Читать книгу Waldlichter - A. V. Frank - Страница 14
Kapitel 4
ОглавлениеEin Sonnenstrahl kitzelte mich im Gesicht und ich schlug schläfrig meine Augen auf. Verwirrt blinzelte ich, denn einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich mich befand. Doch dann fiel mir wieder ein, dass ich das Erbe meiner Schwester endlich angetreten hatte. Ich war in Irland. Und das Projekt von Pan beinhaltete nur, die Umwelt hier zu untersuchen und eventuelle bisher unbekannte Verstöße oder Abnormalitäten aufzudecken, das hieß, ich hatte genügend Zeit, das zu tun, wovon ich schon immer geträumt hatte.
Meine Zimmergenossinnen schliefen noch seelenruhig, wie ich undeutlich wahrnahm, als ich mich in unserem Zimmer umschaute.
Ana bewegte sich unruhig im Schlaf. Ich konnte nicht verstehen, warum sie so über das Zimmer geschimpft hatte. Aber sie hatte schon im Bus nur gezetert und gemault. Kopfschüttelnd drehte ich mich auf die Seite und schloss die Augen. In dieser süßen, überschaubaren Kleinstadt war das Leben so ungewohnt ruhig und persönlich. Das war tröstlich für mich und ich genoss es in vollen Zügen. Auch gestern Abend am Lagerfeuer war es mir gewesen, als ob wir uns alle schon Ewigkeiten kannten, es war wie eine Heimkehr. Allerdings war ich sehr neugierig, was das Leben von Tran betraf, die anscheinend die letzte einheimische Jugendliche dieses Dorfes zu sein schien. Sie näher kennenzulernen schien interessant zu werden.
Meine Neugierde war kaum zu stillen – etwas, was mich innerhalb von Pan schnell nach oben gebracht hatte. Bei dem Gedanken an die Organisation, Elisabeth und John verfinsterte sich meine Laune und ich knirschte mit den Zähnen.
Da hörte ich Caro flüstern: „Ist schon jemand von euch wach?“
Ich richtete mich auf und raunte ihr zu: „Ja, weißt du, wie spät es ist?“
Ich hörte sie auf ihrem Bett herumkriechen. „Mist, es ist schon Viertel vor zehn und um halb elf wollten wir uns doch vor St. Patrick’s treffen!“
Ich konnte nur farbige Schemen ausmachen, weswegen ich nach meiner Brille tastete. Als ich sie endlich gefunden und aufgesetzt hatte, sah ich, dass Caro mich anstarrte. „St. Patrick’s? Ist das die Kirche? Was schaust du so?“, fragte ich schnell, während ich aufstand und mich streckte.
„Ja, ist es. Hast du mich vorhin überhaupt gesehen?“, antwortete sie.
Ich versuchte, freundlich zu bleiben, doch meine Stimme hatte einen bissigen Unterton. „Ich habe dich undeutlich erkannt, bin aber noch nicht blind, falls das deine nächste Frage sein sollte.“ Betreten schaute sie zur Seite.
Als ich mich an die Uhrzeit erinnerte ‒ mein Gehirn streikte wohl noch etwas ‒, nahm ich mich zusammen und rief laut: „Mädels, aufwachen, es ist helllichter Tag und wir sind in einer Dreiviertelstunde mit den anderen verabredet.“ Ich warf meine Kissen auf diejenigen, die das Pech hatten, in meiner Nähe zu liegen. Mit den Hausregeln nahm es hier offensichtlich keiner so ernst, denn es war gestern Abend sicherlich schon nach zwei Uhr gewesen, als wir hier ankamen, obwohl doch um zwölf Bettruhe war. Das befriedigte mich genauso sehr wie die fluchenden, verschlafenen Mädels, die mich böse anfunkelten. Doch dann warfen sie alle zusammen die Kissen zurück zu mir, drehten sich um und machten die Augen wieder zu.
Caro, die bisher geschwiegen hatte, prustete los und sagte: „Ich weiß ja nicht, wie das mit Ana ist, aber den Rest bekommst du nur auf eine Weise wach.“ Sie grinste verschwörerisch, ging ins Badezimmer und kam mit tropfnassen, kleinen Handtüchern zurück, die sie jedem Mädchen ins Gesicht klatschte. Dann warf sie mir eines zu und verkündete: „Ich geh als Erste duschen.“ Damit verschwand sie im Bad.
