Читать книгу Waldlichter - A. V. Frank - Страница 10

Kapitel 2

Оглавление

Lysana wachte mit starken Kopfschmerzen auf. In ihrem Kopf drehte sich alles und auch ihr Zimmer schien ein einziger verwischter Fleck zu sein. Verschlafen richtete sie sich auf, zog ihre Brille an und sog erschrocken die Luft ein, als sie plötzlich das Gefühl bekam, ihr Kopf stehe in Flammen.

„Was ist mit mir los?“, fragte sie sich verwundert und betastete ihren Kopf. Er fühlte sich an wie immer. Sie runzelte die Stirn. Keine Flammen und auch keine Messer, die in ihm steckten. „Wieso tut er dann so weh?“

Eine Erinnerung stieg in ihr auf. Laute Musik. Viele feiernde Leute.

„Oh“, dachte sie erschrocken. Sie wurde endlich klar im Kopf. „Ist meine Party so aus dem Ruder gelaufen? Sie sollte doch nur ganz klein und harmlos werden.“

Lysana erinnerte sich jetzt wieder komplett und wünschte sich etwas von dem Nebel, den sie vorhin im Kopf gehabt hatte, zurück. Sie hatte eine riesige Party geschmissen mit Alkohol, lauter Musik und vielen süßen Jungs. Sie wusste noch, dass sie mit einem Wildfremden geknutscht hatte, während ihr Freund ihre beste Freundin begrapscht hatte. Doch es hatte ihr nichts ausgemacht. Sie hatte viel gelacht und Spaß gehabt, war der Star gewesen. Flüchtig erinnerte sie sich an eine Szene, in der sie im Bikini auf einem der Tische getanzt hatte.

Schade nur, dass ihre Eltern früher zurückgekommen waren, die Musik ausgestellt und alle nach Hause geschickt hatten. Sie hatten geschrien und den Leuten Whiskeyflaschen hinterhergeworfen, wenn diese nicht schnell genug verschwanden.

Ein unrühmliches Ende für eine tolle Party. Sie wusste, dass sie, solange sie noch nicht volljährig war, niemals so etwas hätte veranstalten dürfen. Aber sie war doch schließlich kein Baby mehr! Und seit wann scherte sie sich um das, was ihre Eltern sagten? Sie verdankte ihnen zwar eine Menge, zum Beispiel dass sie die Schulkönigin war, dass sie viel Kohle hatte, die sie für unnötige Sachen aus dem Fenster werfen konnte, und ein luxuriöses Leben, aber das war doch kein Grund, ihnen zu gehorchen. Sie war schließlich keine Dienerin. Es reichte schon, dass sie den doofen Lehrern zuhören und folgen musste. Da brauchte sie so etwas nicht auch noch zu Hause.

Stöhnend rappelte sich Lysana, die es nicht ausstehen konnte, mit ihrem vollen Namen angesprochen zu werden, und daher Ana bevorzugte, auf, ging zu ihrem Waschbecken, fingerte sich die Kontaktlinsen in die Augen und betrachtete sich in ihrem Spiegel. Dort sah sie ein Mädchen mit blonden Haaren, die einen rötlichen Stich hatten und sich anmutig fast bis zur Hüfte lockten, dunkelgrünen Augen und sehr heller Haut. Sie grinste spöttisch. Selbst ohne das Geld ihrer Eltern wäre sie, allein durch ihr Aussehen, die Nummer eins in der Schule geworden, da war sie sich sicher.

Sie ging zu ihrem überdimensionalen Schrank, suchte etwas darin herum und zog schließlich eine Röhrenjeans und ein tief ausgeschnittenes hellblaues Sweatshirt an. Sie schminkte sich, bürstete sich die Locken, bis diese richtig fielen, und ging in den Salon.

Sie wohnte in einer Stadtvilla mitten in Dublin und liebte es dort. Im Salon gab es ein paar schicke Sessel mit passenden Beistelltischen. Alles war in Hellblau und Weiß gehalten. Zum Glück war niemand zu sehen, denn ihre trübsinnigen Gedanken hatte sie erfolgreich verdrängt und ihre Laune war trotz des Katers blendend. Sie ging weiter in die Küche, dort holte sie sich ein Schmerzmittel für ihren verkaterten Kopf und machte sich Frühstück.

Seit einer Woche hatte sie nun bereits Ferien und verbrachte die Tage mit schlafen und chatten, die Nächte mit diversen Jungs und auf Partys. So gefiel ihr das Leben. Auch wenn die letzte Nacht, also, ihre Party wirklich eher entspannt sein sollte, war es doch erheblich witziger geworden, nachdem die Jungs aus der Nachbarschaft uneingeladen dazugekommen waren. Sie hatten Whiskey mitgebracht, und da ihnen der eigene Vorrat gerade ausgegangen war, durften sie bleiben.

