Читать книгу Waldlichter - A. V. Frank - Страница 12

Kapitel 3

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Transca stieß sich den Kopf an einem tief hängenden Ast. Fluchend rieb sie über die schmerzende Stelle und fragte sich, warum sie ihn nicht gesehen hatte. Sie blickte sich um und bemerkte erstaunt, dass sie bereits am Waldrand war. Dabei hatte es vorhin noch so ausgesehen, als ob sie inmitten des tiefsten Waldes auf einem ausgetretenen Pfad dahinschreiten würde. Eben hatte sie auch noch ein fließendes hellgrünes Kleid aus leichtem Leinen getragen, doch jetzt hatte sie ihre normale Khakihose und ihr ausgewaschenes, grobes und viel zu weites Sweatshirt wieder an. Sie runzelte verwirrt die Stirn. Sie nahm doch keine Drogen und trank auch nicht, woher dann die Halluzinationen?

Vorhin noch war ihr der wunderbare Duft des Waldes in die Nase gestiegen, ganz intensiv, aber jetzt roch sie nichts Besonderes. Einen schwachen Abklatsch des wunderbaren Aromas konnte sie noch wahrnehmen, aber mehr nicht.

„Jetzt werde ich endgültig verrückt, hat mich schon gewundert, warum das überhaupt so lange gedauert hat ...“, dachte sie und verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Sie trat mit traumwandlerischer Sicherheit auf die trockenen, tragenden Stellen des Waldbodens, der ansonsten eher an eine Sumpflandschaft erinnerte, vor allem hier, weit im Süden. Dieser Wald war ihre Heimat, mehr noch als der Wohnwagen, in dem sie mit ihrem Cousin Robin lebte. Sie kannte ihn in- und auswendig.

Als sie aus dem grünen Dickicht hinaustrat, ging gerade die Sonne unter. Sie beeilte sich zurückzukommen, damit Robin sich nicht sorgte. Auch wenn sie in einem Monat schon 19 wurde, hatte er immer Angst, sie würde im Wald verschwinden und nie wieder zurückkommen.

Einmal hatte sie im Wald übernachtet, ohne ihm Bescheid sagen zu können, da ihr Handy nutzloserweise auf ihrem Bett lag. Er war schier verrückt geworden und sie hatte eine Woche nicht aus dem Wohnwagen gedurft. Seitdem nahm sie ihr Handy immer mit, auch wenn es meistens ausgeschaltet war.

Mit der Schule war sie längst fertig, da es hier in Grettersane nur eine Art Mittelschule gab, in der die Kinder bis zur elften Klasse unterrichtet wurden. Um ihren Cousin finanziell zu unterstützen, jobbte sie in dem Pub Zum tanzenden Kobold als Serviererin. Hier kannte sich jeder, und wenn einer der Nachbarn in finanziellen Schwierigkeiten steckte, dann half das gesamte Dorf. Oder Kleinstadt, wie es auf dem Papier hieß. Aber im Grunde war es wirklich nur ein heimeliges, kleines Dorf. Tran, wie sie von ihrem Cousin genannt wurde, liebte es hier. Sie wollte niemals woanders hin.

Zu ihrem 19. Geburtstag würde sie einen eigenen Wohnwagen bekommen, was sie verständlicherweise freute. Er sah sehr süß aus und wartete schon darauf, von ihr bezogen zu werden. Es gab einen kleinen Parkplatz, auf dem sie lebten, gemeinsam mit ein paar anderen, die es vorzogen, in einem mobilen Heim zu residieren.

Im Dorf war das Leben, das sich größtenteils im Pub abspielte, sehr friedlich. Dort war der Mittelpunkt des sozialen Lebens. Neue gab es zum Glück nur wenige. Die hatten immer so hohe Ansprüche. Natürlich gab es die Ferienwohnungen von Lilly Mairéan, deretwegen es ziemlichen Streit in Grettersane gegeben hatte, laut Robin zumindest. Lilly wollte unbedingt junge Leute in den Ferien herholen, damit diese ein bisschen Natur kennenlernten. Dem Rest der Einwohner passte das nicht, denn sie schätzten ihre Abgeschiedenheit. Tran wusste nicht wie, aber irgendwie war es Lilly gelungen, sich trotzdem durchzusetzen.

Jetzt verdiente das Dorf eine Menge an den Hütten. Und viele der Jugendlichen kamen wieder. Eine Familie war sogar nach einem solchen Urlaub hierher gezogen. Es waren Michael und Gloria Agnew. Ihre Tochter, die inzwischen zwanzigjährige Katherina, war eine gute Freundin von ihr geworden.

Tran freute sich auf die Ankunft der Gäste, denn es waren auch einige Freunde von ihr dabei, die seit drei Jahren immer kamen. Die Schwestern Marina und Caroline Knight aus London, beide inzwischen 19 Jahre, sowie die Brüder Eric und Philipp, 19 und 18 Jahre und beide supersüß, die in Glasgow wohnten. Und nicht zu vergessen das Paar Lisa (22) und Melissa (21), die sich immer freuten, aus Belfast herauszukommen. Das waren ihre Freunde, denn sie war eine der letzten Jugendlichen in Grettersane. Die anderen hatte es alle in die Großstädte gezogen.

Mit einem dumpfen Schlag knallte Transca gegen den Wohnwagen. Sie hatte schon wieder nicht geschaut, wo sie hinlief. Jetzt würde sie gleich zwei Beulen am Kopf bekommen, der bereits zu schmerzen begann. Sie verfluchte sich für ihre Unachtsamkeit. Nachdem sie um den Wagen herumgegangen war, machte sie die Tür auf und stieß prompt mit Robin zusammen.

„Verdammt, am besten packt man mich in Kissen ein und verhindert, dass ich mich bewege!“, schimpfte sie.

Erschrocken sprang Robin zurück. „Was ist denn los, Tran, dass du dich so aufregst?“, fragte er, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen.