Aber die Handtücher zeigten Wirkung. Alle Anwesenden rappelten sich unter viel Stöhnen und Fluchen auf, sahen auf die Uhr und riefen dann: „Vici, wir haben bloß noch eine halbe Stunde Zeit, wieso hast du uns nicht eher geweckt?“
Ich versuchte erst gar nicht, etwas zu erklären, sondern verschwand sofort im Bad, als Caro rauskam. Dort atmete ich einmal auf, bevor ich in die Dusche stieg. Das Wasser machte mich endgültig wach. Nachdem ich mich komplett gereinigt und geschminkt hatte, ließ ich Ana ins Bad.
Nach und nach wurden aus zerknitterten, verschlafenen Jugendlichen müde, aber gestylte junge Frauen. Um halb elf kam Lisa, die als Letzte das Bad benutzt hatte, heraus und wir eilten zu der Kirche. Fünf Minuten später waren wir angekommen, doch es war niemand zu sehen. Nach kurzer Zeit jedoch watschelten zwei erschöpfte Gestalten auf uns zu. Es waren Philipp und Eric. Ein paar weitere Minuten vergingen, bis auch eine zerknautschte Transca, die etwas von „Verschlafen“ murmelte, zu uns trat. Wir schwatzten leise, aber es wollte kein richtiger Schwung in uns kommen, also beschlossen die Jungs, wir sollten zu Kath gehen und sie aus den Federn schmeißen. Ihr Haus, in dem sie alleine lebte, lag nahe dem Zaun, der das Dorf umgab.
Wir klopften an die Tür, klingelten und riefen ihren Namen, ohne eine Antwort zu bekommen. Als wir gerade beschlossen hatten, dass Melissa, die die schmalste und zierlichste von uns war, durch ein kleines, geöffnetes Fenster klettern sollte, das im Erdgeschoss lag, bog Kath um die Ecke. Sie war völlig verschwitzt und trug einen Trainingsanzug.
„Was macht ihr denn alle hier?“ Verständnislos sah sie uns an, doch dann wurden ihre Augen groß. „Oh Mist, stimmt ja, wir wollten uns treffen, tut mir leid! Ich war im Wald trainieren, wartet einen Moment, ich geh duschen und zieh mir was Ordentliches an, dann komme ich.“
Also warteten wir und fragten uns in der Zwischenzeit, was wir überhaupt unternehmen wollten. Wir teilten uns in zwei Gruppen auf. Die eine wollte nach Roundstone, eine kleine Stadt in der Nähe, fahren, die andere durch den Wald an den Strand gehen. Kath, Lisa, Melissa und Philipp fuhren shoppen, Caro, Marina, Ana ‒ was mich sehr erstaunte ‒, Eric, Tran und ich gingen zum Strand. Dort konnte ich dann auch mit meiner Arbeit für Pan anfangen.
Also kehrte unsere Truppe zu den Wohnungen zurück und sammelte Bikinis, Handtücher und Sonnencreme ein, man konnte schließlich nie wissen, wie das Wetter noch werden würde. Eine halbe Stunde später kämpften wir uns durch das dichte Gestrüpp am Rand und betraten den Wald, den ich auf der Stelle mochte. Er war von Trampelpfaden durchzogen, es standen nirgends Bänke oder sonstige Dinge, die nicht in den Wald gehörten, er war komplett naturbelassen und verwildert. Überall sangen die Vögel und es knackte im Unterholz. Hier würde ich bestimmt keine Story für Pan finden, was mich jedoch nicht störte. Was mir besonders gefiel war, dass es in diesem Wald erstaunlich wenige Dornenranken gab, die man sonst in jedem Laub- oder Mischwald antraf.
Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die anderen lenkte, merkte ich, dass Caro und ich die Einzigen waren, die wirklich entspannt wirkten. Marina eilte voran, sie wollte endlich zum Strand kommen, Eric beobachtete Tran argwöhnisch und nervös, die ihrerseits den Wald mit den Augen durchforstete und eine unverhohlene Sehnsucht in ihrem Blick trug, die ich nicht zuordnen konnte. Ana hingegen schaute mit verstörter Miene in die Bäume hinauf und zuckte bei jedem Vogelruf kaum merklich zusammen.
