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Prolog

Die Sonne verschwand gerade hinter den Baumkronen, als sich Nicja auf den Weg zum Rja-lehn machte. Die herrschende Dämmerung beeinträchtigte sie nicht, konnten ihre Augen doch selbst in diesem Licht alles genau erkennen. Allerdings achtete sie überhaupt nicht auf ihre Umgebung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert hatte, sondern konzentrierte sich darauf, das Bild fernzuhalten, welches sie seit einer Woche immerzu im Schlaf quälte. Die Duorc hatten den bestehenden Waffenstillstand gebrochen, Nicjas beste Freundin Mijna auf brutale Weise getötet und danach halb verbrannt. Untersuchungen hatten gezeigt, dass die Leiche keinen Tropfen Blut mehr im Körper hatte, was Menschen als mögliche Täter ausschloss und nur die schlimmste Schlussfolgerung zuließ. Mit der Nachricht von Mijnas Tod hatten sich auch Angst und Alarmbereitschaft in ihrer Toúta verbreitet.

Vor vier Jahren hatten erst Kämpfe zwischen den Duorc und den Draugrande stattgefunden und es war dem Feind damals beinahe gelungen, sie auszulöschen. Wenn sie nun erneut ihren Sumpf verließen, konnte das nichts Gutes bedeuten. Deshalb hatte man Nicja als Mycidja nun gebeten, sich an das Rja-lehn zu wenden und dort die Fragen zu stellen, die überall die Runde machten. „Sind die Duorc noch stärker geworden? Wird dies unser Ragnarök? Wird Vara uns weiterhin unterstützen? Können wir gegen die Gefahren bestehen?“

Tatsächlich brodelten im Untergrund und in den Dörfern bereits seit längerer Zeit Unruhe und Zwietracht. So waren die Streitigkeiten zwischen einigen Dörfern neu entbrannt und Friedensverhandlungen zwischen ihnen schienen ohne Ergebnis zu verlaufen. Auch ihre eigene Autorität war nicht unangefochten. Es wurde Zeit, dass die Göttinnen ihr einige Antworten gaben.

Nach einer weiteren halben Stunde sah sie endlich den schmalen Eingang zum Rja-lehn und ließ sich erschöpft auf einem Stein nieder. Bevor sie das wunderschöne, perfekt kreisrunde Heiligtum betrat, musste sie sich innerlich reinigen. Also ließ sie ihre aufgewühlten Gedanken ungestört in ihrem Kopf herumwirbeln, bis diese sich beruhigt hatten. Sie blieb noch eine Weile auf dem Stein sitzen, fühlte die Natur um sich herum und wurde eins mit ihr.

Als sie völlig ruhig und entspannt war, stand sie auf und zwängte sich durch die dünne Spalte, die den Eingang bildete. Das Rja-lehn wurde von einem Ring aus Bergen umgeben, die, auch wenn man fliegen konnte, nicht zu überwinden waren, denn sie waren höher als die Wolken und von wilden Tieren bevölkert, denen selbst die Mutigsten ihres Volkes fernblieben. In diesen Bergen gab es acht Nischen, alle etwa gleich groß, und in jeder stand ein natürliches Podest, auf dem eine Schale ruhte. Die Nische, die dem Eingang des Heiligtums gegenüberlag, war schwarz. Dort gab es das große Orakel von Vara, der Gesamtheit der Göttinnen. Links und rechts davon lagen die Höhlen der sieben Göttinnen. In der Mitte des Kreises aus Orakeln stand ein Obelisk, der aus allen Edelsteinen, die die Welt kannte, bestand. Sie waren miteinander verwachsen und kaum voneinander zu unterscheiden, doch aus den Schriften ihrer Vorfahren wusste Nicja, dass das nicht immer so gewesen war.

Als die ersten Draugrande hier angekommen waren und diese Stelle vorgefunden hatten, schafften sie von allen Edelsteinen der Welt ein Exemplar herbei und errichteten mithilfe ihrer Magie diesen Obelisken. Dieser bündelte von da an die Kräfte der Natur und schützte alles, den ganzen Wald samt den Siedlungen der Draugrande.

Eines Tages aber wollte ein diebischer Sidhe einige der Steine stehlen. Doch als er durch den Spalt gekrochen war, sah er, dass die Nischen, die bisher normale Vertiefungen gewesen waren, angefangen hatten, die Farben der Göttinnen anzunehmen. Aus dem Obelisken hatten sich einzelne Edelsteine gelöst, sich verändert und waren durch den Willen der Göttinnen in die Nischen gelangt, wo sie seitdem die Orakelschalen bildeten.

In der Höhle links des großen Orakels bildete ein Karneol die Schale Midjis’, der Göttin der Liebe und des Lebens. Die gesamte Einbuchtung strömte ein gelbes Leuchten aus. Daneben befand sich das Orakel der Billingra, deren Stein das Katzenauge war, welcher wie der Rest der Höhlung ein braunes Schimmern aussandte. Kein Leuchten ging hingegen von der Nische der Lifrana, der Göttin der Auferstehung und der Pflanzen aus, die einzig von immergrünen Kletterpflanzen bewohnt wurde. Inmitten dieser Pflanzen stand eine wunderschöne Schale aus Smaragd. Blawdes Schrein, der fast direkt neben dem Eingang lag, verströmte ein intensives violettes Licht und beherbergte eine Amethystschale. Genau gegenüber leuchtete das tödliche Blau von Nykras Höhle, deren Stein der Lapislazuli war. Das weiße Leuchten aus der nächsten Nische war kaum wahrnehmbar, doch die Aura von Pesrentrae, der Kriegsgöttin und Herrin der Schmerzen, war deutlich zu spüren. Die Kühle dieses Ortes schnitt einem in die Haut wie die Diamanten, die zu Pesrentrae gehörten. In der Höhle der Ethlirikdoma hingegen war es stets warm und das rötliche Licht der Göttin der Wut und Leidenschaft, deren Schale aus einem Granat bestand, war angenehm wie Sonnenstrahlen.