Sie schnaubte, drückte sich an ihm vorbei und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann drehte sie sich zu ihm um, sah ihn an und sagte: „Erst stoße ich mir den Kopf an einem Ast, dann renne ich volle Kanne gegen unseren Wohnwagen und schließlich knalle ich mit dir zusammen. Und der Ast war das weichste Hindernis von allen dreien.“

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Tja, ich bin eben gut trainiert. Soll ich Kissen holen gehen?“

Sie bewarf ihn mit dem Handtuch, mit dem sie gerade ihre Hände getrocknet hatte, wandte sich um und ging in ihren Teil des Wagens, hörte allerdings noch sein schallendes Lachen.

Im Traum war sie wieder im Wald. Sie zwängte sich durch einen Spalt in einer Felswand, vor der sie plötzlich stand. Nun befand sie sich innerhalb eines perfekten Kreises, von dem acht Höhlen abgingen. In der Mitte stand ein riesiger Obelisk, doch sie konnte den Blick nicht darauf ruhen lassen, genauso wenig, wie sie ihre Umgebung genauer betrachten konnte.

Es zog sie in die braune Höhle, die keinerlei Verzierungen hatte außer einem Zeichen über dem Eingang. Es war ein senkrechter Strich, von dem oben ein Blatt abging und der unten in einer Schale stand. Sie betrat die Höhle und fühlte sich sofort geborgen. Dort ruhte auf einem kleinen Podest eine Schale aus Katzenauge, in die von oben bräunliches Wasser tropfte. Um das Podest herum standen kunstvoll verflochtene Gräser, dazwischen Tongefäße, in denen Kräuter und Früchte gelagert wurden.

Doch so interessant das auch war, Tran gelang es erneut nicht, ihren Blick darauf ruhen zu lassen und ihn somit von der Schale abzuwenden. Sie berührte das Gefäß sanft, wollte wissen, wie sich der Stein anfühlte, der so überirdisch aussah. Das Wasser begann auf ihre Berührung hin, braun zu glühen. Erschrocken wich sie zurück.

Eine Stimme ertönte, so ausgewogen, so hoffnungsvoll, dass ihr Tränen in die Augen traten. „Meine Tochter, du bist nach Hause zurückgekehrt. Das freut mich unendlich, denn ich bin nur so stark, wie es meine Kinder sind, und du wirst unglaublich stark werden. Ich bin Billingra, komme zu mir, sobald du kannst.“

Transca konnte nur stumm dastehen und nicken, bis das Glühen erlosch. Danach stolperte sie langsam aus der Höhle. Ihre Beine schienen ein Eigenleben zu entwickeln, denn plötzlich stand sie genau vor dem Obelisken und blinzelte im reflektierten Sonnenlicht. Sie wandte sich ab und sah sich der schwarzen Höhle gegenüber.

Verschwommen nahm sie eine Gestalt wahr, die aus dieser Höhle trat, eine junge Frau mit langem schwarzem Haar und hellgrauen Augen, die sie erschrocken und entgeistert anstarrte. Sie trug ein hellgrünes, langes, fließendes Kleid und Transca wusste intuitiv, dass es aus leichtem Leinen war. Es war die Person, die sie heute Nachmittag gespürt hatte, mit der sie sich verwechselt hatte. Verständlicherweise, denn auch Tran hatte lange schwarze Haare und graublaue Augen. Sie hatten sogar beinahe die gleiche Größe.

Tran runzelte die Stirn und wollte näher herangehen. Doch dann verschwamm ihre Umgebung immer mehr.

Ruckartig setzte sie sich auf, erschrocken über diesen Traum. Auch wenn ihre Fantasie ihr schon des Öfteren einen Streich gespielt hatte, dann doch nie den gleichen so kurz hintereinander. Oder einen so seltsamen.

Sie versuchte sich an den Namen zu erinnern, den die Stimme in der Höhle genannt hatte, es wollte ihr aber nicht gelingen. Überhaupt konnte sie sich an kaum etwas erinnern außer an die Person und den Befehl der Stimme, zu ihr zu kommen.

Sie schaute auf die Uhr und sah, dass es schon acht Uhr morgens war. Sie stand auf, streckte sich, zog die Kleider vom Vortag an und holte sich etwas zum Essen aus dem Kühlschrank. Sie achtete nicht darauf, was es war, sie achtete auch nicht auf den Geschmack, sie aß einfach mechanisch, um genug Nährstoffe für den Tag zu haben. Sie schrieb Robin, der sicher schon bei der Arbeit war, einen Zettel, dass sie in den Wald ginge und vielleicht erst morgen zurückkommen würde.

Draußen empfing sie ein strahlend blauer Himmel, aber es war noch etwas nebelig. Kalt war ihr jedoch nicht, schließlich war es Sommer.

Sie schlenderte an den Wohnwagen vorbei über eine große Wiese und überquerte die zugewucherte Waldgrenze. Als sie diese hinter sich gelassen hatte, atmete sie tief durch und erfreute sich an den Bäumen und dem grünen Laub.

Dann dachte sie wieder über ihren Traum nach. Da war eine Felswand gewesen mit einer Spalte, durch die man in den Kreis gelangte. Also sollte sie wohl in Richtung der Berge gehen.

Entschlossen wanderte sie los, immer nach Nordwesten, obwohl das Gebirge eher östlich lag. Sie wollte einen kurzen Abstecher zum Strand machen und sich dann von der anderen Seite dem kleinen Gebirge nähern, da man von Süden her kaum nahe genug herankam. Dort lebten einige wilde Tiere und niemand kannte den Weg genau.

Verwirrt runzelte Transca die Stirn. Wieso ging eigentlich nie jemand von Süden in die Berge? Generell wusste sie nicht, ob überhaupt schon mal irgendjemand in dieser Gegend gewesen war. Dort irgendwo lag auch die Quelle des Rotflusses, der durch den ganzen Wehwald floss, ehe er ins Meer mündete. Der Wald grenzte auf einer langen Strecke genau an den Strand der Halbinsel. Transca schlug allerdings nicht den Weg zur Rotflussmündung ein, sondern zu einem kleinen Teil des Strandes, der von besonders hohen Kiefern umsäumt war. Es war einer ihrer Lieblingsplätze.

