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Kapitel 7

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Ich wachte am nächsten Morgen auf und hatte noch immer blendende Laune. Seit ich hier in Irland war, fühlte ich mich einfach wundervoll entspannt. Auch Ana war schon wach, sie saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Dieser Anblick machte mich stutzig, erinnerte mich an etwas. Ich konnte allerdings nicht sagen, woran. „Es wird mir noch früh genug einfallen“, dachte ich und richtete mich auf.

Als ich meine Brille aufsetzte, musterte sie mich mit düsterem Blick. Ich unterdrückte mit Mühe ein Augenrollen, schließlich hatte ich ihren Ärger über mein atemberaubendes Gesangserlebnis bereits gestern gespürt. Dabei konnte ich mir selbst nicht erklären, was mit mir los war. Also sagte ich nur Guten Morgen und ging duschen.

Als ich aus dem Bad zurückkam, schliefen außer Ana immer noch alle und so beschloss ich, sie genauso zu ignorieren, wie sie es mit mir tat, und schrieb meinen Eltern eine kurze SMS, in der ich Bescheid sagte, dass es mir gut ginge und es toll wäre. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, auch wenn es mich wurmte, dass ich als Achtzehnjährige meinen Eltern Rückmeldung geben musste. Nun ja, jetzt war es erledigt und ich erwartete auch keine Antwort, also pfefferte ich mein Handy in meinen Koffer, der geöffnet unter meinem Bett hervorlugte.

Dann betrachtete ich aus den Augenwinkeln Ana, die erneut zum Fenster hinaussah. Sie wirkte gedankenversunken und traurig. Etwas in mir wollte sich immer noch erinnern, doch der Rest wusste nicht einmal, wieso ihn das interessieren sollte. Inzwischen war es zehn, wie ich feststellte, als ich auf die Uhr an der Wand sah. Unruhig wippte ich mit dem Fuß und ließ meinen Blick unstet im Raum umherschweifen. Die Ordnung, die Eric am Tag zuvor hergestellt hatte, hatte bereits wieder gelitten.

Ich hatte extreme Langeweile, wollte die anderen aber nicht wecken. Doch schon bald hielt ich es nicht mehr aus, nahm mir mein Buch heraus und las. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es vierzehn Minuten nach elf. Ana hatte anscheinend alles gesehen, was es draußen zu betrachten gab, und las ebenfalls. Doch mir fiel auf, dass sie selbst dabei andauernd aus dem Fenster blickte und nachdenklich die Stirn runzelte.

„Wahrscheinlich hat sie sich gestern mit irgendeinem Typen verabredet und ist nun beunruhigt, weil er nicht kommt“, dachte ich verächtlich.

Nachdem ich weitere hundert Seiten gelesen hatte, begann sie plötzlich, leise Laute auszustoßen. Ich sah sie verärgert an, doch sie hatte ihren Blick schon wieder auf das Fenster gerichtet und schien dabei irgendetwas zu flüstern.

„Siehst du gerade das erste Mal einen Vogel fliegen oder was ist da draußen so interessant?“, fragte ich sie genervt. Ich konnte nicht richtig hören, was sie da von sich gab, aber es ging mir gewaltig auf den Geist.

Erschrocken fuhr sie zusammen und starrte mich dann mit zornfunkelnden Augen an. „Nur weil ich aus der Großstadt komme, heißt das nicht, dass ich noch nie fliegende Vögel gesehen habe, klar? Und was hast du eigentlich gegen mich, dass du mich immer sofort anmachen musst?“

Ich las weiter, ohne ihr eine Antwort zu geben, aus dem einfachen Grund, weil ich keine wusste. Natürlich brachte sie mich mit ihrem Benehmen ständig auf die Palme, aber ansonsten ignorierte ich solche Gehirnamputierten doch auch. Wieso sie nicht? Ich wusste es nicht. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, sie würde irgendwen damit beleidigen, wenn sie sich so benahm, aber das war so unsinnig, dass ich das nicht als Grund nennen konnte. Vielleicht hätte ich sie fragen sollen, was sie da machte, aber jetzt war es wohl zu spät. Also musste ich ertragen, dass sie ganz leise Töne ausstieß, die ich nach kurzer Zeit Tierlauten zuordnete, und konnte nichts dagegen tun.

