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Am späten Nachmittag hatten wir die Identität des toten Mitsubishi-Fahrers. Sein wahrer Name war Desmond E. Cole. Er hatte acht Jahre wegen Totschlags in Huntsville gesessen.

Nach der Entlassung war er untergetaucht, hatte vermutlich als Hit-man - als Lohnkiller - für die Unterwelt gearbeitet. Jedenfalls hatte er in einem Fall Fingerabdrücke und eine Zigarettenkippe hinterlassen. Später war er cleverer gewesen. Seine Spur hatte sich verloren und war auch durch sorgfältige Analyse der Arbeitsweise kaum noch identifizierbar.

Auf die genaue Analyse des wahrscheinlichen Tathergangs durch unsere Innendienstler mussten wir wohl noch etwas warten. Der Fall war kompliziert. Wir hofften aber, dass die Kollegen am nächsten Morgen soweit waren. Dann lag auch sicher ein ballistischer Bericht vor. Und vielleicht war es bis dahin sogar gelungen, einige der Bewaffneten zu identifizieren, die sich im Lieferwagen befunden hatten.

Auch das konnte sich schwieriger gestalten.

Die Explosion hatte dafür gesorgt, dass nicht mehr von allen Toten Fingerabdrücke genommen werden konnten, mit denen AIDS, unser computergestütztes AUTOMATED IDENTIFICATION SYSTEM für Fingerprints etwas anfangen konnte.

Kollegen der City Police hatten Dutzende von Wagennummern notiert, um mögliche Zeugen auch noch später identifizieren und vernehmen zu können. Die Zeugenvernehmungen am Tatort hatten bislang nur ein diffuses Bild ergeben.

In mehreren Aussagen war allerdings von einem Motorradfahrer die Rede, der ziemlich rücksichtslos durch das Chaos hindurchgesteuert sein musste - mit einer jungen Blondine auf dem Rücksitz.

Ein Zeuge - selbst Motorrad-Fan - meinte sich zu erinnern, dass es sich um eine Kawasaki gehandelt hatte. Ob der Kawasaki-Fahrer und seine schöne Beifahrerin irgendetwas mit dem Fall zu tun hatte, war noch nicht ganz klar.

Blieb noch das Handy des Ermordeten.

Cole erwies sich selbst bei dessen Benutzung als Profi. Er hatte keine Telefonkartei im Menue angelegt. Alles, was wir hatten, waren die jeweils letzten zehn angenommenen und selbst gewählten Gespräche, deren Zeitpunkt, Dauer und Kosten.

Bei selbst gewählten Gesprächen hatte Cole es wiederum mit einem Trick geschafft, die Spuren zu verwischen. Sämtliche Verbindungen waren über den Handvermittlungs-Service seines Mobiltelefonunternehmens gegangen, so dass immer nur dessen Nummer im Menue auftauchte und nicht die des Gesprächspartners. Bis wir die vollständige Liste der Verbindungen von der Telefongesellschaft hatten, konnten ein oder zwei Tage vergehen. Blieben die angenommenen Gespräche.

Die meisten waren von Telefonzellen oder aus Lokalen geführt worden.

Mit zwei Ausnahmen.

Es hatte zwei kurze Anrufe eines gewissen Mark Sorello gegeben. Der erste am gestrigen Abend, gegen 20.00 Uhr, der zweite ungefähr eine Stunde bevor an der Ecke Bedford Street/Seventh Avenue die Hölle losbrach.

Milo pfiff durch Zähne, als Mark Sorellos Bild auf dem Computerschirm erschien, den wir in unserem Dienstzimmer stehen hatten.

"Ein alter Bekannter", meinte er.

"Kann man wohl sagen, Milo..."

Wir überflogen die Angaben, die neben dem Foto fein säuberlich aufgelistet waren. Mark Jefferson Sorello, geboren am 24.2.1980, in der Computer-Hacker-Szene bekannt unter dem Pseudonym 'BigByte'. Seine Leidenschaft für den Rechner hatte ihm schon so manche Schwierigkeiten eingebrockt, inklusive einer Bewährungsstrafe. Mit 19 war er dadurch aufgefallen, dass er es geschafft hatte, sich in die Datenverbundsysteme des FBI einzuhacken. Wir konnten von Glück sagen, es damals offensichtlich nur mit einem Spaßvogel zu tun gehabt zu haben. Mark 'BigByte' Sorello hatte sämtliche Gesichter der auf unseren Internetseiten zur Fahndung ausgeschriebenen Kriminellen durch die Köpfe von Micky Maus und Donald Duck ersetzt.