Ihre Gedanken schweiften zu dem Traum. Diese Frau, sie war seltsam gewesen. Natürlich war da die Erinnerung an den Weg nach Hause und die Ähnlichkeit zu ihr selbst, aber sie hatte, davon mal abgesehen, anders gewirkt. Sie schien ganz leicht zu glühen, in einem zarten Grün, aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet. Außerdem hatte es nach Lavendel gerochen. Das hatte wahrscheinlich nichts zu bedeuten, aber es war ein weiterer Hauch des Übernatürlichen gewesen, das sie umgab, ohne dass Transca es richtig beschreiben konnte. Und ihre Haare schienen sich zu bauschen wie in einer Windböe, obwohl kein Luftzug zu spüren gewesen war. Sie hatte ein nahezu perfektes Gesicht gehabt, war aber nicht geschminkt gewesen ...

„Auf jeden Fall war sie kein Mensch“, dachte Tran, was sie zum Frösteln brachte. „Sie hätte mich auch eigentlich gar nicht sehen dürfen, schließlich war ich nur im Traum dort.“ Dann merke sie, was sie da dachte, und korrigierte sich schnell. „Ich war überhaupt nicht dort und diese Person gibt es auch nicht. Es war alles nur eine Ausgeburt meiner Fantasie! Jetzt beginne ich schon, an Sidhe und Kobolde und Gnome zu glauben, nicht möglich!“

Aber sie konnte sich selbst nicht so recht überzeugen, es blieb das ungute Gefühl, dass dieser Traum sehr wohl real gewesen und in irgendeiner Weise wichtig war. Leider.

Seufzend wandte sie ihre Gedanken einem anderen Thema zu. Blätter. Sie dachte über die einzelnen Formen von Blättern nach und fragte sich, was diese Unterschiede für einen Nutzen hatten. Bis sie beinahe wieder mit einem Baum zusammenstieß.

„Ist das denn die Möglichkeit?“, fragte sie sich wütend. Sie lehnte sich gegen den Stamm und überlegte, warum sie eigentlich nie sah, dass ihr etwas im Weg stand. Brauchte sie etwa eine Brille?

Ihre Augen weiteten sich angstvoll. „Bitte nicht“, dachte sie voller Inbrunst. Das wäre für sie der schlimmste Albtraum. Sich nicht mehr auf seine Augen verlassen zu können, musste grauenvoll sein. Sie bedauerte alle Leute, für die dieser Horror Normalität geworden war. Melissa hatte eine Brille, aber das schien sie nicht zu stören. Und Philipp trug Kontaktlinsen, auch er fand nichts daran. Vollkommen unverständlich. Aber sie zweifelte daran, dass sie eine Brille nötig hatte. Sie musste bloß aufmerksamer sein.

Schlagartig kam sie auf andere Gedanken, als sie bemerkte, was es für ein Baum war, an dem sie lehnte. Es handelte sich um eine Kiefer und diese Art Gehölz wuchs hier nur in Strandnähe. Und solch große Exemplare gar nur an ihrem Strand.

Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die ganze Zeit gelaufen war, doch das war sie anscheinend. Durch den Wald gerannt, als ob irgendetwas hinter ihr her wäre, sonst wäre sie noch nicht hier angelangt. Doch als sie auf die Uhr sah, merkte sie, dass sie trotz allem schon eine ganze Stunde unterwegs war.

Die Zeit verging hier im Wald immer wie im Fluge. Als sie aufmerksam schnupperte, roch sie den salzigen Wind. Etwa hundert Schritte weiter hörte sie dann auch das Geschrei der Möwen und sah das aufgewühlte Meer. Sie trat unter den Bäumen hervor und betrachtete schweigend den großartigen Ausblick. Zu ihren Füßen lag ein wundervoller Steinstrand mit kleinen, runden Kieseln, dahinter erstreckte sich der Ozean. In einiger Entfernung konnte sie Festland entdecken, doch das störte sie nicht. Der Wind spielte mit ihren Haaren, streichelte ihr Gesicht. Sie lächelte glücklich, setzte sich hin und schloss die Augen. Genoss die Natur und den Frieden.

Sie wusste nicht, wie lange sie so sitzen blieb, aber als sie die Augen aufschlug und aufstand, war sie komplett entspannt und ruhig. Dann wandte sie dem Meer den Rücken zu und ging wieder in den Wald hinein.

Nun waren ihre Gedanken besonnen, ihr Blick klarer und ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Umgebung gerichtet. Zielstrebig wanderte sie weiter, dachte über nichts Bestimmtes nach und schaffte es, nicht gegen irgendwelche Bäume zu rennen.

Sie ging eine ganze Zeit lang nach Nordwesten, steuerte auf einen kleinen See zu. Überall im Wald lagen Seen, die darauf hindeuteten, dass der Rotfluss früher einmal ganz anders verlaufen sein musste. Es waren insgesamt zehn Stück bekannt, doch in den Gegenden, die nie jemand betrat, weshalb auch immer, konnte es durchaus noch mehr geben. Bald lichteten sich die Bäume und Transca stand am Ufer des Sees. Leichter Wind kräuselte die Oberfläche und trieb Blätter wie kleine Boote über das Wasser. Am liebsten wäre sie noch eine Weile stehen geblieben, doch sie wollte unbedingt diese Felsspalte erreichen, also ging sie um den See herum und verschwand wieder im Wald.

Sie bemerkte, dass das Gelände anstieg und sie immer steiler nach oben führte. Keuchend blieb sie stehen und blickte sich um. Sie war nun schon ein gutes Stück von Grettersane weg und sah bis an den Horizont nur Bäume und rechts von sich in weiter Ferne das Meer. Sie konnte sogar einige Lichtungen im Wald und den See, an dem sie vorher noch gestanden hatte, ausmachen. Um sich herum hörte sie die Vögel singen und ein Knacken im Unterholz, das wohl von einem der vielen wilden Tiere verursacht worden war. Doch vor diesen hatte sie keine Angst, sie wusste, dass sie nicht als Beute angesehen wurde, sondern als etwas Fremdes, das es zu meiden galt. Die Luft war nun nicht mehr salzig, sondern erfüllt von den Gerüchen des Waldes, zusätzlich verstärkt durch die Wärme. Der Duft lullte sie ein und sie wollte nichts sehnlicher, als in ihm zu versinken.