Mit einem Mal hörte ich von draußen ganz leise ein Wolfsheulen und starrte besorgt aus dem Fenster. Ich hatte nicht gewusst, dass es hier in der Nähe Wölfe gab. Und dann passierte etwas, was mich noch viel mehr erschreckte. Ana starrte noch immer bewegungslos aus dem Fenster, schien nun mit den Gedanken an einem komplett anderen Ort zu sein und heulte ebenfalls, als ob sie dem Wolf antworten würde.

Plötzlich erklang ein lautes Heulen ganz in der Nähe und alle Schlafenden schraken auf. Ich war derweil zum Fenster gerannt und hatte nach draußen gestarrt, aber niemand, weder Wolf noch Mensch war zu sehen. Als ich mich zu Ana umdrehte, spielte ein Lächeln um ihre Lippen. Im restlichen Zimmer herrschte Aufruhr, alle rannten und redeten wild durcheinander.

Da hörten wir jemanden an die Tür klopfen und ich öffnete. Draußen stand Lilly, die mich beruhigend anlächelte. „Ich wollte bloß Bescheid sagen, dass hier kein echter Wolf herumstreunt, es war wohl nur ein Witzbold, der den Wecker spielen wollte.“

„Das hat auf alle Fälle geklappt“, sagte ich noch, bevor Lilly mir den Rücken zuwandte und zum nächsten Haus eilte. Ich schloss die Tür und rief dann den anderen zu: „War nur ein Scherz, kein Wolf hier!“

Da hörte ich erleichtertes Aufseufzen und setzte mich wieder auf die kleine Couch, die im Vorraum stand. Dort wartete ich, bis meine Mitbewohnerinnen kamen, nun endlich vollständig wach, und wir gingen gemeinsam nach draußen. Caroline und Marina gingen zu Haus eins und riefen Eric und Philipp heraus. Dann bewegten wir uns zum Ortskern, um Tran und Kath abzuholen, doch die beiden kamen uns schon atemlos auf halbem Wege entgegen.

Kath fragte sogleich: „Ist alles in Ordnung, ist der Wolf wieder weg? War es überhaupt ein Wolf? Wir haben nur das Heulen gehört und sind gleich hergekommen.“

Philipp lachte, trat nach vorne und nahm sie in den Arm. „Keine Sorge, es war kein echter Wolf und es gibt bloß einen Toten.“

Wir brachen in Gelächter aus, als Kath ihn mit großen Augen ansah. Caro klärte Tran gerade flüsternd über die Wahrheit auf, doch Kath fragte jetzt in so ernstem Ton, dass uns beinahe die Lachtränen kamen: „Was? Wer ist tot? Und wieso ist das zum Lachen?“

Da hielt es Melissa anscheinend nicht mehr aus und rief: „Der verarscht dich doch nur, kein Wolf, keine Toten, so sieht’s aus.“

Zuerst schien sie ihr nicht zu glauben, aber dann begann sie, Philipp auf den Arm und auf die Brust zu schlagen und zu lachen. Er entfernte sich grinsend aus der Reichweite ihrer Arme und entschuldigte sich bei ihr.

Als wir alle uns beruhigt hatten, überlegten wir, was wir mit dem Tag anfangen sollten. Es war ziemlich sonnig und mit knapper Mehrheit beschlossen wir, in den Wald zu gehen und dort nach etwas Bewegung zu picknicken.

Eine Stunde später befanden wir uns unter den Kronen unzähliger Bäume. Tran führte uns, zeigte uns ihre Lieblingsstellen, erzählte uns ein paar Geschichten, die nur noch für Ana und mich wirklich interessant waren. Wenn den anderen dabei langweilig wurde, griff Kath ein und erzählte ein paar Witze. Laut schwatzend und lachend liefen wir also durch den Wald, trampelten ohne Nachsicht über Blumen und Pflanzen. Und wieder einmal verfolgten uns unbemerkt Schemen in den Bäumen.

Als die Sonne im Zenit stand, suchten wir uns einen schönen Platz zum Picknicken und wurden auch bald fündig. Wir waren immer weiter nach Norden und damit auf die Berge zugegangen. Tran hatte zwar darauf bestanden, dass wir wieder umkehrten und uns sonst irgendwo hinsetzen sollten, aber Kath hatte ihren Protest einfach abgetan und ziemlich bald eine kleine Lichtung gefunden, die perfekt zum Picknicken war. Mir jedoch fiel auf, dass sich Tran unbehaglich umsah und des Öfteren auf eine bestimmte Stelle am Waldrand starrte. Sie blieb die folgende Stunde, die wir dort verbrachten, angespannt und schien ernsthaft wütend auf Katherina zu sein. Aber auch ich fühlte mich nicht sonderlich wohl auf dieser Lichtung. Sie schien viel zu perfekt und friedlich zu sein. Normalerweise hatte ich nichts gegen Frieden, aber dieser Ort war mir einfach nicht geheuer.