Ich ging zu ihr hinüber und fragte leise: „Was hast du denn? Stimmt etwas nicht?“
Sie zuckte erschrocken zusammen, sagte dann aber mit lauter, klarer Stimme: „Was soll mit mir sein? Lass mich in Ruhe, in Ordnung?“ Dann warf sie das Haar in den Nacken und marschierte weiter.
„Du musst aufpassen, dass dir kein Wildhase über den Weg läuft, du würdest vor Schreck tot umfallen, wenn du schon vor den Vögeln solche Angst hast!“, rief ich ihr hämisch hinterher. Es war nur eine Vermutung, dass es die Vögel waren, die sie ängstigten, aber ich sah, dass sie zusammenzuckte, als sie meine Worte vernahm.
Sie wirbelte herum und schaute mich kampflustig an. „Wenigstens brauch ich keinen Blindenstock, um die Vögel zu sehen, du blinde Irre!“
Das saß, aber ich hatte gesehen, wie sie auf ihrem Nachttisch heute Morgen nach ihrer Brille getastet hatte, die sie immer trug, bis sie die Kontaktlinsen einsetzte.
„Die blinde Irre schämt sich aber nicht zuzugeben, dass sie eine Brille braucht, im Gegensatz zu solch oberflächlichen, falschen Zicken wie dir, die Linsen benutzen und dann über andere herziehen.“
Wir waren beide laut geworden. Doch jetzt trat Tran zwischen uns und es wunderte mich, dass sie nicht durchbohrt wurde von den feindseligen Blicken, die sich von vorne und hinten auf sie richteten. „Hört jetzt auf, alle beide! Es ist schrecklich, auf eine Brille oder Linsen angewiesen zu sein. Ich verstehe nicht, wieso ihr überhaupt angefangen habt zu streiten. Also benehmt euch gefälligst wie anständige Leute und hört auf, euch an die Kehle zu gehen, egal, ob tatsächlich oder nur mit Worten, in Ordnung? Ihr seid wie kleine Kinder!“ Auch sie konnte böse schauen und funkelte uns jetzt beide abwechselnd an.
Sie hatte recht, das war mir durchaus klar, aber Ana trieb mich mit ihrer nervigen Bösartigkeit und Überheblichkeit in den Wahnsinn. Trotzdem schämte ich mich für mein Verhalten, einen guten Eindruck bekamen die anderen so nicht von mir.
„Du hast recht. Ich wollte bloß nett zu ihr sein, aber wenn sie das immer falsch versteht ...“, gab ich klein bei und schritt ohne ein weiteres Wort voran. Als ich an Ana vorbeiging, sah ich, wie sie nickte.
Bald herrschte wieder die gewohnte Stimmung und nach etwa zwanzig Minuten kamen wir am Strand an. Der salzige Wind spielte mit meinem Haar und ich schloss genießerisch die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich nur Meer, Sonne und Möwen. Es schien mir, als ob einer dieser Vögel auf uns zuflog und uns, als er sich auf einen Felsen gesetzt hatte, beobachtete. Wahrscheinlich ging mal wieder meine Fantasie mit mir durch. Ich verdrehte genervt die Augen. Das war so typisch für mich!
Die anderen hatten ihre Handtücher bereits ausgebreitet und sich daraufgelegt. Sie unterhielten sich über Bikinimoden und ihre persönlichen Vorlieben. Das interessierte mich nicht sonderlich und so döste ich etwas vor mich hin, nachdem auch ich mich auf mein blaues Handtuch gelegt hatte. Erschrocken zuckte ich zusammen, als mein Handy anfing, Angels von Robbie Williams zu spielen. Dieser Song signalisierte mir, dass John anrief. Schnell kramte ich das Telefon heraus und ging dran. „Hey John, wie geht’s dir?“, fragte ich, nachdem er sich mit einem „Hey Vici“ gemeldet hatte.
„Ganz gut, und dir? Wie ist es in Irland? Interessant für Pan?“, nuschelte er.
„Mir geht’s super. Ich liege gerade am Strand und entspanne. Und es ist toll hier, allerdings ist für Pan wohl nichts zu holen, so wenig Umweltverschmutzung habe ich erst sehr selten gesehen. Was machst du so?“
„Na ja, halt trotzdem die Augen offen, vielleicht stößt du ja doch noch auf eine gute Story. Ich mache eigentlich nichts, hatte aber Sehnsucht nach dir.“
Ich lächelte traurig. „Ich vermisse dich auch. Mit dir wäre ...“ Weiter kam ich nicht, denn aus dem Handy tönte in diesem Augenblick unmissverständlich die Stimme einer Frau, die ich nur allzu gut kannte und die sich in diesem Moment endgültig meinen Hass zuzog.