Als sie sich umdrehte, stand direkt vor ihr ein Mensch. Erschrocken fuhr sie zurück und schrie leise auf, während er sie nur weiter stumm anstarrte. Sich nicht einen Millimeter rührte. Keinerlei Reaktion zeigte.

Transca holte ein paarmal beruhigend Luft, dann schaute auch sie ihr Gegenüber prüfend an. Der Mann sah gut aus mit seinen braunen, schulterlangen Haaren, den tiefgrünen Augen und dem durchtrainierten Körper. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Er hatte sich immer noch nicht bewegt.

„Wer bist du? Und wo kommst du auf einmal her?“, fragte sie ihn und versuchte gleichzeitig, ihm nicht in die Augen zu schauen, weil sie wusste, sie würde darin versinken. Wie unglaublich tief und unergründlich diese waren ... Abwehrend verschränkte sie die Arme vor der Brust und hoffte gleichzeitig, sich so an einer unbewussten Bewegung zu hindern. Sie wurde sich ihrer schmuddeligen Kleidung bewusst und wünschte, sie hätte etwas anderes angezogen.

Da endlich zeigte sich eine Regung auf dem Gesicht des Fremden. Er lächelte und Tran wäre am liebsten vor ihm dahingeschmolzen. Niemals hatte sie so ein tolles Lächeln gesehen. Sie riss sich zusammen und verbannte den Gedanken an seine Lippen – wundervolle, sinnliche Lippen ‒ schnell aus ihrem Kopf. Heute war sie nicht sie selbst.

„Mein Name ist Sirman. Da trete ich noch extra auf einen Ast, um dich zu warnen, damit du nicht erschrickst, und jage dir trotzdem einen Schrecken ein. Anscheinend nicht die erfolgversprechendste Methode“, sprach er und zuckte schuldbewusst mit den Schultern. Als sie keinen Ton von sich gab, weil sie Angst hatte, etwas Peinliches oder Dummes zu sagen, fragte er sie: „Wie heißt du?“

Sie riss sich zusammen und antwortete: „Transca. Na ja, ich werde meistens Tran genannt.“ Sie schwieg kurz und hoffte inbrünstig, nicht zu stottern. „Der Trick mit dem Ast war wirklich nicht sehr erfolgreich. Mir wäre beinahe das Herz stehen geblieben.“

Er grinste schief, rieb sich jedoch mit einer Hand verlegen den Nacken ‒ während Tran leichte Atemnot bekam ‒ und fragte mit samtweicher Stimme: „Und schlägt dein Herz wieder, Tran?“

„Oh ja, es läuft gerade Marathon“, dachte sie, antwortete aber: „Ja, ich habe es überlebt.“ Dann lächelte sie ihn an. Täuschte sie sich oder weiteten sich seine Pupillen etwas, bevor er blinzelte?

„Du scheinst sehr erschöpft zu sein, wieso setzt du dich nicht eine Weile zu mir und isst etwas?“, schlug er vor und deutete auf eine Brombeerhecke zu ihrer Linken.

„Eigentlich wollte ich noch weiter ...“, setzte sie zweifelnd an, obwohl ihr nichts lieber wäre, als diesen Fremden näher kennenzulernen.

„Ich halte dich nicht lange auf, das verspreche ich dir. Aber wenn du nicht möchtest ...“ Sein Ton blieb unverändert, doch seine Körperhaltung war auf einmal angespannt und vorsichtig. Wovor fürchtete er sich?

„Nein, ich würde mich sehr freuen“, beeilte sie sich zu antworten und lächelte wieder.

Sirman lächelte zurück – es wirkte beinahe erleichtert ‒, drehte sich um und ging durch eine Lücke in der Brombeerhecke. Sie folgte ihm schmachtend. Dahinter öffnete sich eine kleine Lichtung, von Brombeerhecken und dichtem Unterholz umgeben. Sie ließen sich einander gegenüber nieder und aßen die Beeren, die er mitgebracht hatte. Sie redeten nicht miteinander, sondern sahen sich die ganze Zeit stumm an. In Transcas Kopf herrschte ein Chaos aus Stimmen, die einen forderten sie auf, etwas zu sagen, die anderen schrien sie an, bloß still zu sein. Also schwieg sie eisern und bewunderte diesen geheimnisvollen Fremden.

Schließlich brach er die Stille mit einer Frage. „Was tust du hier? In dieser Gegend sind selten Menschen unterwegs.“

Bildete sie es sich ein oder betonte er das Wort Menschen? Nein, das war nur ihre Fantasie.

Sie löste den Blick von dem seinen und sah auf den Boden. „Ich wandere viel im Wald herum, aber war erst selten in diesem Teil, also dachte ich mir, dass ich mich heute einmal genauer hier umschauen sollte.“ Natürlich war das keine Lüge, es stimmte voll und ganz, aber den Hauptgrund, warum es sie in diese Gegend verschlagen hatte, ihren Traum, den erwähnte sie nicht.

Einen Moment zu lange musterte er sie und sie fürchtete schon, er merkte, dass sie ihm etwas verschwieg, aber schließlich nickte er und stand auf. Sie folgte seinem Beispiel und wusste, dass sie sich nun voneinander verabschieden mussten. Es tat ihr im Herzen weh, und ehe sie sich daran hindern konnte, fragte sie: „Werden wir uns wiedersehen?“ Sofort wurde sie rot und blickte zu Boden. Wie peinlich war das denn gewesen?

Sirman kam auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand, hob ihr Kinn mit seiner Hand zart an und flüsterte: „Ich hoffe es doch sehr. Selten habe ich so ein schönes Geschöpf im Wald gesehen.“ Dann küsste er sie sanft auf die Lippen, drehte sich um und war im Wald verschwunden.

Atemlos starrte sie ihm hinterher. Sie fasste nicht, was soeben passiert war, versuchte, ihrem Gehirn zu sagen, dass es sich den Kuss bloß eingebildet hatte, aber sein Geschmack auf ihren Lippen war zu intensiv, das Gefühl zu unvergesslich.