Noch etwas anderes fiel mir auf, als wir hier zusammensaßen, nicht nur die zunehmende Spannung zwischen Kath und Tran, sondern auch der eindeutige Vertrauensverlust zwischen Eric und Tran. Und auch Melissa und Lisa hatten schon einmal glücklicher ausgesehen, dabei kannte ich sie noch keine ganze Woche. Caro und Marina schienen immer noch die Alten zu sein, also setzte ich mich zu ihnen und nahm an ihrer Unterhaltung teil. Bis mit einem Mal mein Handy klingelte. Fassungslos starrte ich auf das Display. Das waren doch wirklich meine Eltern!

Ich murmelte leise: „Sorry, aber da muss ich drangehen“, und verschwand im Wald, um ungestört zu sein. Dann nahm ich ab und sagte: „Mum? Dad? Was gibt’s, es ist echt nicht passend!“

Gedämpft hörte ich die Stimme meiner Mutter aus dem Hörer. „Hallo Victoria. Ich freue mich auch riesig, mal wieder etwas von dir zu hören, und ja, mir geht es gut, danke der Nachfrage! Was es gibt? Ich mache mir Sorgen um meine Tochter und wollte mal mit ihr sprechen. Hast du denn nun nicht mal mehr Zeit für deine Eltern? Wo du schon den armen John abserviert hast, kaum dass du in Irland warst. Ich wusste von Anfang an, dass dieses verfluchte Land dir nicht guttut.“

Beinahe wäre mir das Handy aus der Hand gefallen, so geschockt war ich über den armen John. Meine Eltern hatten beide von Anfang an gesagt, dass sie nicht mit unserer Beziehung einverstanden wären. Wieso hatte sich das jetzt, wo es keine Beziehung mehr gab, geändert? Außerdem hatte ich gute Gründe für diesen Schritt gehabt, man erinnere sich bloß an diese eindeutig weibliche Stimme aus dem Hintergrund.

„Wieso steht ihr jetzt hinter John? Hat er euch erzählt, dass er eine Neue hat? Und natürlich habe ich Zeit für euch, nur eben nicht jetzt.“

„John hat keine Neue, es war eine Freundin, die ihn nur besucht hat, und dann bist du gleich verrückt geworden und hast das als Vorwand benutzt, um mit ihm Schluss zu machen. Das ist die Geschichte, wie John sie mir erzählt hat, und wir hatten noch nie etwas gegen ihn. Er war komplett fertig, der Arme. Ich wusste nicht, dass du so kalt und ungerecht sein kannst. Außerdem müssen wir nicht lange miteinander reden, deine Freizeit wird schon nicht unter diesem Gespräch leiden.“

Nun wurde ich richtig sauer und antwortete mit bissiger Stimme: „Stimmt, meine Freiheit nicht, aber meine Laune! Und dass ihr nichts gegen meinen Ex habt, habe ich gerade zum ersten Mal gehört.“

„Das haben wir doch immer betont, dass wir froh über eure Beziehung sind. Und wir standen ihr auch nie im Wege. Du behauptest ständig Sachen, die uns so böse dastehen lassen. Du hast dich so verändert!“

Fassungslos lauschte ich den Worten meiner Mutter. War das ihr Ernst? Ich erinnerte mich nur zu gut daran, dass sie mir und meiner Beziehung immer im Weg gestanden hatten, egal, ob es um einen Aufenthalt bei dem anderen, einen Kinobesuch oder Ähnliches ging. Wie konnte sie nur die zahlreichen Streitereien, die Johns wegen geführt worden waren, so einfach verleugnen?

„Weißt du was? Hör mit dem Drogenkonsum auf, was auch immer du dir spritzt, und such dir ein anderes Objekt, das du kontrollieren kannst. Wir reden miteinander, wenn ich zurückkomme. Falls ich zurückkomme.“ Stinksauer legte ich einfach auf und schaltete das blöde Teil aus. Seit ich hier war, hatte es mir nur schlechte Neuigkeiten überbracht.