„Johnny, kommst du bald wieder zu mir ins Bett? Sonst wird mir so kalt, dass ich was überziehen muss“, schnurrte Elisabeth und gab ein schmatzendes Kussgeräusch von sich.
Fassungslos betrachtete ich das Handy, das auf einmal Tonnen zu wiegen schien. Was sollte das? Erst mein Rauswurf aus dem Vorstand, dann die Verpflichtung, diese Reise zu unternehmen und jetzt Elisabeth in seinem Bett? Ich fasste es nicht! Aber das würde er doch nicht machen, das konnte er nicht machen! Oder? Konnte ich es mir wirklich vorstellen, dass er mich mit Elisabeth betrog?
Mein Gesicht war wahrscheinlich ein einziges Fragezeichen. Aber dann erinnerte ich mich an den Streit wegen Pan und mir kam der schreckliche Verdacht, dass er mich schon seit Langem nur noch benutzt hatte, bis er einen würdigen Ersatz gefunden hatte.
Dann hörte ich wieder seine Stimme, zwar gedämpft, aber klar verständlich, und mir fuhr ein schmerzhafter Stich durchs Herz. „Ich komme gleich, Zuckerschnecke, ich muss nur schnell was klären.“
Es war gut, dass ich schon lag, denn ansonsten wäre ich jetzt umgekippt. „John, kannst du mir mal bitte erklären, was da los ist? Elisabeth? Geht’s noch? So viel zum Thema, dass mein Platz während meiner Abwesenheit unbesetzt bleibt!“
Ich hörte, wie er leise fluchte, und dann deutlicher sagte: „Äh, das ist ein Missverständnis, wir müssen nur ein paar Sachen durchsprechen, aber mehr läuft da nicht. Und wieso sollte dein Platz von ihr eingenommen werden?“
Ich hörte die Lüge klar und deutlich und spürte gleichzeitig, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Dass es bald enden würde, hatte ich gewusst, es lief schon seit Monaten nicht mehr richtig zwischen uns, aber dass das Ende so eine Demütigung beinhalten könnte, hätte ich nie vermutet.
„John, was soll das? Bitte, sei wenigstens ehrlich. Wenn du jetzt was mit Elisabeth hast, dann sag es einfach. Wenn du mich nicht länger im Vorstand von Pan haben möchtest, dann gib es zu. So hat das doch keinen Sinn mehr.“ Meine Stimme war ruhig und mein Kopf wie leer gefegt. Undeutlich nahm ich wahr, dass die anderen mich beobachteten und verstummt waren.
„Mensch, Vici, so ist es doch überhaupt nicht! Mit dem Vorstand von Pan hat das doch überhaupt nichts zu tun, ich habe dir doch schon erklärt, weshalb du dich erst wieder beweisen musst. Bitte, glaub mir, Pan wird dich wieder brauchen, wenn du in ein paar Wochen zurückkommst.“
„Ach ja? Das hörte sich aber letztens noch ganz anders an. Aber Pan ist mir im Moment ziemlich egal, was läuft zwischen dir und Elisabeth?“
„So, dir ist Pan also egal? Das ist genau die Einstellung, deretwegen wir beschlossen haben, dich auf diese Reise zu schicken. Wir wussten ganz genau, dass die Umwelt dort sauber ist, weil wir vor einigen Jahren eine große Aktion am Start hatten ... bevor ihr hergezogen seid. Das sollte dir verdeutlichen, was unsere Organisation erreichen kann, aber jetzt kommst du daher und verkündest, dass dir das Wohl der Pflanzen und Tiere sowie Pan völlig egal sind!“
Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. „Wieso habe ich bisher noch nie gemerkt, dass du ein notorischer Lügner bist, John? Ich habe unsere Archive durchgearbeitet, sämtliche Aktionen thematisiert und katalogisiert, um in den Vorstand zu kommen und mich als würdig zu erweisen. Das hättest du nicht vergessen sollen bei deiner verzweifelten Suche nach einer Ausrede. Es gab hier nie eine Aktion von Pan, die Organisation war in dieser Gegend vollkommen inaktiv. Deine Lügen heißen für mich also im Klartext, dass Pan mich nicht mehr haben möchte. Gut, meinetwegen, ich trete aus und kehre euch den Rücken. Reicht euch mein Wort darauf oder muss ich das noch schriftlich machen?“
„Nein, uns reicht das vollkommen.“
„Schön, wieso wundert mich das nicht? Ach, und zu der Sache mit Elisabeth ... Macht, was ihr wollt, es interessiert mich nicht länger. Es ist aus zwischen uns, John! Auf jemanden wie dich kann ich wirklich verzichten. Auf Nimmerwiedersehen!“ Ich legte auf.