Sehr lange stand Transca noch so da und betrachtete den Wald und die Brombeeren, hoffte verrückterweise, Sirman würde zurückkommen. Doch als sie merkte, dass die Sonne bereits den Horizont berührte, drehte sie sich um und lief zurück, bergab und weiter durch den Wald, achtete nur so weit auf ihre Umgebung, um Zusammenstöße mit Bäumen zu vermeiden.

Nach circa anderthalben Stunde war sie zu Hause angekommen. Der Traum war ihr jetzt völlig egal, genau wie diese mysteriöse Felsspalte. Sie schlüpfte leise in den Wohnwagen, ließ sich auf ihr Bett fallen und wurde sich noch einmal ihrer schmuddeligen Kleidung bewusst, bevor sie in tiefen Schlaf fiel. Diesmal träumte sie nichts Besonderes, sie wusste nur noch, dass erstaunlich viele Lichtungen und grüne Augen aufgetaucht waren.

Am nächsten Morgen, einem Sonntag, wurde sie von Robin geweckt. „Hey, du große Schlafmütze, der Bus, der unsere Gäste bringt, kommt in einer halben Stunde und ich dachte mir, dass du gerne vorher noch duschen würdest.“ Demonstrativ krauste er die Nase.

Sie lächelte matt, schälte sich aus ihrer Decke und trank begierig den Tee, den er ihr gemacht hatte. „Danke“, sagte sie, nahm zwei Handtücher und ging duschen.

Als sie sauber war und eine kurze Hose, ein Trägertop und Flip-Flops trug, war sie bereit, ihren Freunden zu begegnen. In dem Moment klopfte es an der Tür.

„Ja?“, rief sie und öffnete.

Draußen stand Katherina, die ungeduldig mit dem Fuß wippte. „Kommst du jetzt endlich? Wir verpassen noch die Ankunft und dann sind unsere süßen Jungs beleidigt.“ Da sie grinsen musste, kam diese Aufforderung nicht sehr böse rüber, auch wenn ein genervter Unterton in ihrer Stimme auszumachen war.

„Bin schon so weit“, sagte Transca schnell und ging voran.

Kath kam hinterher und murmelte etwas, das sich verdächtig nach „Was soll hier schon heißen?“ anhörte. Tran grinste.

Sie kamen gerade noch pünktlich auf dem großen Platz vor den Ferienwohnungen an, die in einem Halbkreis gebaut waren. Der Bus hatte kaum die Türen geöffnet, als Jugendliche aus ihm hervorquollen und ungeduldig auf den Busfahrer warteten, der die Klappen an den Seiten aufmachen und die Koffer herausgeben sollte. Während sich die meisten um ihn scharten, kam Caroline direkt auf die beiden Mädchen zu und umarmte Tran ganz fest. Diese hielt sie ganz lange in der Umarmung, wollte sie gar nicht loslassen. Caro war von allen, abgesehen vielleicht von Katherina, ihre beste Freundin. Die beiden hatten Freudentränen in den Augen, als sie sich voneinander lösten.

Dann wurde Katherina gedrückt, auch wenn diese Umarmung deutlich kürzer ausfiel. Von hinten kam Marina, Caros Zwillingsschwester, auf das Grüppchen zu und zog hinter sich zwei große Koffer her. Auch sie wurde von Tran begeistert begrüßt, während Caroline ihren Koffer an sich nahm und sich suchend nach den anderen umschaute.

Auf einmal wurden Kath und Tran von hinten von großen, starken Händen an den Schultern gepackt. Sie drehten sich um und umarmten die beiden Jungs, die hinter ihnen standen, fest. Während Tran Eric an sich drückte, küsste Philipp Katherina gerade zur Begrüßung. Die beiden waren jeden Sommer zusammen, hatten aber während der restlichen Zeit keinerlei Kontakt zueinander. Mit Eric war das etwas anderes. Er war einfach Trans bester Kumpel, und obwohl sie heimlich in ihn verliebt war, wusste sie, dass sie keine solche Beziehung wie Kath wollte.

Zu guter Letzt sichtete Marina das Pärchen Melissa und Lisa, das erst seit einem Jahr zu ihrem Freundeskreis gehörte. Sie kamen händchenhaltend auf die Gruppe zu und umarmten alle. Daraufhin wurde heftig Klatsch und anderes Wissenswertes ausgetauscht. Sie redeten und redeten. Tran stand ganz nahe bei Eric und hing an seinen Lippen, als er von seinen Eltern erzählte.

Plötzlich ertönte eine Stimme aus einem Lautsprecher und alle drehten sich zu Lilly um, die auf der Veranda eines Hauses stand und in ein Megafon sprach. „Alle mal herhören. Ich heiße euch in Grettersane willkommen und wünsche euch angenehme Ferien. Für diejenigen von euch, die neu sind, ich bin Lilly, die Leiterin und Verantwortliche für diese Wohnungen. Ich verlese jetzt eure Namen und sage euch die Nummer eures Hauses. Julia Andorn, Haus fünf, Lysana Appleton, Haus sieben, Jamie Brond, Haus eins ...“

So ging es weiter, Namen über Namen und lauter junge Leute, die in die ihnen zugeteilten Häuser gingen. Trans Freundinnen kamen in Haus sieben, zusammen mit der eben genannten Lysana und einem Mädchen namens Victoria. Eric und Philipp wurden in Haus eins untergebracht.

Als alle verteilt waren, zerstreute sich die Menge der Dorfbewohner, die zugesehen hatte, schnell. Nur Kath und Tran blieben draußen zurück, bis Caroline sie hereinrief. Drinnen herrschte ausgelassene Stimmung und ein Geschnatter, dass man beinahe taub wurde.

Die eine der beiden neuen, Lysana, ließ einen komplett verzweifeln. Das Bett war zu hart, der Platz zu gering, die Gesellschaft der anderen unangenehm und es war angeblich viel zu dreckig, was überhaupt nicht stimmte. Das ging so, bis die andere Neue, Victoria, sie anherrschte, was sie eigentlich für Probleme hätte. Wenn ihr das hier nicht recht wäre, hätte sie zu Hause bleiben sollen.