Dann ging ich betont fröhlich zu den anderen zurück, antwortete nicht auf ihre Fragen und fand mich in einem angeregten Gespräch mit Kath über Bücher wieder. Doch dieses wurde jäh unterbrochen, als Marina laut aufschrie und zurückstolperte. Sie war an den Waldrand gegangen, um sich mal etwas umzuschauen, und war nun kalkweiß im Gesicht. Wir sprangen hastig auf und stürzten auf sie zu, als auch wir entdeckten, was sie so erschreckt hatte. Ein großer grauer Wolf, der allerdings ziemlich verhungert und zerrissen wirkte, schlich leise aus dem Wald.

Normalerweise sollte er nicht hier sein. Normalerweise dürfte sich kein Wolf so nahe an uns herantrauen. Normalerweise sollte er nun Stopp machen und flüchten, denn auch die meisten anderen unserer Gruppe hatten angefangen zu schreien. Normalerweise sollte es hier gar keine Wölfe geben, zumindest laut Tran, die sich hier eigentlich sehr gut auskannte.

Aber es war nichts Natürliches daran, wie er sich immer näher an uns heranschlich, wie er die Zähne zeigte und knurrte, und auch nicht daran, wie Ana vortrat, ihm den Weg verstellte und zurückknurrte. Ein animalisches Geräusch kam über ihre Lippen, woraufhin der Wolf prompt seinen Schwanz einzog, sich umdrehte und wieder im Wald verschwand. Mit einem leisen Aufseufzen wurde Marina ohnmächtig, wir konnten sie gerade noch so auffangen.

Ich war vor allem verwirrt. Ich hatte eigentlich keine riesige Angst gehabt, sondern mir eher Fragen gestellt, wieso der Wolf hierhergekommen war, wieso Ana das gemacht hatte, wobei ich nicht mal beschreiben konnte, was das gewesen war, und wieso der Wolf anschließend verschwunden war.

Die anderen standen eine Weile nur da und starrten in die Ferne. Dann schienen sie aus ihrer Trance zurückzukehren und begannen, Marina zu schütteln. Als diese schließlich aufwachte, wurde es für mich noch verwirrender. Denn sie wurde gefragt, warum sie so geschrien hätte, was sie in dem Wald gesehen habe, das sie derart in Panik versetzt hätte, und ihre Antwort lautete, sie sei vor einer Spinne erschrocken und könne sich nicht mehr daran erinnern, was danach passiert wäre.

Nun war ich restlos verwirrt, denn ich konnte noch immer den Wolf vor mir sehen, wie er auf uns zukam. Konnte sehen, wie Ana uns rettete. Doch die anderen schienen keinen Wolf gesehen zu haben, sondern eine große Spinne, und an mehr konnten sie sich nicht erinnern. Nur Ana sah ich ebenfalls die Stirn runzeln.

Nach diesem Ereignis brachen wir auf und hasteten zurück nach Grettersane, allesamt zwar anscheinend aus verschiedenen Gründen geschockt, aber darin einig, so schnell wie möglich von der ach so wundervoll friedlichen Lichtung wegkommen zu wollen.

Endlich wieder in Grettersane angekommen, empfing uns Lilly. „Da seid ihr ja! Was ist denn passiert? Ihr seht ja schlimm aus.“

Kath rang zwar noch nach Atem, übernahm aber den Bericht unseres kleinen Abenteuers. Als sie geendet hatte, musste Lilly offensichtlich ein Lachen unterdrücken. Aber der Spott war in ihrer Stimme zu hören, als sie nachfragte: „Marina hat also eine große Spinne gesehen, geschrien und dann seid ihr alle in wilder Hast geflohen? Vor einer Spinne? Wie alt seid ihr denn?“

Die anderen wurden rot, ich allerdings fragte ungerührt zurück: „Wieso hast du uns gesucht? Gibt es irgendetwas Wichtiges?“

Sie schaute mich an, schien einen Moment zu zögern und zu überlegen, ob sie das Thema Spinne schon ruhen lassen sollte, und antwortete dann: „Ja, ich habe hier Nachrichten für ... Moment ... ah, für Lysana, Tran und dich, Victoria.“ Wir runzelten verwirrt die Stirn und nahmen die kleinen Zettel, die aus feinem, aber fremdartig wirkendem Papier bestanden, entgegen. Sie winkte uns zu, grinste noch einmal und war dann hinter der nächsten Hausecke verschwunden.

