltest dich im Freien bewegen, damit du mehr Sauerstoff in die Lungen bekommst.“

„Hab’ keine Lust dazu“, murmelte Iris.

„Keine Lust, keine Lust. Zu nichts hast du Lust. Als ich in deinem Alter war ...“

„... hattest du schon den zweiten Freund.“ Iris gähnte.

„Jawohl.“

„Muss ich deshalb auch Jungs mögen?“, fragte das Mädchen gedehnt.

„Na ja, es ist die natürlichste Sache von der Welt.“

„Vielleicht will ich nicht so werden wie du“, meinte Iris.

Es blitzte gefährlich in Sonja Winters Augen. „Werd’ bloß nicht frech, sonst setzt es was! Du weißt, wie leicht mir die Hand ausrutscht, wenn man mich ärgert.“

„Entschuldige“, sagte Iris monoton.

„Ich werde für einige Tage verreisen.“

„Wohin?“

„Nur nach Kaprun.“

„Muss ich mitkommen?“

„Nein, du brauchst nicht mitzukommen.“

Iris setzte sich auf. Sie trug bunte Leggings und ein überweites weißes T-Shirt. „Soll ich unser Haus allein hüten?“

„Du wirst zu den Kaspareks gehen.“ Iris’ Züge hellten sich auf. „Hast du schon mit Ihnen gesprochen?“

„Ich komme gerade von ihnen. Jasmin freut sich schon sehr auf dich. Ihr stellt Herrn und Frau Kasparek hoffentlich nicht das Haus auf den Kopf. Ich erwarte von dir, dass du dich anständig und gesittet benimmst. Sonst warst du zweimal bei der Familie Kasparek: das erste und das letzte Mal.“

Unten läutete das Telefon. Sonja verließ das Zimmer ihrer Tochter und eilte ins Erdgeschoss. Im luxuriös ausgestatteten Wohnzimmer stand ein weißer Nostalgie-Apparat.

Sonja nahm den Hörer ab. „Hallo!“

„Sonja?“

Die Stimme ließ sie schmelzen. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wer denn sonst?“, sagte sie mit verführerischem Timbre.

„Nimmt deine Mutter Iris?“, erkundigte sich der Mann am anderen Ende der Leitung. Joachim Aiger war sein Name, und er hatte ebenso viel Geld wie Patrick. Teils geerbt, teils dazuverdient –

mit seinen beiden Fabriken. Im Unterschied zu Patrick versuchte er allerdings nicht, alles selbst zu machen, sondern ließ sich von tüchtigen Direktoren unterstützen.

„Nein“, antwortete Sonja, „denn sie muss am Knie operiert werden.“

Pause. Dann ein enttäuschtes: „Oh. Dann fällt Unser Kurzurlaub nach Kaprun also ins Wasser.“

Sonja lachte. „Wer sagt denn so etwas? Ich habe Iris bei Bekannten untergebracht. Unserer Reise nach Österreich steht somit nichts mehr im Wege.“

„Na, das ist ein Wort“, rief Joachim Aiger erfreut aus. Er war ebenfalls ein Clubkamerad von Sonja und ein gerade zu besessener Sportflieger. „Ich lass noch heute eine Suite für uns reservieren.“

Ihre Stimme wurde dunkel. „Und ich muss mir noch ein hübsches Nachthemd kaufen.“

„Für mich?“, fragte der Mann begeistert.

„Schließlich möchte ich dir doch gefallen’’, sagte Sonja.

„Das tust du sowieso. Auch ohne Nachthemd.“

Sonja lachte hell auf. „Das glaube ich dir.“ Sie legte auf und drehte sich um. Iris stand in der Tür und sah sie mit stummem Vorwurf an.

„Man hört nicht zu, wenn andere telefonieren!“, herrschte sie ihre Tochter an.

„Ich hab’ nicht zugehört“ entgegnete Iris.

Sonjas Augen blickten streng. „Wie lange stehst du schon hier?“

„Eine halbe Minute“, antwortete Iris.

„Und was willst du?“

Iris juckte die Schultern. „Ich dachte, der Anruf wäre für mich.“

„Für dich? Wie kommst du denn auf die Idee? Wer sollte dich denn anrufen?“

Iris wiederholte das Schulterzucken. „Vati. Oder Oma. Oder Jasmin.“

„Der Anruf war für mich“, sagte Sonja Winter kühl. Sie ging zur Bar und machte sich einen Drink. Iris sah ihr dabei zu. „Warum beobachtest du mich?“, fragte ihre Mutter scharf.

