Читать книгу Mörder-Paket Juli 2020: 10 Krimis für den Strand: Sammelband 9015 - A. F. Morland - Страница 44
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Wasser klatschte gegen die Windschutzscheiben. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren. So dicht fiel der Regen, dass man die Themse unter der Brücke kaum sehen konnten.
Raphael Mussa steuerte sein Taxi über die London Bridge. Die alte Dame neben ihm auf dem Beifahrersitz seufzte.
„Ein abscheuliches Wetter. Wird höchste Zeit, dass ich die Insel verlasse.‟
„Sie fliegen aufs Festland?‟, erkundigte Raphael sich höflich.
„Nach Ägypten‟, sagte die weißhaarige Lady. Sie trug einen blauen Regenmantel. Der Schmuck an Fingern und Hals, das dezente Make-up und die teuren Ledertaschen hinten im Kofferraum hatten Raphael längst verraten, dass er einen wohlhabenden Fahrgast zur Waterloo Station transportierte. Er hoffte auf ein entsprechendes Trinkgeld.
„Ich fliege fast jedes Jahr nach Ägypten. Mein Mann und ich haben lange dort gelebt. Er war Botschafter der Krone.‟ Sie sprach es aus wie ein Offenbarung.
Raphael zeigte sich nicht beeindruckt. „Und wie hat es Ihnen gefallen dort?‟
„Eine herrliche Zeit ...‟ Sie schwärmte von Land und Leuten. Die vielen Orte, in denen Armut und Schmutz regierte, schien sie nie gesehen zu haben.
„Das freut mich‟, sagte Raphael. „Ägypten ist meine Heimat.‟
„Was Sie nicht sagen ...‟ London Bridge und Themse blieben hinter ihnen zurück. Raphael bog in die Southwark Street ein. „Sie sprechen ein tadelloses Englisch, junger Mann‟, staunte die alte Lady. „Wie lange sind Sie denn schon in London?‟
„Fast acht Jahre. Ich studiere hier Elektrotechnik.‟ Das klang nicht schlecht und war fast die halbe Wahrheit. Raphael hatte sein Studium längst abgeschlossen. Auch hatte er insgesamt zwei der acht Jahre außerhalb Großbritanniens verbracht – eins in Afghanistan, über ein halbes im Iran und etwa vier Monate im Sudan.
Nach seinem letzten Auslandsaufenthalt hatte er keinen Job als Elektrotechniker mehr gefunden. Also fuhr er seit anderthalb Jahren Taxi. Aber Fahrgäste wollten nicht mit den Problemen ihrer Fahrer behelligt werden.
„Und mit dem Taxifahren finanzieren Sie sich Ihr Studium?‟ Raphael bejahte.
„Ja, ja‟, seufzte die alte Lady. „London ist teuer geworden. Und so ein Studium kostet Geld ...‟
„So ist es, Madam.‟ Das kurze Gespräch würde das Trinkgeld kräftig ansteigen lassen, da war sich Raphael sicher. Er setzte den Blinker nach links und bog in die Waterloo Street ein.
Am Taxistand vor der Waterloo Station herrschte das an Vormittagen übliche Gedränge. Unter Regenschirmen hasteten die Leute aus dem Bahnhof zu den wartenden Taxen, und aus den Taxen hasteten sie in das Bahnhofsgebäude.
Raphael hielt an. Er zog die Geldtasche aus dem Hosenbund und warf einen Blick auf die Taxiuhr. „Sieben Pfund und fünfzig Cent, Madame.‟
Mit gönnerhaftem Lächeln reichte sie ihm eine Zehn-Pfund-Note. „Stimmt so, junger Mann.‟
„Danke, Madam.‟ Raphael stieg aus und schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch. Der Regen klatschte ihm ins schmale Gesicht und auf die schwarzen Locken. Er angelte die Taschen aus dem Kofferraum und trug sie der Frau bis zum Eingang des Bahnhofs.
„Einen schönen Urlaub, und grüßen Sie mir die Heimat!‟
Sie bedankte sich überschwänglich und winkte, während er zurück zu seinem Taxi lief.
Auf dem Beifahrersitz saß ein Mann. Schwarzhaarig wie Raphael und ein paar Jahre älter als er. Raphael warf sich hinters Steuer und schlug die Tür zu.
„Ismael?‟ Erstaunt sah er den bärtigen Mann an. Ismael arbeitete in Brighton unten. Sie telefonierten fast jede Woche, sahen sich aber höchstens alle zwei Monate mal.
„Fahr nach Woodford.‟
„Der Tag hat gerade angefangen, Ismael. Ich hab′ erst drei Fahrten gehabt ...‟
„Es gibt Größeres als Geld und Arbeit, kleiner Bruder – fahr nach Woodford.‟
Raphael schimpfte vor sich hin, tat aber, was sein Bruder verlangte. Er tat immer, was sein sechs Jahre älterer Bruder verlangte. Schon als er ihm als kleiner Junge auf den Gassen Kairos wie ein Hündchen gefolgt war, hatte er getan, was Ismael verlangte.