Marina verabschiedete sich mit der Erklärung, dass sie sich erholen müsse, und ging in Richtung der Ferienwohnsiedlung davon. Caroline lief ihr hinterher, sie wollte ihre Schwester nicht allein lassen. Kath und Philipp verzogen sich in ihre Wohnung, Melissa und Lisa stritten sich und entfernten sich dabei immer mehr von uns. Schließlich blieben nur noch Ana, Tran, Eric und ich übrig. Wir Mädchen sahen uns gegenseitig an und falteten dann die Zettel auf. Dort stand in enger, schwer zu lesender Schrift etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Verstohlen musterte ich die anderen beiden und sah, dass auch sie sehr erschrocken wirkten.

Eric fragte uns: „Was ist los? Was steht auf den Zetteln? Warum seid ihr so blass?“ Er schien ernsthaft besorgt.

Ich fand meine Stimme wieder und beruhigte ihn: „Es ist nichts Wichtiges. Brauchst dir keine Sorgen zu machen, wirklich. Ich weiß zwar nicht, was bei euch steht, aber so schlimm kann es ja nicht sein.“ Ich sah die Mädchen an, die offenbar wieder klarer wurden und nickten. Eric schien mir zwar nicht zu glauben, fragte aber nicht weiter nach. Er verabschiedete sich nach etwa fünf Minuten ohne Erklärung und ließ uns drei zurück.

„Nicht so schlimm?“, beschwerte sich Ana. „Ich weiß zwar nicht, was bei dir steht, aber bei mir ist von Opfern und anderem abstrusen Zeug die Rede, und das nenne ich durchaus schlimm. Oh, ich weiß wirklich nicht, warum es euch etwas angehen sollte, aber leider habe ich das ungute Gefühl, dass es euch etwas angeht, schließlich habt ihr auch solche Briefe.“

„Opfer? Und wieso sollte es uns nichts angehen?“, fragten Tran und ich wie aus einem Munde.

„Ja, Opfer, muss ich erklären, was das ist? Ich meine, damit solltet ihr euch doch auskennen“, meinte sie in der Absicht, cool und unnahbar zu wirken, allerdings ohne Erfolg. Ihr Blick, der wohl überheblich aussehen sollte, wirkte eher Hilfe suchend und verwirrt. Als keine Antwort kam, fuhr sie fort: „Ich les ihn euch einfach vor, ja?“ Tran nickte.

„Lebenssaft von drei Opfern entnommen, mit Bruchstücken einer Seele Wunden zugefügt, die nicht leicht zu heilen sind, vermischt mit anderem Lebenssaft aus dem lebendigsten Ort unter Midjis’ Herrschaft bilden Gegensätze, die zunächst allzu klar scheinen, es aber nicht sind. Doch Nykra befiehlt sie alle zu sich, alle Lebenssäfte werden zur Nahrung der Toten, ausgenommen Säfte von jenen, die dem Regenbogen abgeschworen haben, und vor ihnen musst du, das Opfer des Kultes, dich in Acht nehmen.“

Wir starrten sie fassungslos an. Schließlich sagte ich mit etwas zittriger Stimme: „Okay, so seltsam ist meine Nachricht nicht, oder eher gesagt, so seltsam schon, aber nicht so grausig.“ Dann sah ich auf den Brief in meinen Händen hinab und begann, mit stockender Stimme vorzulesen: „Jener weltbekannte Komponist, der die Zeit angab, muss sein schönstes Werk spielen, wenn derjenige, der die Fluten anzustacheln weiß, seinen höchsten Punkt, sein vollstes Licht entfaltet hat. Ferner ist das, was uns alle umgibt und ausmacht, das sich in drei Formen zeigt, nicht immer leicht und Verluste soll man nicht rächen, sondern betrauern, Gefühle sollen nie die Oberhand gewinnen, sondern inspirieren, und Qualen nicht ausgestanden, sondern bekämpft werden. Du kennst viele Wege und Arten zu existieren, ohne zu fühlen, zu träumen, ohne zu schlafen, und zu sein, ohne zu wissen, wer du bist. Denke daran, nichts ist Zufall, und habe Vertrauen. Lasse den Raben krächzen.“

Als ich aufblickte, waren zwei äußerst verwirrte Blicke auf mich gerichtet. Bestürzt bemerkte ich, dass meine Finger zitterten, und damit sie etwas zu tun hatten, faltete ich das Blatt hastig zusammen. Ich sah Tran an und sagte: „Komm, lass auch du die Katze aus dem Sack.“