Es hatte Ende der Neunziger eine ganze Reihe solcher "Spaß"-Attacken auf die Rechner von FBI, CIA und Pentagon gegeben. Inzwischen arbeitete so mancher dieser Cyber-Punks für die Regierung und half die Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern.

'BigByte' Sorello gehörte nicht dazu.

Wir hatten lange nichts von ihm gehört.

Seine Bewährung war vor einem Jahr abgelaufen, so das er sich auch nicht mehr regelmäßig bei den Behörden zu melden hatte.

Milo machte ein etwas ratloses Gesicht.

"Jemand wie 'BigByte' ist eigentlich nicht unbedingt der typische Auftraggeber für einen Profikiller vom Schlage eines Desmond E. Cole", meinte er.

Ich konnte ihm da nur zustimmen.

"Tatsache ist, dass die beiden relativ kurz vor Coles Tod miteinander telefoniert haben", wandte ich ein. Und damit war 'Big Byte' zumindest ein wichtiger Zeuge.

Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis wir per Computer-Recherche 'BigBytes' neue Adresse heraus hatten.

Offenbar war der junge Meister-Hacker in letzter Zeit des öfteren umgezogen. Selbst eine Anfrage bei seiner Telefongesellschaft führte uns zunächst in die Irre.

Wir stärkten uns noch mit einem faden Automatenkaffee.

Mandy, die Sekretärin unseres Chefs und nebenbei berühmteste Kaffee-Kocherin im ganzen Bundesgebäude, feierte an diesem Tag nämlich ein paar ihrer unzähligen Überstunden ab. So mussten wir uns mit der Automatenbrühe zufrieden geben.

"Ich hoffe, da ist wenigstens ein bisschen Koffein drin", meinte Milo und verzog dabei das Gesicht.

Ich grinste.

"Da bekommst du bestimmt nicht mehr Koffein mit, als wenn du einmal an einer Coke-Flasche riechst!"

"Sehr witzig, Jesse!"

Zehn Minuten später quälten wir uns mit dem Sportwagen, den uns die Fahrbereitschaft des FBI Field Office New York zur Verfügung stellte, durch den Berufsverkehr des Big Apple.

Unseren Recherchen nach hatte sich Mark 'BigByte' Sorellos Wohnsituation von Umzug zu Umzug stark verbessert. Als er unsere Internet-Seite auf den Kopf stellte, hatte er noch in einer miesen Gegend in Queens gewohnt, jetzt residierte er in einem luxuriösen Penthouse Ecke 72.Straße/Central Park West. Selbst für New Yorker Verhältnisse waren die Sicherheitsvorkehrungen hier extrem. Security Guards patrouillierten mit grimmigen Gesichtern in den Korridoren. Videokameras bannten jeden Besucher auf Magnetband.

Ein Metalldetektor am Portal verhinderte, dass irgendjemand, der dazu nicht autorisiert war, bewaffnet in das Gebäude gelangen konnte. Security Guards beobachteten Neuankömmlinge aus einem transparenten Kubus heraus, der aus ultrahartem Panzerglas bestand. Im Inneren dieses Glaswürfels befand sich ein Büro. Ein Monitor stand neben dem anderen.

Von hier aus wurden die Video-Bilder kontrolliert. Besucher mussten sich anmelden und ausweisen.

Der Metalldetektor machte sich bemerkbar, als wir eintraten.

Die aufgeregten Gesichter der Security Guards entspannten sich etwas, als wir ihnen unsere Ausweise entgegen hielten.

Einer der Guards trat durch eine Panzerglastür aus dem Kubus heraus und näherte sich uns.

An seinem schwarzen Uniformhemd war ein Namensschild angebracht. 'R. Temperton' stand darauf.

Temperton sah sich die ID-Cards genau an und nickte dann.

"Scheint alles in Ordnung zu sein. Zu wem möchten Sie?"

Ich hob die Augenbrauen. "Zu Mister Mark Sorello, Nr. 2789 F."

"Dann werde ich Mister Sorello ankündigen, dass Sie gleich vor der Tür seines Penthouse auftauchen werden..."

"Meinetwegen..."

Temperton ging zurück und verschwand in dem Panzerglas-Kubus.