Meine Hand umklammerte das Handy so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, woraufhin ich bewusst langsam meinen Griff löste. Ich hatte soeben mit einem Teil meines Lebens komplett gebrochen. Seltsamerweise machte es mir nicht so viel aus, wie ich vermutet hätte. Tatsächlich fühlte ich mich seltsam befreit.
Erst als mich Hände an den Schultern berührten, merkte ich, dass die anderen versuchten, mich zu trösten. Ich sah nacheinander in ihre Gesichter, Transca, Caroline, Marina, Ana, selbst Eric. Die meisten wirkten etwas verwirrt und stellten sich bestimmt gerade tausend Fragen, die ich nicht gewillt war zu beantworten. Einzig Ana musste sich ein Grinsen verkneifen und ich vermutete, dass sie gerade daran dachte, dass sie mit viel mehr Stil mit irgendeinem Jungen Schluss gemacht hätte. Andererseits – das war John gewesen, Stil war in seinem Leben ein Fremdwort. Selbst unser erstes Date hatte keinen Stil gehabt, in einem schäbigen Pub bei einem ranzigen Ale zu sitzen und zu beobachten, wie betrunkene Gestalten ein- und austorkelten, zeugte nicht unbedingt von hohem Niveau.
Ich musste auf einmal lachen. „Macht euch keine Sorgen, er ist es nicht wert, dass ich mir von ihm auch nur eine Minute länger meinen Urlaub vermiesen lasse“, erklärte ich fröhlich.
Sie tauschten zweifelnde Blicke und Tran murmelte etwas, das sich nach „Was muss das nur für ein Arschloch gewesen sein“ anhörte, stand dann aber auf und legte sich wieder auf ihren Platz. Die anderen folgten ihrem Beispiel und ich löschte alle Nachrichten von John, sogar seine Nummer. Eine leise Wehmut übermannte mich, aber ich verbannte sie schnell. Dieser Urlaub gehörte momentan nur mir, nicht Pan, nicht John, ganz einfach nur mir.
Nach einer Weile der Stille, die nur hin und wieder von ein paar Möwen durchbrochen wurde, ertönte auf einmal ein lautstarkes Knacken und Krachen im Wald hinter uns, was uns heftig zusammenfahren ließ. Doch nichts regte sich und so wandten wir uns bald wieder unserem Spiel zu, Mensch ärgere dich nicht, das Marina mitgebracht hatte.
Allerdings erschien es mir des Öfteren danach so, als ob ich leise, melancholische Musik aus dem Wald hören würde, ich drehte mich andauernd um und blickte aufmerksam unter die Bäume.
Ich merkte, dass auch Tran immer wieder hinsah, und runzelte verwirrt die Stirn. Hörte sie die traurige Musik auch? Ana schaute sich ebenfalls von Zeit zu Zeit unbehaglich um und war nicht wirklich konzentriert. Als ich schließlich Eric meine Figuren abgab und aufstand, um nachzusehen, bedachte sie mich mit einem verwirrten Blick. Ich ignorierte diesen und trat unter die flüsternden Baumkronen.
Zunächst nahm ich nichts Ungewöhnliches wahr. Ich war schon etwa 100 Schritte gegangen, hörte aber keine Musik und sah niemanden, der in der Nähe gewesen wäre. Auf einmal verspürte ich ein Kribbeln im Nacken und fuhr herum. Immer noch sah ich niemanden, doch es schien mir, als ob ich weit entfernte Flötentöne wahrnähme. Ein Rauschen erhob sich und das Gefühl verstärkte sich, dass ich beobachtet wurde. Ich drehte mich so oft um die eigene Achse, dass ich dachte, mir würde gleich schwindelig werden, weil ich versuchte, die Herkunft der leisen Melodie zu orten, doch es gelang mir nicht einmal, genau festzustellen, ob es wirklich Flötentöne oder doch nur fernes Gezwitscher war, was ich vernahm.