Der diebische Sidhe jedoch ließ sich selbst durch diese Machtdemonstration nicht beeindrucken und stahl die größten und wertvollsten der Steine. Als er jedoch mit seiner Beute verschwinden wollte, standen vor dem Eingang die anderen Draugrande. Diese hatten von den Göttinnen einen Warnruf bekommen und waren rasch herbeigeeilt. Sie verbannten ihn und brachten die Steine zurück an ihre Plätze. Als diese die anderen berührten, verschmolzen und verwuchsen sie erneut zu dem Obelisken, den Nicja nun vor sich sah. Seitdem herrschten Mycidjae der Göttinnen über den Stamm.

Nun war Nicja diejenige, die über die anderen Draugrande herrschen musste und für deren Wohlergehen verantwortlich war. Die Göttinnen hatten etwas in ihr erkannt, das ihr selbst nach so vielen Jahren immer noch schleierhaft und unbekannt war. Kalter Wind schlug ihr ins Gesicht und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Leise mit sich schimpfend wandte sie sich der schwarzen Höhle zu. Dass ihre Gedanken auch immer abschweifen mussten!

Sie betrat die Orakelhöhle und wurde sofort von Finsternis umfangen, doch davon ließ sie sich nicht beunruhigen, sie ging einfach weiter, bis sie spürte, dass sie genau vor der Obsidianschale stand. Dann begann sie ein uraltes Gedicht zu rezitieren, ließ ihre Magie fließen und erweckte somit das Orakel.

„Allwissend, wie ihr seid

jetzt und alle Zeit,

rufen wir euch sieben,

euch, die uns lieben.

Ob Hilfe oder Rat,

bei jeder einzelnen Tat

standet ihr mir bei,

nun es auch so sei.

Jetzt rufen wir euch her,

nach Rat verlangt es uns sehr.

Helft uns in diesen Tagen

in allen Lebenslagen!“

Auf einmal begann die Obsidianschale, zu glühen und zu vibrieren. Nicja sah staunend zu, wie von der Decke Wasser in den Farben der Göttinnen tropfte und in die Schale fiel. Dieses Schauspiel war jedes Mal Ehrfurcht gebietend. Wie ein Regenbogen schimmerte das Wasser und die Höhle, vorher so düster, war jetzt hell erleuchtet. Dann ertönte eine leise Stimme, doch Nicja konnte nicht sagen, ob sie aus den Felsen, aus der Schale oder aus ihrem Kopf kam.

„Wir sind da und werden dir deine Fragen so gut wie möglich beantworten, Tochter.“

Nicja war überrascht, dass Lifrana zuerst sprach, ihre persönliche Schutzgöttin. Normalerweise eröffnete Midjis ein Orakel. Sie antwortete schnell: „Mijna wurde zu euch befohlen. Deshalb sind die Draugrande unruhig und verunsichert. Sie fürchten, dass ihnen Vara zürnt. Sie befürchten außerdem einen erneuten Krieg zwischen uns und den Duorc, den wir nicht gewinnen können. Wird es dazu kommen?“

Diesmal antwortete Midjis. Es dauerte eine Weile, bis Nicja verstand, was die Göttin gesagt hatte, denn ihre Stimme bestand aus vielen verschiedenen Stimmen. „Vertrauen, Liebe und Schmerz sind eins in diesen Tagen, doch sobald nur eines davon fehlt und der Bund der drei vergeht, wird die Dunkle sich die größten Geschenke einverleiben und alles ins Chaos stürzen.“

Nicja erschauerte. „Sind die Duorc also die Verantwortlichen für Mijnas Tod? Werden sie erneut angreifen? Haben sie neue Stärke erlangt?“, fragte sie schnell weiter, denn sie merkte, wie sehr es an ihren Kräften zehrte, die direkte Verbindung zu den Göttinnen aufrechtzuerhalten.

Nun antwortete Nykra mit einer Stimme, die der tosenden See glich: „Jene Wesen, die sich weigerten, zu mir zu kommen, brachten mir nun Mjina. Und sie wird nicht die Letzte gewesen sein. Auch du wirst bald Verluste ertragen müssen. Und durch die Kräfte eines alten Widersachers sind sie stärker als je zuvor.“

„Was können wir dagegen tun? Können wir überhaupt etwas unternehmen? Oder sind wir hilflos?“, fragte Nicja erschüttert.

Blawde begann mit einer erstaunlichen Antwort: „Einer der euren wird Hilfe finden bei denen, die ihr fürchtet.“

Billingra fuhr fort: „Doch müsst ihr sie noch formen und in ihr auch die Gefahr erkennen.“

Nykra beendete: „Sonst wird sie euch vielleicht vernichten statt retten.“

Beunruhigt bemerkte Nicja, wie oft Nykra, die Göttin des Todes, sprach. Ein weiteres schlechtes Omen? Dann jedoch erlosch das Licht und sie blieb allein in der Dunkelheit zurück, mit Ängsten, die nun zur Gewissheit geworden waren.

Waldlichter

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