Da wurde Lysana still, bedachte sie mit einem tödlichen Blick und machte sich ans Auspacken. Dabei sagte sie: „Wenn mir einer an meine teuren Guccisachen geht, dann kann derjenige was erleben. Übrigens könnt ihr mich Ana nennen und ich werde schneller eure Freundin, wenn mir jemand etwas Alkoholisches beschafft.“

Tran runzelte ärgerlich die Stirn, stellte sich dann aber vor und ihre Freunde folgten ihrem Beispiel. Auch Victoria stellte sich vor, bat aber darum, sie Vici zu nennen. Sie war Tran sofort sympathisch, also fragte sie diese, ob sie mit ihnen mitkommen wolle. Sie lächelte Tran an, bejahte und packte fertig aus. Dann riefen draußen Philipp und Eric ihre Namen und Kath und Tran gingen vor. Während die vier auf den Rest warteten, tuschelten Kath und Philipp die ganze Zeit miteinander und konnten ihre Finger kaum bei sich behalten. Tran und Eric versuchten, sie nicht zu beachten, und unterhielten sich.

Es waren keine besonderen Themen, aber Tran merkte, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Sie rückte näher an ihn heran und er legte ihr den Arm um die Schultern. Es war nichts Besonderes an dieser Geste, so saßen sie immer da, egal, ob im Pub oder am Lagerfeuer, aber sie fühlte sich sofort geborgen und lehnte den Kopf an seine Schulter. Doch leise Schuldgefühle beschlichen sie, als sie sich wünschte, statt Eric Sirman neben sich zu haben. Schnell verbannte sie diesen Gedanken wieder.

Als die anderen mit Vici und Ana zusammen aus Haus sieben kamen, standen sie auf. Tran suchte Caros Blick und schaute dann fragend zu Ana hinüber. Caro hatte eine leidende Miene aufgesetzt, nickte aber.

Seufzend ging sie auf Ana zu und sagte: „Da du anscheinend mitkommen willst, muss ich dir aber noch sagen, dass wir uns in dieser Gruppe nicht abfüllen oder wilde Partys veranstalten. Außerdem kannst du sofort wieder gehen, wenn du vorhast, uns nur die Ohren vollzujammern.“

Der Blick, mit dem Tran bedacht wurde, war eiskalt, aber Ana nickte. „In Ordnung. Bist du hier die Anführerin?“

Sie widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen und antwortete genervt: „Eher die Einheimische, eine Anführerin gibt es nicht.“

Da keine Erwiderung von Ana kam, drehte Tran sich um und schaute Kath an, wie es der Rest schon die ganze Zeit tat. Kath sagte immer, wo sie als Nächstes hingehen sollten oder was sie jetzt machen könnten – also eigentlich war sie die Anführerin, aber das musste diese Ana ja nicht wissen. Katherine lächelte schief und sagte: „Mir wäre jetzt erst einmal nach einem Drink.“

Als Tran einen Blick zurückwarf, sah sie, dass Ana grinste.

Im Pub war schon einiges los und Tran dachte bei sich, dass die Besitzer Lilly damals sicherlich auch unterstützt hatten, denn im Sommer florierte ihr Geschäft natürlich noch mehr. Sie bestellte sich ein Colabier und schmiegte sich wieder an Eric. Er erzählte dem Tisch gerade, wie seine kleine Schwester ihm den letzten Nerv raubte, indem sie ihn entweder in seinem Zimmer einsperrte oder seine Hausaufgaben mit Wasser übergoss. Sie alle mussten lachen, als Philipp die Szenen nachspielte, von denen sein Bruder berichtete.

So ging es den ganzen Nachmittag, bis Tran einschritt, als sie sah, dass Ana sich bereits das fünfte Bier bestellen wollte.

„Kommt, lasst uns zu unserem Platz gehen und ein Lagerfeuer anmachen. Dann holen wir Marshmallows und machen es uns gemütlich.“ Der Vorschlag traf überall auf Zustimmung außer bei Ana, was sie allerdings nicht kümmerte.

Sie teilten sich vor dem Pub auf. Marina und Melissa gingen zu Haus sieben zurück und holten ihren Mitbewohnern ein paar Sachen, die diese haben wollten. Philipp und Katherina marschierten zu ihrem Zuhause, um Holz für das Feuer zu holen, Tran machte sich mit Vici zu ihrem Wohnwagen auf, um die Zwei-Kilo-Tüte Marshmallows, die Tran erst vor Kurzem gekauft hatte, herbeizuschaffen, und Eric wanderte mit den Übrigen schon einmal auf die Wiese zu ihrem Platz. Es gab einen kleinen Lagerplatz auf den Wiesen, der von etwas Gestrüpp und halb verfallenen Mauern, die die Landschaft hier prägten, umgeben war, sodass man dort unbehelligt feiern konnte. Nur ein paar Meter weiter standen die Schafe des Dorfes und weideten.

Auf dem Weg zu ihrem Wohnwagen, als sie gerade an der großen Kirche St. Patrick vorbeigingen, rief Lilly nach ihnen. „Transca, Victoria, wartet mal kurz!“ Sie drehten sich um und sahen die Leiterin der Feriensiedlung auf sich zueilen. „Ich muss mit euch reden. Könnt ihr eurer Gruppe Bescheid sagen, dass wir jeden Dienstag einen Karaoke-Abend im Pub machen? Ich habe gerade das Einverständnis von George bekommen. Das wird so ein Spaß!“, teilte sie den beiden Mädchen etwas atemlos mit. Sie grinste sie breit an, als diese nickten, warf ihnen Luftküsse zu und verschwand dann in die andere Richtung.

Die Mädchen schauten einander an und fingen gleichzeitig an zu lachen. Lilly war einfach drollig. Sie schlenderten an der St.-Patricks-Kirche vorbei und kamen bald am Wohnwagen an. Dort suchte Tran erst mal die Marshmallows, denn Robin hatte sie wieder verlegt. Als sie sie gefunden hatte, trat sie wieder zu Vici. Diese nahm ihr schweigend ein paar Tüten ab und sie gingen gemeinsam hinaus auf die Wiesen, wo versteckt hinter einer hohen Hecke der Lagerplatz war. Die anderen waren bereits vollzählig versammelt und das Feuer loderte schon.