„Wie geht’s, Ismael?‟, erkundigte er sich, nachdem er sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden hatte.
„Gut, gut ...‟ Ismael erzählte – von Frau und Kindern, von gemeinsamen Bekannten aus Brighton, von seiner Firma. Der Fünfunddreißigjährige arbeitete als Informatiker in einer Software-Schmiede.
Danach war Raphael an der Reihe. „Wie geht’s dir?‟, und dann wurde haarklein erzählt. So lief das immer. Raphael wusste, dass Ismael ihm nicht verraten würde, was sie beide in Woodford verloren hatten, bevor nicht dieses Ritual beendet war.
Raphael hatte nicht viel zu berichten. Ein paar Neuigkeiten aus dem islamischen Viertel – Todesfälle, Hochzeiten, und so weiter – ein paar vergebliche Anläufe, eine Stelle zu bekommen, und die üblichen Frauengeschichten. Darüber sprach er wie immer besonders ausführlich und leidenschaftlich.
„Wie lange willst du dich noch mit solchen losen, ungläubigen Weibern abgeben?‟, sagte Ismael streng. „Das ziemt sich nicht für einen Kämpfer Gottes.‟
„Was soll ich tun?‟, jammerte Raphael. „Sie laufen mir einfach so über den Weg, und ich kann nicht widerstehen.‟
„Du musst endlich lernen, zu widerstehen. Diese ungläubigen Schlampen – das bringt nur Unglück! Das hast du doch gesehen damals, als du dich mit dieser jungen Schlampe eingelassen hast! Ich hatte dich gewarnt, und immer noch ...‟
„Kein Wort mehr davon!‟, zischte Raphael. Alles durfte sein Bruder ihm sagen, alles hörte er sich an. Nur über diese eine Frau durfte Ismael nicht sprechen. Diese Eine, die ihm vor sieben Jahren das Herz gebrochen hatte ...
Sie schwiegen eine Zeitlang. Ismael betrachtete seinen jüngeren Bruder von der Seite. Anders als er selbst, trug Raphael keinen Bart. Sein Haar hing ihm in dichten Locken tief in den Nacken hinein, während Ismaels kantiger Schädel von einer fingernagelkurzen, schwarzen Matte überzogen war.
Ansonsten sahen sich die Brüder recht ähnlich – beide hatten dunkle, glühende Augen unter dichten Brauen und große, gerade Nasen. Bei beiden fielen das trotzig vorgeschobene Kinn und der große, schmale Mund auf, und beide waren nicht besonders groß.
„Was tun wir in Woodford?‟, brach Raphael schließlich das Schweigen.
Ismael wandte sich ab und blickte durch die Windschutzscheibe in den Regen. „Ahnst du es nicht?‟
„Der Scheich?‟
Ismael nickte. „Er hat mich gestern Abend in Brighton angerufen. Es ist endlich soweit, kleiner Bruder.‟
Raphael antwortete nichts. Er ahnte, das sein Leben auf einen neuen Wendepunkt zusteuerte.
Wie damals in Kairo, als Ismael ihn nach dem Freitagsgebet beiseite nahm und sagte: „Die Al-Qaida braucht dich in London‟. Über zehn Jahre war es her.
Oder wie vor fünf Jahren, als Ismael aus Kabul anrief und sagte: „Komm nach Afghanistan – die Al-Qaida braucht Kämpfer, die mit allen Waffen vertraut sind. Hier wirst du ausgebildet für den Kampf gegen den Großen Satan!‟
Raphael steuerte das Taxi durch die nordöstlichen Stadtviertel von London bis nach Woodford hinein. Der Scheich wohnte in einem Mietshaus in einem alten Arbeiterviertel. Ein paar Straßenzüge waren hier fast ausschließlich von islamischen Familien bewohnt. Auch eine Moschee gab es in Woodford.
Raphael fand einen Parkplatz und rangierte den Wagen in die Parklücke. Der Regen hatte kaum nachgelassen. Sie stiegen aus, zogen sich die Jacken über den Kopf und liefen zurück zum Mietshaus des Scheichs.
Eine von vier Frauen des Scheichs führte sie in ein geräumiges Wohnzimmer. Kahlid Al Turabi saß in einem großen Plüschsessel. Vor ihm auf einem niedrigen Glastisch dampfte Tee aus einem Glas. Er wies auf die Couch, und die beiden Brüder nahmen Platz.