„Ich beobachte dich nicht.“

„Natürlich tust du das.“ Sonja Winter nahm einen ärgerlichen Schluck von ihrem Drink.

„Darf ich ins Kino gehen?“, fragte Iris leise.

„Allein?“, wollte Sonja wissen.

„Ja“, antwortete Iris.

Sonja trank wieder. Der Gin wärmte ihren Magen und begann in ihrem Körper zu kreisen. Sie fühlte sich wohl. „Von mir aus.

„Danke, Mama.“

„Aber du musst vorher etwas essen“, sagte Sonja.

„Ich habe keinen Hunger.“

„Sonst gehst du mir nicht aus dem Haus“, erpresste Sonja Winter ihre Tochter.

„Ich werde eine Kleinigkeit essen“, nickte Iris und ging in die Küche.

Sonja folgte ihr. „Ich werde dir Gesellschaft leisten. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Sie setzte sich schmunzelnd an den Küchentisch. „Frau Trebitsch hat bestimmt etwas Leckeres für uns vorbereitet.“ Frau Trebitsch war die Haushälterin. Sie hatte heute ihren freien Nachmittag.

„Ich nehme mir ein Butterbrot“, sag Iris.

Sonja Winter sah ihre dünne Tochter an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Kind, warum bist du nur so schrecklich schwierig?“

Iris schnitt sich eine hauchdünne Brotscheibe ab. „Wieso bin ich schwierig, wenn ich ein Butterbrot essen möchte?“

„Frau Trebitsch gibt sich die allergrößte Mühe. Sie ist eine hervorragende Köchin. Ihre warmen Speisen sind ein Gedicht, ihre kalten Platten sind eine wahre Gaumenfreude – und du ignorierst, was sie für uns mit soviel Einfallsreichtum, Fleiß und Können zurecht zaubert und isst so etwas Profanes wie ein Butterbrot. Aber schön, dann isst du eben ein Butterbrot. Man muss bei dir ja schon froh sein, wenn du überhaupt etwas zu dir nimmst. Als ich in deinem Alter war, war nichts Essbares vor mir sicher. Ich hatte stets so einen Heißhunger, dass meine Mutter mich bremsen musste. Kind, hat sie immer gesagt, hör auf, so viel zu futtern, sonst bist du in einigen Jahren so rund wie ein Fass und bekommst keinen Mann.“ Sonja betrachtete ihre Tochter nachdenklich. „Du bist das genaue Gegenteil von mir – in jeder Beziehung. Wir sind uns überhaupt nicht ähnlich.“

Iris bestrich die dünne Brotscheibe mit ganz wenig Butter. „Vielleicht bin ich nicht deine Tochter.“

„Na, hör mal.“ Sonja Winter lachte. „Wenn ich alles so genau wüsste wie das ...“

„Manchmal werden Babys vertauscht.“ Iris setzte sich zu ihrer Mutter und begann lustlos zu essen.

Sonja Winter schüttelte überzeugt den Kopf. „Nicht in der Seeberg-Klinik. Nein, nein, du bist ganz sicher mein Kind – und du bist ein Wunschkind. Was haben dein Vater und ich uns gefreut, als wir sicher sein konnten, dass ich in anderen Umständen war! Einen richtigen Freudentanz haben wir aufgeführt. Damals hatten wir noch kein so großes, schönes Haus, aber wir waren trotzdem glücklich.“ Sonja senkte die Stimme. „Glücklicher als heute.“ Sie leerte ihr Glas mit einem schnellen Ruck.

Als Iris das halbe Brot gegessen hatte, fragte sie: „Darf ich gehen, Mama?“

„Du bist noch nicht fertig.“

„Ich esse den Rest unterwegs“, versprach Iris.

„Also gut.“ Sie standen beide auf. Sonja gab ihrer Tochter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Amüsier dich gut, und bleib nicht zu lange fort, hörst du?“

„Ja, Mama. Bist du zu Hause, wenn ich wiederkomme?“, fragte Iris.

„Das weiß ich noch nicht. Vermutlich ja, aber es könnte sich zufällig etwas ergeben. Du siehst es ja, ob ich da bin oder nicht, wenn du heimkommst.“

Iris verließ das Haus, und sie fütterte mit dem restlichen Butterbrot die Vögel. Das war ein Festtagsmenü für Spatzen und Tauben.

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