Nachdem Ana das Schmerzmittel eingenommen hatte, kehrte sie mit einem vollen Frühstückstablett auf ihr Zimmer im dritten Stock zurück. Besonders viel Hunger hatte sie eigentlich nicht, schließlich musste sie auf ihre Figur achten, aber trotzdem hatte sie sich eine Tasse Kaffee, ein Glas Orangensaft, zwei Croissants und andere Leckereien (wie zum Beispiel Kaviar und Olivenbaguettes) mitgenommen.

Sie aß und trank nur etwa die Hälfte von allem und legte sich dann wieder auf ihr Bett. Sie war gerade am Einschlafen, als ihr Telefon klingelte, und fürchtete schon, es seien ihre Eltern, die meinten, sie solle zu ihnen kommen, aber es war bloß ihr Freund Mike. Der, der gestern Abend an Chloé herumgefummelt hatte.

„Hey Mike, hast du deinen Kater schon ausgeschlafen?“, fragte sie verwirrt. Denn er hatte gestern definitiv mehr intus gehabt als sie und sie hatte den ihren noch überhaupt nicht ausgeschlafen.

„Nein, wie könnte ich? Dafür müsste ich wohl noch eine Woche schlafen“, bestätigte er ihren Verdacht mit verschlafener Stimme. „Aber ich wollte dir sagen, dass ich jetzt mit Cloé gehe. Sorry, aber die hat echt mehr drauf als du. Und ich schlafe jetzt weiter, bevor mein Kopf explodiert. Bye!“

Diese Worte schockten Ana dann doch etwas. Aufgrund einer Party, die sie veranstaltet hatte, machte er mit ihr Schluss? Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr Vorteile erkannte sie. Sie stand ohnehin schon lange nicht mehr auf ihn. „Jetzt kann ich wenigstens den Süßen von gestern Abend anrufen ... Nun ja, mach ich lieber später“, dachte sie, als ihr Kopf wieder anfing zu schmerzen. Sie warf das Telefon von sich, drehte sich um und schlief wieder ein.

Ihr Traum war allerdings etwas seltsam, vor allem da sie sonst nie träumte oder sich zumindest nie daran erinnerte. Sie war in einem Wald. Das allein war schon seltsam. Sie war bisher noch nie in einem Wald gewesen, der so verwildert und dreckig war. Sie war ein paar Mal im Phoenix Park gewesen, aber das war kein Vergleich zu diesem Wald gewesen. Sie bevorzugte Strand und Meer.

Vorsichtig schaute sie sich um. Sie sah bloß Bäume, Flechten und Farne, sie hörte nur das Surren von Insekten und ein paar einzelne Vogelrufe in der Ferne. Doch es war nicht das übliche Gezwitscher, das sie vernahm, es waren helle Stimmen, die riefen: „Sie kommen, sie kommen!“

Sie hörte auch einen Vogel schreien: „Wenn sie nicht siegen, dann sterben wir alle!“

Auch das war definitiv seltsam. Ein Vogel, der prophezeite, alle würden sterben? Ihrem Hirn musste es mies gehen, damit es sich so etwas ausdachte.

Sie wollte zu dem Vogel laufen, wollte wissen, wer mit sie gemeint war, aber sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Dann hörte sie Wasserrauschen, das rasch anschwoll. Sie wirbelte herum und sah, dass eine riesige Welle auf sie zuschoss. Mitten im Wald.

Musste sie sich noch denken, dass das seltsam war? Nein! Also wirklich, eine Welle mitten im Wald. In dem Moment schwor sie sich, sich in näherer Zukunft vom Whiskey fernzuhalten. Aber nicht nur der Traum war seltsam, auch die Form des Traums kannte sie nicht. Es schien, als würde sie sich selbst zusehen und dabei noch einigermaßen rational denken. Äußerst verwirrend.

Sie schrie auf, versuchte verzweifelt wegzurennen. Natürlich konnte sie es nicht und so drehte sie sich wieder zu der Welle um. Sie war nun direkt vor ihr, die Bäume waren nicht mehr zu sehen. Es war alles nur noch blau. Dann schlug sie über ihr zusammen. Doch sie wachte nicht auf oder starb im Traum oder so etwas.

Nein, sie fühlte sich wohl im Wasser und hörte eine Stimme murmeln, zu leise, als dass Ana sie hätte verstehen können. Sie strengte sich mehr an und schnappte ein Wort auf. „Nykra.“ Mehr nicht.

Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, aber es blieb ihr auch gar nicht die Zeit, richtig nachzudenken, denn das Wasser verschwand. Es sickerte in den Waldboden ein. Sie erhaschte noch einen Blick auf den Wald, der diesmal voller Leben zu sein schien, dann wachte sie auf.

Sie lag zitternd in ihrem großen Bett. Es war bisher erst einmal passiert, dass sie sich an einen Traum erinnern konnte, und das war schon lange her. Vor vier Jahren, im zarten Alter von 13 Jahren, hatte sie einmal geträumt.

In diesem Traum war sie von einem Wolfsrudel angegriffen worden, alles große Tiere mit grauem oder weißem Pelz und weißen Augen. Sie schnappten nach ihr und knurrten, versuchten näher zu kommen, aber irgendetwas schien sie daran zu hindern. Doch dann war da ein riesiger Wolf erschienen, größer noch als die anderen, und auf sie zugekommen. Die anderen hatten ihm Platz gemacht und waren vor ihm zurückgewichen, als ob er eine ansteckende Krankheit gehabt hätte. Auch sie hatte versucht, Abstand zwischen die Bestie und sich zu bringen, doch hinter ihr hatten die Wölfe wieder geknurrt und nach ihr geschnappt. Dann war ihr aufgefallen, dass der Riesenwolf schwarz war. Ein einziges schwarzes Tier. Sie wusste, dass das etwas zu bedeuten hatte, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Er überschritt die unsichtbare Grenze, die sie zuvor vor den anderen geschützt hatte, mühelos und blieb genau vor ihr stehen.

Sie schaute ihm ängstlich in die Augen, die ebenfalls schwarz waren, und hörte auf zu zittern. In diesen Augen lagen Anteilnahme und Verständnis. Unwillkürlich streckte sie die Hand aus und berührte den Wolf am Kopf. Sie hatte keine Angst mehr. Er hatte ganz zartes Fell, schnaubte, schmiegte den Kopf kurz in ihre Hand und verschwand dann mit dem Rest des Rudels wieder im Wald. Als sie damals erwacht war, hatte ihr Vater an ihrem Bett gestanden und ihr gesagt, dass ihre Mutter im Krankenhaus läge. Sie habe mitten in der Nacht einen Schlaganfall oder Ähnliches gehabt. Ängstlich war sie in ihrem Bett geblieben und hatte gehofft, ihre Mutter würde heil und munter wiederkommen.

Ihre Hoffnung hatte sich erfüllt. Doch sie verband jenen Anfall ihrer Mutter stets mit ihrem Traum. Sie wusste bis jetzt nicht, was es mit dem eigenartigen Wolf auf sich gehabt hatte, hatte das Ereignis einfach verdrängt. Aber nun hatte sie wieder geträumt. Was war wohl diesmal passiert?

Auf wackeligen Beinen erhob sie sich, ging zu ihrem Tisch und aß den Rest ihres Frühstücks. Danach fühlte sie sich so wach, dass sie ihren Eltern unter die Augen treten konnte, auch wenn das mit einem Selbstmordkommando zu vergleichen war. Doch sie musste das einfach tun, sie musste wissen, ob alles in Ordnung war.

Also nahm sie das Tablett, brachte es in die Küche und machte sich auf den Weg zum Schlafzimmer ihrer Eltern.

Ihre Mutter Christine war dunkelhäutig, hatte schwarzes Haar und schwarze Augen. Sie war ziemlich klein. Ihr Vater Martin hingegen war blond, hatte blaue Augen und war ziemlich groß. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie sie eigentlich grünäugig, rötlich blond und von mittlerer Statur sein konnte. Wieso ihre Haut nicht dunkler war, ähnlich der von Christine. Aber letztendlich war es auch egal.

Sie klopfte an und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Als sich die Tür langsam öffnete, war sie schon kurz vorm Hyperventilieren.

Verschlafen schaute ihre Mutter sie an. „Was gibt es, dass du uns nicht mal ausschlafen lässt, nachdem du gestern diese Lärmbelästigung veranstaltet hast?“

„Ja, sie ist noch böse“, dachte Ana, zwar nicht schuldbewusst, aber nervös. Sie wusste, dass sie es diesmal übertrieben hatte.

„Ich wollte nur wissen, ob mit euch alles in Ordnung ist“, antwortete sie und erhaschte einen Blick auf ihren Vater, der schnarchend im Bett lag.