Der Scheich war vielleicht sieben, acht Jahre älter als Ismael. Ein dichter Vollbart überwucherte die untere Hälfte seines runden Gesichts. Den Rest bedeckte eine große Sonnenbrille. Al Turabi trug einfache Kleider: Ein beigefarbenes, langes Gewand, dunkelbraune, weite Weste und den schwarzen Turban eines schiitischen Koranlehrers.
Raphael wusste, dass er in ständigem Kontakt mit Fazlur Rahman Kalil stand. Beide hatten sie in Afghanistan gegen die Russen gekämpft. Während dieses Krieges hatte der damals noch sehr junge Ismael den Koranlehrer und den Talibankämpfer kennengelernt. Fazlur Rahman Kalil war die rechte Hand des Führers von Al-Qaida und der Chef seiner Leibwache.
„Eure Stunde ist gekommen‟, sagte der Scheich. „So Allah will, wird sich bald die Tür zum Paradies für euch öffnen.‟ Er lehnte sich zurück und schwieg. Als wollte er seinen Worten Zeit geben, den Weg in die Herzen und Köpfe der Brüder zu finden. „Falls ihr bereit seid‟, fügte er schließlich hinzu.
Eine seiner Frauen kam herein und brachte zwei Gläser und frischen Tee.
„Die Ungläubigen ertrinken in der Flut des Schmutzes, den sie Tag für Tag ausspeien‟, ergriff der Scheich erneut das Wort. „Es wäre gottgefällig, würden sie allein an all dem Dreck zugrunde gehen – aber in ihrer maßlosen Verblendung haben sie beschlossen, die ganze Welt mit ihrem Schmutz zu verunreinigen ...‟
Raphael und Ismael schlürften Tee, während der Scheich sich in zornigen Monologen gegen die Ungläubigen im Allgemeinen und den Großen Satan im Besonderen erging. Wesentliche Dinge brauchten viele Worte – so war das eben.
Al Turabi setzte seine Tasse ab und beugte sich nach vorne. Etwas Verbittertes lag auf seinem dicken Gesicht. Aus großen, braunen Augen musterte er das Brüderpaar. Raphael wusste, dass er nun zum Thema kommen würde.
„Nächste Woche wird hier in London ein Theaterstück aufgeführt, das unseren Propheten Mohammed und den Propheten Jesus aufs Abscheulichste verhöhnt. Einer unserer Brüder hat in New York City vergeblich versucht, den Zorn Allahs über die Schlange zu bringen, die solches Gift abgesondert hat. Bevor seine strafende Hand sie und ihre Schauspieler treffen konnte, griff das FBI ein. Verrat.‟
Raphael und Ismael hörten schweigend zu. Beiden war klar, was jetzt kommen würde.
„Gemäß der Sharia habe ich das Todesurteil gegen diese Hure verhängt. Und noch gegen zwei weitere Schmutzspeier! Morgen wird ein Aufschrei der Angst durch die Städte des großen Satans gellen!‟
Eine Fatwa! Ein Schaudern rieselte über Raphaels Nackenhaut. Ein Todesurteil. Scheich Kahlid Al Turabi war nicht nur ein Mudschtahid – ein Religionsgelehrter, der den Koran selbstständig auslegen durfte – er war auch ein Clanführer, ein Scheich. Er hatte das Recht, eine Fatwa auszusprechen! Und jeder gläubige Kämpfer konnte die Gelegenheit beim Schopfe fassen, Allahs Willen zu vollbringen ...
„Ihr wisst, dass Salman Rushdie sich in ein Loch verkrochen hat, seit er zum Tode verurteilt wurde. Keine Zeile Schmutz hat er seitdem mehr produziert ...‟ Wieder folgte ein längerer Monolog. Diesmal eine Abhandlung über Sinn und Zweck der Fatwa.
„Neben der Theaterhure habe ich die Fatwa gegen zwei Schmierfinken verhängt, die Allah und seine Propheten in nutzlosen, schändlichen, ja sündigen Bilderbüchern lästern. Alle drei leben in einer Stadt, in der Kloake des Großen Satans, in New York City.‟
Wieder machte Al Turabi eine Pause. Er griff nach seiner Teetasse und lehnte sich zurück. Die beiden Brüder saßen wie festgewachsen und starrten auf ihre Hände, die sie auf ihre Oberschenkel gelegt hatten. Raphael merkte, wie der Stoff seiner Jeans unter seinen Händen heiß und nass wurde.
So verstrichen ein paar Minuten. Endlich blickte der Scheich sie wieder an. Seine Augen waren starr und wie aus Stein.
„Ich frage dich, Ismael Mussa – bist du bereit, die Strafe Allahs an diesem Abschaum zu vollziehen?!‟
„Ja‟, sagte Ismael mit fester Stimme.
„Und ich frage dich, Raphael Mussa, bist du bereit, die Strafe Allahs an diesem Abschaum zu vollziehen?‟
„Ja‟, sagte Raphael leise ...