„Hier kommt euer Essen, leider nicht auf Rädern, aber auf Beinen“, rief Vici.

Sie lachten und machten sich über die Marshmallows her. Anschließend kuschelten sie sich unter ein paar Decken zusammen und redeten.

Es kann einem wohl seltsam erscheinen, dass so viel geredet wurde, aber man muss sich ins Gedächtnis zurückrufen, dass die Freunde sich seit einem Jahr nicht gesehen hatten, und auch die Neuankömmlinge mussten natürlich von sich und ihrem Leben erzählen. Erst als es schon lange Zeit dunkel war, kam Tran dazu, ihnen die Nachricht von Lilly zu übermitteln. Und prompt ging das Gestöhne los. Karaoke-Abende waren anscheinend für Victoria und Lysana total schlimm und peinlich, dabei wussten sie nicht einmal, dass es bei solchen Veranstaltungen eine Liveband gab, der Text von einfachen Blättern abgelesen und bloß Volksmusik und Irish Folk gespielt wurde. Als Caroline und Katherina es ihnen schließlich erzählten, wurde die Verzweiflung bei Lysana nur noch größer, doch seltsamerweise schien diese Neuigkeit Victoria kaum zu schocken.

Daraufhin wurden Kath und Tran gebeten, ein paar dieser Volkslieder mit ihnen zu singen, damit sie alle etwas üben konnten. Die beiden dachten nach und entschieden sich dann für Whiskey in the Jar, das ziemlich bekannt war, und alle stimmten nach kurzem Zögern ein. Lauthals singend saßen sie an einem Lagerfeuer mitten in der Wildnis und genossen den Sommer.

Tran merkte allerdings, dass Vici, die neben ihr saß, nicht mit einstimmte, sondern lediglich den Mund bewegte. Sie runzelte die Stirn und beschloss, sie darauf anzusprechen. Man hörte den Einzelnen doch nicht heraus, wieso also sollte sie sich schämen?

Die Stimmung hatte sich durch die Einlage beträchtlich gebessert und sie gingen zum Witzeerzählen über. Tran lag an Eric gelehnt da und fühlte sich im Kreis ihrer Freunde geborgen und wohl. Doch dann schob sich ein Paar grüner Augen in ihre Gedanken und sie wollte nichts sehnlicher, als dass Sirman hier zwischen ihren Freunden saß und sie sich an ihn lehnen konnte. Nicht, dass Eric nicht eine gute Alternative war, aber er war eben bloß ihr Kumpel. Bestürzt bemerkte sie, dass sie nicht mehr in ihn verliebt war. Dieses Gefühl war so sehr Teil von ihr geworden, dass sie sich automatisch eingebildet hatte, es noch immer zu besitzen, doch dem war nicht so.

Sie spürte kein Kribbeln mehr auf der Haut, wenn er sie berührte, und hatte keine Schmetterlinge im Bauch, wenn sie ihn sah oder nur an ihn dachte. Doch nach der Bestürzung darüber befiel sie Erleichterung, denn es war um einiges angenehmer, ohne dieses Gefühl zu leben.

Mit Sirman war das etwas ganz anderes, denn seine Berührung verursachte nicht nur ein Kribbeln, sondern ein Brennen. Und sie hatte keine Schmetterlinge im Bauch, sondern Raketen. War das zu glauben? Sie hatte sich Hals über Kopf in einen Jungen verliebt, mit dem sie höchstens eine Stunde verbracht hatte, aber sie spürte einfach tief in sich drin, dass er der Richtige war. Sie fing leicht an zu zittern, als sie an seinen Kuss dachte, an die verführerische, leise Stimme und sein tolles Lächeln. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und wieder zu der Lichtung gerannt.

Da rüttelte sie jemand an der Schulter. „Tran? Bist du eingeschlafen? Ist alles in Ordnung?“ Es war Eric.

Sofort setzte sie sich auf. Tatsächlich hatte sie die Augen geschlossen und es hatte wohl so ausgesehen, als schliefe sie. „Nein, ich hab nicht geschlafen, bloß nachgedacht, tut mir leid“, beantwortete sie die Frage. Sie sah auf den Gesichtern ihrer Freunde die Lachtränen glitzern und grinste. „Welchen Witz habe ich verpasst?“, fragte sie mit betont munterer Stimme. Da sahen sie neun Gesichter fassungslos an. Sie blinzelte. „Was ist denn? Was habe ich denn noch verpasst?“

Eric antwortete ihr, seine Stimme klang belegt: „Vici hat uns gerade erzählt, was sie hergeführt hat. Ihre Schwester ist hier verschwunden.“

Trans Augen wurden groß, sie sah zu Vici und begriff, dass es keine Lachtränen auf den Gesichtern ihrer Freunde waren, sondern Tränen des Mitleids und der Trauer. „Es tut mir leid, wirklich, ich hatte ja keine Ahnung.“ Kaum merklich nickte Vici und gab ihr damit zu verstehen, dass es nicht so schlimm war. Sie seufzte erleichtert auf.

Dann berührte Eric sie zart an der Schulter, sie sah auf und er fragte: „Sollen wir mal ein Stück gehen, damit deine Durchblutung wieder angeregt wird?“

Sie nickte und folgte ihm mit einem an ihre Freunde gerichteten „Wir sind gleich wieder da“.

Sie gingen, bis das Feuer nur noch in der Ferne zu erkennen war.

„Was hast du auf dem Herzen, Eric, dass du mich hierher verschleppst?“, fragte sie, als er langsamer wurde, und blieb stehen.