Ihre Mutter runzelte die Stirn und sah sie prüfend an. „Hast du geträumt?“, fragte sie äußerst scharfsinnig. Ana hatte ihr damals davon erzählt und versprochen, immer sofort zu ihr zu kommen, sollte sie jemals wieder träumen. Und sie hielt sich dran. „Ja, habe ich. Eine Welle überrollte mich. Mitten im Wald“, antwortete sie leise, um ihren Vater nicht zu wecken.

Die Runzeln in der Stirn ihrer Mutter wurden tiefer. „Uns geht es gut, aber danke, dass du trotzdem zu mir gekommen bist. Ich schätze deine Sorge.“ Sie lächelte ihre Tochter an, drehte sich um und schloss die Tür wieder hinter sich.

Ana blieb davor stehen und starrte die verschlossene Pforte ungläubig an. Das hatte geklungen, als ob sie bei einer Psychiaterin in eine Sitzung geplatzt wäre. Genauso kalt und berechnend hatte ihre Mutter geklungen und dreingeblickt.

Ana wirbelte herum und stürmte zurück in ihr Zimmer. Dabei dachte sie: „Entschuldigung, dass ich euren hochfeinen Schlaf gestört habe. Es tut mir leid, dass ich mich auch mal nach Elternliebe gesehnt habe. Entschuldigung, dass ich mir Sorgen gemacht habe!“ Sie hätte es gerne herausgeschrien, hielt sich aber zurück.

Als sie in ihrem Zimmer angekommen war, trat sie mit voller Wucht gegen ihre Matratze. Dann ließ sie sich auf dieselbe sinken und weinte. Dafür hasste sie ihre Eltern noch mehr. Dafür, dass sie sie zum Weinen brachten.

Typisch! Es war so typisch für ihre Eltern. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie angefangen hatten, so kalt ihr gegenüber zu werden.

Es waren heiße Tränen voller Wut, die sie vergoss, und sie wünschte sich auf einmal nichts sehnlicher, als von ihnen wegzukommen.

Erneut klingelte ihr Telefon. Sie hatte sich gerade wieder beruhigt und trocknete ihre Tränen. Wütend schaute sie den Apparat an und beschloss, nicht dranzugehen. Sie ignorierte das Läuten und dachte lieber über Mike nach.

Auch wenn sie ihn nicht mehr liebte, so wollte sie ihn trotzdem als Freund behalten. Er kannte sie gut. Er wusste, dass das ganze coole Verhalten bloß aufgesetzt war, wie sehr sie sich nach einer gewissen Normalität sehnte. Sie waren Freunde seit der achten Klasse. Damals war sie mit einem Typen aus der zehnten gegangen, und als der sie verprügeln wollte, war Mike dazwischengegangen. Seit diesem Augenblick waren sie geradezu unzertrennlich gewesen und seit einem halben Jahr offiziell zusammen. Es tat ihr weh, von ihm ersetzt worden zu sein. Aber so war das Leben eben.

Sie seufzte. Doch leider ließ ihr Telefon sich nicht ignorieren, es klingelte beharrlich weiter. Sie wusste, wer dran war. Und sie wusste auch, dass es zu einem Streit kommen würde. Mal wieder. Also hob sie ab und prompt ertönte die Stimme ihres Vaters. „Kommst du bitte in den Salon?“ Sie ließ sich nicht von seinem sanften Tonfall täuschen.

„Mir bleibt ja eh keine Wahl“, schnauzte sie ihn an und legte auf.

Sie wischte sich noch einmal über die Augen, vergewisserte sich, dass man nicht sah, dass sie geweint hatte, und schlenderte dann betont langsam in den Salon. Dort warteten ihre Eltern bereits auf sie, beide sahen noch äußerst verschlafen aus.

Ihre Mutter begann: „Lysana, wieso hast du uns nicht gefragt, ob du diese Party veranstalten darfst?“ Sie schien die Frage ernst zu meinen.

Ana lachte trocken auf. „Weil ich wusste, dass ihr es mir verbieten würdet.“

Ihr Vater nickte und sagte dabei: „Stimmt, denn wir wollen nicht, dass du so viel trinkst. Hattest du heute Morgen einen schönen Kater? Normalerweise bringt der die jungen Saufbolde wieder zur Vernunft, aber so scheint es bei dir nicht zu sein. Noch dazu wollen wir keine Party in unserem Haus, die außerdem so laut ist. Also waren wir gezwungen, gewisse Maßnahmen zu ergreifen.“

Hier unterbrach sie ihn. „Maßnahmen? Ich bin 17, ich darf doch wohl selbst über mein Leben bestimmen! Es ist mir egal, was ihr euch jetzt schon wieder ausgedacht habt, ich werde es nicht machen.“

„Und ob du das machen wirst! Dir wird keine andere Wahl bleiben, weil du ansonsten unter die Brücke ziehen und dir dein Leben mit Alkohol kaputt machen kannst.“ Die Idee, die ihre Mutter da ansprach, klang verlockend. Dann würde sie wenigstens nicht länger unter dem elterlichen Joch stehen. Aber gleichzeitig hätte sie so keinen Cent mehr, und wenn ihr etwas wichtiger war als Alkohol und Unabhängigkeit, dann war es Geld. „Was soll ich überhaupt machen?“, fragte sie, um ihre Nachdenklichkeit zu überspielen. Sie sollten nicht merken, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, ihr Leben hinzuschmeißen.

