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Julia Kripow stand vor dem großen Schaufenster des Modegeschäfts und betrachtete die Kleidungsstücke, die dort ausgestellt waren. Vor allem das rote Top gefiel ihr. Doch als sie einen Blick auf das Preisschild warf, musste sie erst einmal heftig schlucken. Das grenzte ja schon Wucher. Trotzdem sah es hübsch aus. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich vom Schaufenster ab. Dabei streifte ihr Blick das braunhaarige Mädchen, das gerade die Straße überquerte. Und sie sah auch den dunkelblauen Wagen, der mit hoher Geschwindigkeit auf sie zuraste.

Julia stieß einen Warnschrei aus. Doch dadurch konnte sie das Unglück auch nicht mehr verhindern. Wie ein Habicht auf seine Beute stieß der Wagen auf das Mädchen zu. In das Heulen der Hupe mischte sich das Kreischen der Reifen. Die Arme ausgebreitet, den Mund geöffnet, kippte sie auf die Motorhaube und hing dort einen Augenblick, während der Wagen zum Stillstand kam. Das Mädchen glitt nach rechts, fing sich am Seitenspiegel und stürzte auf die Straße.

Julia stand wie erstarrt. Sie hatte das Gefühl, als würde ein Film vor ihren Augen abrollen und nicht die Realität. Mehr noch, er rollte im Zeitlupentempo ab und ersparte ihr keines der grausigen Details. Die Wagentür wurde aufgerissen. Ein junger Mann stieg aus.

„O verdammt ... verdammt ...“, stammelte er. „Sie ist mir einfach ... ich – ich habe sie nicht gesehen ... Mir ist die Zigarette runtergefallen und da ...“

Julia beachtete ihn gar nicht. Sie lief zu der Verunglückten und beugte sich über sie. „Bist du verletzt?“

„Ich – ich weiß nicht ...“

„Kannst du aufstehen?“

Die Antwort bestand nur aus einem leichten Nicken.

„Gut“, sagte Julia. „Ich helfe dir.“

Sie legte sich den Arm des Mädchens um die Schulter und richtete sich mit ihr auf. „Geht es?“, fragte sie besorgt. „Wenn nicht ...“

Das Mädchen humpelte mit Julia auf den Gehsteig.

„Ich hab‘ dich nicht gesehen“, sagte der Autofahrer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Tut mir leid. Tut mir echt leid. Wirklich.“

Das Mädchen wischte sich mit einer unbeholfenen Geste über die Augen. „Mir – mir ist so komisch. Es verschwimmt alles ...“

„Mein Vater leitet eine Klinik“, erklärte Julia. Ihr Blick richtete sich auf den Autofahrer. „Wir bringen dich dorthin.“

„Das geht nicht“, widersprach das Mädchen. „Ich kann mir keinen Klinikaufenthalt leisten. Und dein Vater behandelt vermutlich nur Privatpatienten.“

„Mach dir darüber keine Gedanken. Das geht schon in Ordnung.“

Der Autofahrer näherte sich mit zögernden Schritten. Er war Mitte zwanzig, hatte dunkle, lockige Haare und ein längliches Gesicht mit einer geraden Nase und schmalen Augen. Seine Kleidung bestand aus einer braunen Windjacke, einem dunkelblauen Pullover und einer Bluejeans. Die Füße steckten in schwarzen Halbschuhen.

„Ich – ich bin versichert“, presste er heiser zwischen den schmalen Lippen hervor. „Meine Versicherung wird für alles aufkommen. Ich werde mich selber anzeigen.“

„Das kannst du später noch machen“, erwiderte Julia. „Zuerst bringst du uns mal zur Falkenberg-Klinik.“

„Ich – ich kann nicht“, sagte der Mann und hob seine zitternden Finger.

„Dann werde ich fahren.“

„Das wäre wohl besser. Ich bin mit den Nerven vollkommen am Ende.“

„Wie heißt du?“

„Weidner, Michael Weidner.“

„Gut, ich bin Julia Kripow.“

Sie bat den jungen Mann, ihr bei der Verletzten zu helfen. So behutsam wie möglich setzten sie das Mädchen auf den Beifahrersitz und schnallten sie an. Dann stiegen sie ein. Michael nahm auf der Rückbank Platz. Julia setzte sich ans Steuer. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag besaß sie einen Führerschein. Es mangelte ihr auch nicht an Fahrpraxis, denn sie und ihr Zwillingsbruder Oliver hatten einen gebrauchten Kleinwagen bekommen, und solange der Treibstoff nicht allzu teuer wurde, konnten sie es sich leisten, damit zu fahren. Julia legte den Sicherheitsgurt an, startete den Motor und fuhr los.