Dann hörte ich eine Frau sprechen, die sich anhörte, als ob sie am Lachen, Singen und Reden gleichzeitig wäre. „Du brauchst nicht beunruhigt zu sein, Victoria, in deiner Nähe ist keiner.“ Ein seltsames Echo hing in der Luft, doch meine aufgewühlten Gedanken legten sich und ich wurde automatisch ruhiger. „Da bist nur du und der leere Wald voller Geheimnisse. Du bist auf der Suche nach deinem Schicksal und dieses ist eng verbunden mit diesem Wald. Also lausche.“
Nun ließ die Stimme, die aus den Bäumen und der Erde zugleich zu kommen schien, eine sanfte Melodie erklingen und sprach in einem den Tönen angepassten Singsang folgende Worte: „In der Nacht, die Mendelssohn-Bartholdy so wunderschön vertont hat, kommen drei zusammen, die von meinem Geschlecht bestimmt werden, und sie werden wichtiger sein für die Toúta, als diese je glauben könnten. Sie werden sie an dem Ort finden, der viele verschluckte und nie wieder hergab. Sie sind alle Träumer, verbunden mit der Vitonsadi, und verfolgen verschiedene Ziele, die alle das Gleiche sind, obwohl sie nichts davon wissen. Doch niemals darf etwas unbeachtet bleiben und die Stimmen, wie fremd sie auch scheinen mögen, sprechen oft die Wahrheit. Sie müssen auf der Hut sein und sich in Selbstkontrolle üben, sonst wird das Blut den Boden durchweichen und Herzen werden unwiderruflich stillstehen.“ Hier hielt die Stimme kurz inne und schien zu überlegen. Mit einem traurigen Seufzer fuhr sie fort: „Das Herz spielt einem Streiche und führt vor allem jene in Versuchung, die am stärksten zu sein scheinen. Und doch ist gerade dieses schwache Ding jenes, welches mit der Wahrheit am besten vertraut ist.“ Die Stimme in meinem Kopf lachte und es war solch ein wundervoller, reiner Laut, dass ich selbst lächeln musste.
Langsam entfernte sich die Stimme wieder – begleitet von Flötenklängen und fernem Gesang ‒, und als sie endgültig verstummt war, fragte ich mich, was ich mir nun schon wieder eingebildet hatte.
Die Nacht, von Mendelssohn-Bartholdy vertont, woher sollte ich das denn wissen? Wer war dieser Bartholdy? War das nicht ein Komponist? Und auch der Rest war nicht sehr aufschlussreich gewesen. Das Herz spielte einem Streiche? Ach was. Nur gut, dass kein Druck bestand, es konnte ja bloß blutig enden ... Nur für wen?
Kopfschüttelnd machte ich mich auf den Weg zurück zum Strand.
Unbemerkt stieß ich wieder zu den anderen, die erschrocken zusammenfuhren, als ich auf einmal hinter ihnen stand. Ich lachte und setzte mich dazu. Als ich sah, dass Eric mit meinen Figuren gerade gewann, fieberte ich aufgeregt mit. Leider wurde er direkt vor dem Ziel von Ana geworfen und wir stöhnten unisono auf. Sie freute sich natürlich und gewann das Spiel schließlich auch.
Plötzlich kam Caro an und bewarf uns alle mit Sand. Wir schrien durcheinander und lieferten uns eine regelrechte Sandschlacht. Wir benahmen uns wie kleine Kinder und es machte ungeheuren Spaß, nicht erwachsen sein zu müssen.
Schließlich buddelten wir Tran im Sand ein und formten ihr den Körper einer Meerjungfrau, ein Motiv, das wir alle begeistert fotografierten. Danach wollten die anderen aber leider mich vergraben und schafften es, indem sich Eric mit voller Wucht auf mich warf, sodass ich auf den Boden fiel und die anderen meine Arme und Beine packten, bis Eric genug Sand über mich geschüttet hatte, dass ich nicht mehr so leicht aufstehen konnte. Doch das wäre alles nicht nötig gewesen, denn ich hatte mich bereits in mein Schicksal gefügt und leistete keinerlei Widerstand.