Er drehte sich um und grinste. „Du kennst mich viel zu gut.“ Sie schmunzelte ebenfalls. „Ich wollte wissen, was mit dir los ist. Du kommst mir so verändert vor. Und schieb es nicht auf die lange Zeit, die wir uns nicht gesehen haben, daran liegt es nicht.“

Er kannte sie ebenfalls zu gut ... Sie beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. Lügen konnte sie nicht ausstehen. Mit fester Stimme erwiderte sie: „Mit mir ist nicht sonderlich viel los, außer dass ich in den letzten Tagen andauernd irgendwo dagegengerannt bin und immer das Gefühl hab, in einer anderen Umgebung zu sein. Noch dazu habe ich im Wald einen Jungen getroffen und mich total in ihn verliebt, denn er hat mich zum Abschied geküsst und ist gleich darauf im Wald verschwunden. Es ist also nichts wirklich Besonderes außer einer gewissen Verwirrung.“

Er starrte sie an und schien ebenfalls irritiert zu sein. Was immer er erwartet hatte, diese Erklärung war es wohl nicht gewesen. „Ein Junge? Er hat dich geküsst? Warum? Wer? Wieso bist du in ihn verliebt? Kennst du ihn überhaupt?“ Er stammelte die Fragen unkontrolliert vor sich hin und sie wünschte sich, sie wäre nicht mit ihm mitgegangen. Dass er sich auch immer die pikantesten Themen heraussuchen musste.

„Sirman hat mich geküsst, nachdem wir gepicknickt hatten, und während dieser Zeit habe ich mich in ihn verliebt. Ich weiß, das hört sich verrückt an, deshalb bin ich ja so verwirrt.“

„Aufgrund eines Kusses? Wegen eines Kusses verliebst du dich?“

Nun schien er regelrecht wütend zu sein und sie fragte sich, was das werden sollte. Er war ein Kumpel und hatte gewollt, dass sie ihm ihr Herz ausschüttete, was sie gerade getan hatte. Wo lag das Problem und wieso stellte er so viele Fragen? Ein entsetzlicher Verdacht beschlich sie, doch sie schob den Gedanken ganz weit von sich. Das konnte nicht sein.

Doch was er dann tat, bestätigte den Gedanken und ließ ihr Hirn erstarren. So war sie zu nichts anderem fähig, als sich an ihn zu schmiegen, weil er auf sie zukam und sie leidenschaftlich küsste. Ihr Körper, der von ihrem Geist losgelöst zu sein schien, küsste ihn zurück und presste sich fest an ihn. Ihr Gehirn derweil taute langsam wie nach einer Schockfrostung auf und versuchte, mit dem Gedanken fertig zu werden, dass Eric in sie verliebt war. Dass er sie küsste!

Es war einfach unfassbar. Komplett falsch. Sie wollte nichts von ihm, wie ihr schlagartig bewusst wurde. Es fühlte sich schrecklich falsch an. Unvermittelt übernahm ihr Geist wieder die Kontrolle über ihren Körper, trat einen Schritt zurück und stieß ihn von sich.

„Wie konntest du? Natürlich liebe ich dich, aber doch eher wie einen Bruder als einen Freund, mit dem ich knutschen möchte. Ich dachte, das wäre dir inzwischen klar. Ich kann das nicht! Ich bin nicht Kath und du nicht Philipp! Wie konntest du mein Vertrauen nur derart missbrauchen?“, rief sie entsetzt. Dann drehte sie sich um und lief zurück zum Feuer.

Eric hingegen war ebenfalls schockgefroren. Seit Transca ihm das von diesem Sirman, oder wie dieser Wicht hieß, erzählt hatte, fühlte er Eifersucht und Wut. Wenn sie sich bloß aufgrund eines Kusses verliebt hatte, hätte er schon so oft mit ihr zusammen sein können. Wie Philipp und Kath. Als sie ihn von sich stieß, wusste er nicht mehr, wieso er das getan, sie geküsst hatte.

Ihre Worte trafen ihn tief, da er wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Wollte er jemals wie sein kleiner Bruder sein? Nein, ganz sicher nicht. Er erforschte seine Gefühle für sie näher und erkannte, dass es wirklich bloß Geschwisterliebe war, wie sie gesagt hatte, und die Eifersucht eher der Drang war, sie zu beschützen. Sie vor einem Jungen zu beschützen, der sie ihm wegnehmen konnte. Er hatte komplett überreagiert.

Wie konnte er sich dermaßen irren? Er konnte nicht verstehen, dass er so die Kontrolle verloren hatte. Sie war doch seine Tran, seine kleine Schwester, die er seiner echten kleinen Schwester vorzog.

Als er realisierte, dass sie ihm nun nie wieder trauen würde, ihn nie wieder an sich heranlassen würde, sank er in die Knie. Was hatte er da angerichtet? Ein schweres Gewicht drückte auf seine Schultern, eine riesige Schuld. Unwillkürlich brach er in Tränen aus. Es waren Tränen der Scham und sie brannten auf seinen Wangen. Nie hatte er das gewollt. Ihr Vertrauen war ihm doch das Wichtigste auf der Welt. Schon immer!

Irgendwann versiegten die Tränen und er richtete sich auf. Er schämte sich auch für sein Weinen, aber er hatte es nicht zurückhalten können. Langsam ging er zum Feuer zurück und hörte schon bald das fröhliche Lachen der Clique. Als er in den Lichtkreis trat, sah er Tran. Sie saß auf der Decke und lachte mit den anderen, als sei nichts geschehen. Dieser Anblick gab ihm Kraft und er trat dichter an das Feuer heran.

Tran bemerkte, wie er von hinten ankam, und machte ihm Platz auf der Decke. Wie selbstverständlich setzte er sich hin und legte ihr den Arm um die Schultern. Für die anderen sah es sicher aus wie immer, aber sie spürte, dass er ihre Schulter kaum berührte und total verkrampft war.

Da lehnte sich von der anderen Seite Lysana, die mit Victoria den Platz getauscht hatte, an Tran, schloss die Augen und schlief ein. Sie schien ziemlich erschöpft zu sein, wenn sie sogar hier einfach einschlafen konnte, aber auch Marina gähnte bereits ununterbrochen. Also stand Kath nach kurzer Zeit auf, trat den kläglichen Rest des Feuers aus und weckte Ana. Die Gesellschaft rekelte sich und packte ihre Sachen zusammen.

Tran war froh um das Ende des Abends. Sie konnte es nicht ertragen, so nahe bei Eric zu sitzen. So gingen sie alle zusammen zurück und verabschiedeten sich voneinander, bevor sie sich in ihre Betten verzogen.

Waldlichter

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