„Das hat vorhin verdammt schlimm ausgesehen“, sagte sie nach einer Weile.

„Ja, allerdings“, stimmte Michael ihr zu. „Mir blieb fast das Herz stehen, als ich sie durch die Luft fliegen sah. Wie heißt du überhaupt?“

„Caroline Kleffner“, antwortete das Mädchen mit vibrierender Stimme.

Hoffentlich hat sie keine inneren Verletzungen erlitten, dachte Julia, während sie den Wagen durch den immer dichter werdenden Verkehr stadtauswärts lenkte.

„Ich kann mich an den Unfall nicht erinnern“, sagte Caroline unsicher.

„Vermutlich hast du einen Schock erlitten“, meinte Julia.

„Mir tut der Kopf weh.“

„Ist dir auch schlecht?“

„Ein bisschen“, entgegnete Caroline.

„Könnte eine Gehirnerschütterung sein.“

„Oh verdammt!“, stöhnte Michael verzweifelt. „Und ich bin schuld daran. Ich rauche nie wieder im Auto. Nie wieder.“

„Ist es noch weit?“, wollte Caroline wissen.

„Wir sind gleich da“, versicherte Julia.

Wenige Minuten später passierte der Wagen das Ortsschild von Ewersbrunn, einem kleinen Dorf außerhalb von Hannover. Etwa dreihundert Menschen lebten hier, hauptsächlich Ältere mit einem dicken Bankkonto. In der Ferne tauchte die Falkenberg-Klinik auf. Es war ein hohes, weißes Gebäude aus Beton und Glas, das wie ein surrealistisches Kunstwerk aus den grünen Wiesen emporragte. Die einseitig verspiegelten Scheiben schienen das Sonnenlicht wie eine ganze Batterie überdimensionaler, quadratischer Scheinwerfer zu reflektieren.

Julia parkte den Wagen direkt vor dem Eingang der Notaufnahme. Dort übernahm Doktor Volkmer Sander die Patientin. Eine große Doppeltür schloss sich. Julia und Michael setzten sich auf die Plastikstühle im Wartebereich.

„Wie schnell so etwas passieren kann“, stöhnte er. „Stell dir vor, Caroline wäre ... sie wäre gestorben. Ich weiß nicht, was ich dann getan hätte.“

Julia musterte sein Gesicht. Er sah gut aus, hatte markante Züge und hübsche kleine Ohrläppchen. „Hattest du schon mal einen Unfall?“, fragte sie ihn.

Er schüttelte heftig den Kopf. „Noch nie. Ich dachte immer, so etwas könnte mir nicht passieren. Eigentlich bin ich ein guter Autofahrer.“ Er senkte seine Stimme. „Und dann fahre ich beinahe ein Mädchen tot.“

Assistenzarzt Doktor Roland Böwing erschien in der Notaufnahme. Er war überrascht, die älteste Tochter des Klinikchefs zu sehen. Julia erklärte ihm, weshalb sie hier war. Er nickte und verschwand ebenfalls hinter der Doppeltür.

Julia wandte sich wieder Michael zu. „Was machst du überhaupt beruflich?“

„Gar nichts. Ich bin zurzeit arbeitslos.“

„Und was hast du gelernt?“

„Einzelhandelskaufmann. Und was machst du?“

„Ich gehe noch zur Schule.“

„Und danach?“, fragte Michael. „Willst du Ärztin werden?“

„Mal sehen.“ Julia zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es noch nicht.“

Michael nagte an seiner Unterlippe. „Hoffentlich bekommt Caroline von meiner Versicherung ein angemessenes Schmerzensgeld. Und die Jeans muss man ihr auch ersetzen. Sie ist zerrissen. Hast du‘s gesehen?“

Julia nickte. „Hab‘ ich.“

„Ich werde die ganze Schuld auf mich nehmen. Caroline kann nichts dafür, dass ich sie angefahren habe. Sie wollte nur über die Straße, und ausgerechnet in dem Augenblick fiel mir die Zigarette ...“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Ach verdammt, ich sollte wirklich mit dem Rauchen aufhören.“

„Kann ich dich für einen Moment allein lassen?“, fragte Julia.

Michael blickte sie unsicher an. „Wo willst du hin?“

„Zu meinem Vater.“

Er nickte. „In Ordnung. Ich bleibe hier“, sagte Michael. „Ich werde diese Klinik erst verlassen, wenn ich weiß, wie es Caroline geht.“

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