Der Sand umrieselte zuerst zart, dann immer fester meinen Körper. Ich dachte mir: „Ich verstehe nicht, warum manche Leute so viel Geld für ein Peeling ausgeben, man muss sich einfach nur mit Sand einreiben, das hat denselben Effekt.“
Dann ertönte genau über meinem Kopf Anas Stimme, die sagte: „Mach die Augen auf und bewundere deinen neuen Körper!“
Ich schaute an mir herunter und musste lachen. „So viele Muskeln wollte ich schon immer mal haben.“ Sie hatten mir den Körper eines Bodybuilders geschaffen. Natürlich wurden auch davon viele Fotos gemacht.
Als ich mich endlich von dem schweren Sand befreien durfte, tat ich meine Meinung kund, dass nun Ana an der Reihe sei. Dieser Vorschlag wurde sofort bereitwillig in die Tat umgesetzt. Ihr formten wir den Körper einer großen Ziege und ich wage zu behaupten, dass es davon die meisten Bilder überhaupt gab. Danach verwandelten wir Caroline in einen Baum und Eric erhielt einen Frauenkörper mit zahlreichen Kurven (kaum erwähnenswert, dass das super aussah, oder?).
Dann versank die Sonne langsam im Meer. Wir gingen zurück durch den Wald und waren in komplett gelöster Stimmung, sodass wir nicht hörten oder merkten, wie uns mehrere Schemen lautlos folgten.
Nachdem wir aus dem Wald getreten und in Grettersane angekommen waren, sahen wir die anderen auf uns zukommen, alle mit mindestens einer vollen Tüte. Kath war offensichtlich bei Bench fündig geworden, Lisa und Melissa bei D&G. Anschließend trennten wir uns voneinander.
Ich ging erst einmal mit meinem Handy ins Internet und googelte Mendelssohn-Bartoldy, tatsächlich fand ich auch die besagte Nacht. Er hatte anscheinend den Sommernachtstraum komponiert, was mir allerdings überhaupt nicht weiterhalf, also überlegte ich weiter. Ich nahm es als einfache Sommernacht auf und überlegte weiter. Die Stimme hatte etwas von dreien gesagt. Drei Personen? Drei Dinge? Drei Tiere? Nein, es waren ganz sicherlich Personen gemeint gewesen. Aber wer?
Fremde Stimmen sprechen oft die Wahrheit. Von wem anders als von einer fremden Stimme konnte diese Aussage schon kommen? Aber was bitte war eine Vitonsadi?
Ach ja, und diese drei waren Träumer, was auch immer das bedeuten sollte. Ob es einfach nur hieß, dass sie träumen konnten? Aber nein, das konnte jeder. Vielleicht hieß es, dass sie sich an ihre Träume erinnern konnten. Aber auch das konnten die allermeisten. Vielleicht sollte es auch nur heißen, dass sie unaufmerksam und verträumt waren. Aber selbst davon gab es wahrlich genug.
Sie sollten in einen Wald kommen und eine Toúta – was auch immer das war ‒ finden. Ich nahm einfach an, dass es sich um diesen Wald handelte, also mussten die drei wohl hier in der Nähe sein.
„Aber wieso bekomme ich das gesagt? Wieso nicht Transca, die sich hier so gut auskennt? Die vielleicht sogar weiß, was eine Toúta ist.“ Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Vielleicht sollte ich mich einfach Transca anvertrauen. Sie konnte mir sicherlich helfen herauszufinden, ob diese ... Erscheinungen logisch begründbar oder auf Hirnschäden zurückzuführen waren.
Ich fand sie schließlich, als sie gerade aus St. Patrick’s herauskam. Nachdem sie bemerkt hatte, dass ich anscheinend mit ihr sprechen wollte, kam sie auf mich zu. „Was gibt’s?“, fragte sie mich, als wir voreinander standen.