"Das ist doch eine Adresse für Paranoide, Jesse", raunte Milo mir zu.

"Jedenfalls scheint 'BigByte' inzwischen vermögend genug zu sei, um sich so etwas leisten zu können."

"Schätze, unsere Kollegen aus dem Innendienst sollten sich mal die Bankverbindungen dieses Knaben vornehmen. Irgendwoher muss sein plötzlicher Reichtum ja stammen..."

"Ehrliche Arbeit schließt du in dem Fall von vorn herein aus?"

Milo zuckte die Achseln.

"Keine Ahnung..."

"Jedenfalls bist du hier so sicher wie in Abrahams Schoß."

"Für mich wäre das nichts!"

"Das sagst du nur, weil du dir die Miete hier von unseren Dienstbezügen als G-men gar nicht leisten könntest!"

Mit dem Aufzug fuhren wir hinauf. Einige Minuten später standen wir vor Sorellos Wohnungstür.

Milo wollte gerade die Klingel betätigen, da öffnete sich die Tür.

Ein schmächtiger junger Mann stand vor uns. Er hatte uns offenbar erwartet. Er trug eine übergroße Jeanshose und ein T-Shirt, das die Aufschrift I'M AN ASSHOLE trug.

Ich hielt meine ID-Card hin.

"Special Agent Jesse Trevellian, FBI. Dies ist mein Kollege Milo Tucker. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen..."

Sorello kaute auf einem Kaugummi herum. Er hatte rotstichiges, ungepflegtes Haar, das ihm in den Augen hing.

Mit einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes fegte er es davon.

"Hey, G-men, bleibt cool!"

"Keine Sorge", sagte ich.

"Habt ihr Typen 'nen Durchsuchungsbefehl oder sowas?"

"Nein, haben wir nicht."

"Dann würde ich sagen, ihr macht wieder die Fliege. Ich lass' mich nicht von euch verscheißern. Und ohne meinen Anwalt sage ich keinen Ton."

"In dem Fall möchte ich Sie bitten, uns zur Federal Plaza zu begleiten", sagte ich. "Und was den Durchsuchungsbefehl angeht - den bekommen wir im Handumdrehen..."

Er vergrub die Hände in den Taschen. "Hey, G-man, warum so ungemütlich?"

"Ich schlage vor, wir unterhalten uns vernünftig. Ob Sie allerdings wollen, dass die Security Guards auf ihren Bildschirmen alles mitbekommen, liegt ganz bei Ihnen..."

Ich deutete auf eine der ganz offen platzierten Kamera-Augen.

Sorello zögerte.

"Kommt 'rein", forderte er uns dann auf.

Er führte uns in eine mindestens zweihundert Quadratmeter große Wohnung, die - abgesehen von Küche und Bad - nur aus einem einzigen Raum bestand. Wohnzimmer, Schlafzimmer und Computerzentrale in einem. In einer Ecke befand sich ein Futon. Auf einem niedrigen Tisch stapelten sich Reste einer Express-Pizza-Mahlzeit.

Mehrere Computer-Schirme flimmerten. Teile des Equipments lagen überall verstreut herum.

Ich trat an die Fensterfront heran, blickte zuerst auf die Strawberry Fields des Central Parks hinab, dann zu den Betonfassaden der anderen Skyscraper in unmittelbarer Nachbarschaft.

"Was kostet die Miete hier?", fragte ich.

"Das geht dich nichts an, G-man." Dann lachte er auf. "Ich verdiene gutes Geld. Als freier Unternehmer. Software Consulting und so etwas. Jedenfalls habe ich seit damals die Finger von euren Internet-Seiten gelassen!"

"Inzwischen gibt es Programme, die eine von unautorisierter Seite veränderte Internet-Seite innerhalb von zehn Minuten automatisch wieder herstellt", erwiderte Milo.

Sorello verschränkte die Arme.

"Inzwischen gibt es aber auch Tricks, wie man diese Software ausschalten kann", gab der Hacker zurück.

"Ich sehe, Sie kennen sich immer noch aus."

"Man bleibt auf dem Laufenden. Aber so ein dummes Zeug wie damals werde ich sicher nie wieder machen."

"Freut mich zu hören", meinte Milo.

Er zuckte die Schultern. "Ich würde so etwas nur dann noch einmal machen, wenn es sich wirklich lohnt. Der Fun, den wir dabei hatten, war den ganzen Ärger nicht wert!" Er grinste.