„Du sollst für den Rest des Sommers in den Westen auf Urlaub gehen. Es gibt dort Ferienwohnungen für Leute in deinem Alter und akzeptable Hausregeln. Wenn du die dann auch nicht befolgst, schicken wir dich wirklich unter die Brücke. Wir wissen nicht mehr, was wir sonst noch tun sollen mit dir.“ Das kam wieder von ihrer Mutter. Sie machte ganz große Augen, doch Ana war sich nicht sicher, ob sich Wut oder Trauer darin spiegelte.

„Was sind das denn für Regeln?“, fragte sie vorsichtig. Generell hatte sie nichts dagegen, hier mal rauszukommen, aber bei Regeln sollte man besser Vorsicht walten lassen, vor allem wenn ihre Eltern sie toll fanden. „Alkohol nur unter Aufsicht, keine Drogen, keine körperlichen Annäherungen jeder Art, Bettruhe um 24 Uhr und kein Randalieren. Außerdem ist es ein kleines Kaff, nennt sich allerdings Kleinstadt, direkt am Wald. Landluft wird dir guttun.“

Ana bekam Atemnot. „Es ist nicht zufällig ein Kloster, in das ihr mich da schickt?“, fragte sie mit erstickter Stimme. Das war schlimmer als alles, was sie sich vorgestellt hatte.

„Nein, es ist eine respektable Ferienwohnsiedlung in Grettersane, einer Kleinstadt in der Nähe von Roundstone, wie ich schon sagte“, gab ihre Mutter ruhig zurück.

„Niemals!!!“, schrie Ana, drehte sich um und rannte aus dem Haus. Leider wurde sie von ihrem Vater, der ihr hinterhergesprintet war, abgefangen und wieder in die Eingangshalle gezerrt.

Er sah ihr tief in die Augen und sagte: „Hör zu, es ist wirklich nur zu deinem Besten. Und so schlimm ist es dort auch nicht, es ist eine schöne Umgebung, da kannst du mal etwas anderes außer dem Stadtleben kennenlernen.“ Sie wehrte sich noch immer, aber er ließ sie nicht los. „Es ist egal, ob du willst oder nicht, dein Flug ist gebucht und deine Mutter ist bereits hochgegangen, um deinen Koffer zu packen. Und morgen sitzt du schon im Flieger.“

Nun war sie stumm, ihre Augen waren schreckgeweitet. Ihr Vater ließ sie los, doch sie blieb weiterhin bewegungslos stehen, konnte sich nicht rühren. Mit aller Macht bekämpfte sie die Tränen. „Ich werde abgeschoben, ich bin nicht gewollt, ich komm ins Kloster, ich werde abgeschoben, ich bin nicht gewollt ...“, klang es wie eine hängen gebliebene Schallplatte in ihrem Kopf.

Die folgenden Stunden zogen an ihr vorbei, ohne dass sie sich später hätte erinnern können, was sie in der Zeit gemacht hatte.

Der Morgen kam viel zu schnell, sie stieg in das Auto ihres Vaters, hinten im Kofferraum ihr großer Koffer, genug darin für den ganzen Sommer. Verschwommen hörte sie das Treiben am Flughafen von Dublin, ging durch die Sicherheitskontrollen, verabschiedete sich mechanisch von ihren Eltern.

Erst als sie ins Flugzeug einstieg, wurde ihr bewusst, dass sich ihr größter Wunsch soeben erfüllte. Sie war der Kontrolle ihrer Eltern entkommen. Dass sie dafür unter der Kontrolle anderer stehen würde, noch strengere, schlimmere Regeln befolgen sollte, interessierte sie dabei nicht im Geringsten. Selbst wenn es wirklich so schlimm sein sollte, würde sie das Beste daraus machen. Sie hatte einen Sommer vor sich, in dem sie ihren Eltern komplett entronnen war.

Als das Flugzeug abhob, lächelte Lysana.

Waldlichter

Подняться наверх