„Na ja, es ist etwas schwierig auszudrücken. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mir sagen kannst, was ich gegen Gehirnschäden beziehungsweise Halluzinationen machen kann.“
Nun war es an ihr, verwundert zu schauen. „Gehirnschäden? Halluzinationen? Wieso kommst du damit ausgerechnet zu mir, wäre da ein richtiger Arzt nicht besser?“
„Ich brauche keinen Arzt – hoffe ich zumindest –, aber du kennst dich doch im Wald so gut aus, gibt es da irgendwelche seltsamen Kräuter oder Pilze, die Wahnvorstellungen auslösen, wenn man sie riecht? Mir war, als hätte ich eine komische Stimme gehört ...“
Sie sah noch ungläubiger aus. „Was hat diese Stimme denn gesagt?“
Ich druckste etwas herum, berichtete dann jedoch von dem Erlebten. „Sie sagte, ich solle keine Angst haben, sie hat mir ein Rätsel aufgegeben. Es handelte von drei, ich nehme an, Personen, die in den Wald müssen und eine Toúta beschützen sollen, da es ansonsten blutig enden könnte. Sie seien Träumer und würden verschiedene Ziele unbewusst verfolgen und in einer Sommernacht sollen sie in den Wald kommen. Und es klang so, als ob weitere Informationen folgen würden – von einer fremden Stimme. Und ich hatte das Gefühl, dir davon erzählen zu müssen.“ Ich hatte bis jetzt nicht bemerkt, dass sie kreidebleich geworden war, doch nun fragte ich: „Was hast du denn? Du bist ja bleicher als eine weiße Wolke.“
„Hast du auch besondere Träume in letzter Zeit?“, wollte sie wissen, ohne mir meine Frage zu beantworten.
„Na ja, was heißt in letzter Zeit, ich habe seit dem Verschwinden meiner Schwester Träume, die man nicht normal nennen kann. Aber was hat ...“ Ich brach ab, als mir klar wurde, worauf sie da anspielte. Ich wollte jedoch erst sicher sein, bevor ich den Gedanken zu Ende brachte. „Heißt das, du hast besondere Träume? Erzähl sie mir! Es könnte wichtig sein.“
„Ich ... na ja, ich hatte einen Traum, aber das ist eigentlich nichts Besonderes, ich träume öfter. Doch irgendwie war es komisch. Ich habe in meinem Traum durch eine Spalte irgendetwas Heiliges betreten und bin in eine Höhle gegangen. Aber ansonsten kann ich mich an nichts mehr erinnern. Dann bin ich raus aus der Höhle und da stand so eine seltsame Gestalt. Auf den ersten Blick sah sie aus wie ein Mensch, aber da war irgendetwas Übernatürliches an ihr. Sie sah mich erstaunt an, dann blickte ich noch einmal kurz in den Wald und bin aufgewacht. Aber die Person sah mir ziemlich ähnlich und das Seltsamste daran war, dass ich am Tag davor im Wald war und meine Umgebung nicht mehr richtig gesehen habe, sondern einen verschlungenen Pfad vor mir hatte und ein grünes Kleid trug, genau dasselbe, das auch diese Frau getragen hat. Daraufhin bin ich gegen einen Ast gestoßen. In den folgenden Minuten hat sich mein Blickfeld andauernd verzerrt ...“
Sprachlos starrte ich sie an. Sie war vielleicht eine der drei. Ich fragte mich sofort, wer wohl noch dazugehörte. „Ob ich wohl auch ...“, dachte ich, verbot mir den Gedanken aber sofort. So vermessen war ich nicht. Ich hatte keine Lust, die Welt zu retten. Oder eine Toúta ...
„Das ist wirklich seltsam. Ich denke, du bist eine der drei Auserwählten, denn nun bin ich mir ziemlich sicher, dass es Personen sind. Hast du eine Ahnung, wer noch eine sein könnte?“, sprach ich meinen Gedanken aus.
„Nein, echt überhaupt nicht. Kann ich erst mal eine Nacht drüber schlafen? Das ist nämlich total verwirrend und ich brauche Ruhe in meinem Kopf. Vielleicht hast du heute Nacht ja einen Traum, der dir mehr erklärt, oder ich ...“
„In Ordnung, mach das. Dann also bis morgen“, sagte ich kurz angebunden, weil ich schon wieder geheimnisvolle Flötentöne hörte und daher beschloss, dass auch ich Ruhe gebrauchen konnte.
„Bis morgen und schlaf gut!“
Ich nickte, blickte noch einmal kurz zum Wald, der sich als grüne Wand in der Abenddämmerung auftürmte, und verschwand dann in Richtung Ferienwohnungen. Unser Haus war zum Glück leer und so konnte ich mich in aller Ruhe fertig machen. Kurz bevor der Schlaf mich übermannte, bemerkte ich verwundert, dass ich Transca mehr erzählt hatte, als ich eigentlich gewollt hatte, ohne es überhaupt zu merken.