"Aber wie ihr seht, kann ich mein Wissen inzwischen produktiver einsetzen und richtig gut Geld damit verdienen."

Ich griff in die Innentasche meiner Jacke und hielt ihm ein Bild von Desmond Cole hin.

"Kennen Sie diesen Mann?"

"Nie gesehen."

"Vielleicht sehen Sie mal richtig hin!"

Sorello nahm sich zwei volle Sekunden Zeit, schüttelte dann aber energisch den Kopf. Schließlich reichte er mir das Bild zurück. "Tut mir leid, G-man! Was ist mit dem Kerl?"

"Er heißt Desmond E. Cole, ist aber auch unter ein paar anderen Namen bekannt", erwiderte ich. "Cole wurde heute bei einer Schießerei Ecke Bedford Street/Seventh Avenue umgebracht."

Sorello hob die Augenbrauen.

"Ich verstehe nur nicht, was das ganze mit mir zu tun haben soll! Hey, Mann, bleib cool, G-man! Ihr werdet doch nicht im Ernst auf den Gedanken gekommen sein, dass ich vielleicht mit einem Schießeisen herumgeballert habe!"

Sorello lachte heiser auf. "Ich würde mich mit einer Waffe eher selbst verletzen als meinen Gegner."

"Sie haben mit Cole telefoniert", stellte ich sachlich fest. "Etwa eine Stunde bevor er erschossen wurde. Vielleicht waren sie der letzte Mensch, mit dem er gesprochen hat. Am Abend zuvor haben Sie gegen zwanzig Uhr mit ihm gesprochen. Das sind Tatsachen, die Sie mit diesem Mann in Verbindung bringen."

Sorello sah mich überrascht an.

Einen Augenblick lang fiel die coole Maske von ihm ab, die er sich zugelegt hatte.

Seine schmächtige Gestalt stand da wie ein Fragezeichen.

"Hey, G-man, du redest Quatsch!"

"Ich rede keinen Quatsch", sagte ich. "Und ich möchte jetzt wissen, was Sie mit Mister Cole zu besprechen hatten!"

"Ihr blufft!", fauchte Sorello dann.

"Wir haben Ihre Nummer aus dem Menue von Coles Handy", erläuterte ich kühl. "Und dazu werden Sie schon irgendeine Erklärung abgeben müssen."

Sorello fuhr sich mit der Hand durch das ungepflegte Haar, strich es sich mit einer fahrigen Geste zurück. "Ich muss gar nichts!", meinte er. "Am besten ich rufe meinen Anwalt."

Er ging zum Telefon, nahm den Hörer ab.

"Das können Sie natürlich tun", sagte ich. "Aber vorher sollten Sie jedoch noch eines wissen. Desmond Cole war ein Profi-Killer. Und die Tatsache, dass Sie mit ihm telefonischen Kontakt hatten, kurz bevor er in eine Schießerei verwickelt war, kann Sie in alles Mögliche hineinziehen, Mister Sorello."

'BigByte' legte den Hörer wieder auf.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Dann ließ er sich in einen der rollbaren Drehsessel fallen.

Nervös tickte er mit den Fingern auf der Armlehne herum.

"Vielleicht kannten Sie Cole unter dem Namen Peter Duncan", versuchte ich ihm eine Brücke zu bauen. Jedenfalls war unter dem Namen Peter Duncan sein Mobilfunkanschluss angemeldet.

Sorello atmete tief durch.

"Agent Trevellian, ich..."

Weiter kam er nicht.

In dieser Sekunde barst eine der Fensterscheiben.

Ein Ruck ging durch BigBytes Körper. Für Sekundenbruchteile sah ich den hauchdünnen roten Laserstrahl eines Laserpointers aufzucken.

Doch es war bereits zu spät.

Sorello rollte die Wucht des ersten Treffers ein paar Meter auf seinem Drehstuhl zurück.

Der erste Treffer durchschlug Sorellos Brustbein, ein zweiter erwischte ihn in der Herzgegend.

Ich duckte mich, riss die SIG aus dem Holster.

Der Schütze musste in einem der benachbarten Skyscraper in Stellung gegangen sein. Der nächste Schuss folgte. Einen der Computerschirme erwischte es. Milo kauerte hinter dem Schreibtisch. Per Handy verständigte er bereits die Kollegen.

Die Großmeister des Mordes: Alfred Bekker präsentiert 12 Strand Krimis

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