Sie nickte zustimmend und begann vorzulesen: „Toter Spender von Energie, du musst Leben und Geschichten, Gut und Schlecht, Wahrheit und Lüge offenbaren. Doch Totes allein kann nicht wieder lebendig sein, so musst du auf dem, was dich hielt, das du aber nie berührtest, auf dem, was dich mit Leben versorgte, dich aber nie wahrgenommen hat, liegen, höher als deine toten Brüder. Doch nicht beliebig kannst du sein, sondern nur der Erste, Vorbild für Geschwister und doch allem untertan. Und wenn deine Behüterin kommt, durch das Holz zum Blutenden, jene, welche aufwuchs im Glück, das jedoch nun so tot ist wie du, dann musst du bereit sein.“

Wir sahen uns sprachlos an und hatten keine Zweifel mehr, dass hier etwas nicht richtig lief. Dann sagte Tran mit noch immer belegter Stimme: „Lasst uns bei mir zu Hause drüber reden, da sind wir ungestörter.“ Ohne Protest folgten wir ihr.

In ihrem Wohnwagen setzten wir uns an den Tisch und legten die Rätsel darauf. Dann lasen wir sie uns noch ein paarmal durch. Schließlich sah mich Lysana abwartend an.

„Was schaust du so?“, fragte ich sie.

„Ich warte darauf, dass du uns die Lösung präsentierst. Du bist so ein Rätseltyp und ich kann mit den Teilen da“, sie sah abwertend auf die Blätter und rümpfte demonstrativ die Nase, „einfach nichts anfangen. Also?“

Ich zog die Augenbrauen hoch und sah sie ungläubig an. „Wie kommst du darauf, ich sei ein Rätseltyp? Ich verstehe von Rätseln generell sehr wenig.“ Dann wandte ich den Blick ab und begegnete dem von Transca. „Bist du gut im Rätselraten?“

„Nicht wirklich, aber ich kann es ja mal versuchen. Bleibt ihr bitte da und helft mir?“

„Natürlich, ich bleibe gerne, vielleicht schaffen wir es zu dritt.“

Unvermittelt stand Ana auf und sah zu uns herunter. Dieses Mal gelang ihr der überhebliche Blick. „Ich werde nicht hier rumsitzen und irgendwelche Rätsel lösen, sondern mir endlich mal einen Jungen suchen. Vielleicht ist ja dieser Jamie interessiert.“ Sie lächelte uns süffisant an und verließ den Wohnwagen.

Ich wollte schon aufspringen und ihr nachlaufen, ihr sagen, dass das hier wichtiger als irgendein Junge war, aber Tran hielt mich zurück, indem sie sagte: „Lass sie, sie wird ihren Fehler vermutlich schneller, als ihr lieb ist, erkennen und von selbst zurückkommen.“

„Sie bringt mich mit ihrem Verhalten einfach zur Weißglut.“

„Mich auch, aber wir können wohl nichts daran ändern.“

Nicht wirklich überzeugt setzte ich mich wieder an den Tisch und versuchte mich auf die Rätsel zu konzentrieren. Doch meine Gedanken schweiften wieder zu dem Überfall heute Mittag zurück und unvermittelt fragte ich Transca: „Was ist heute im Wald passiert? War es eine Riesenspinne?“ Ich beobachtete sie ganz genau, deshalb entging mir weder das Erstaunen noch das kurze Aufflackern eines Grinsens.

„Nein, ich zumindest habe da einen großen Wolf gesehen, der dann wieder abgehauen ist.“

„Ich auch, aber für mich hat es so ausgesehen ... na ja ... als ob Ana ihn vertrieben hätte.“

Nun musterte mich Tran ihrerseits genau. „Für mich auch, aber wie soll sie das bewerkstelligt haben? Wie soll sie einen ausgewachsenen, verhungerten Wolf von einer potenziellen Beute, nämlich uns, fernhalten? Und wieso können sich die anderen nicht daran erinnern?“

„Oder anders gefragt, wieso können gerade wir uns an die Wahrheit erinnern? War es überhaupt die Wahrheit, was sich vor unseren Augen abgespielt hat, oder haben die anderen die Realität gesehen?“

Kurz herrschte Schweigen, wir suchten beide nach Antworten, als Transca noch zwei Fragen einfielen. „Meinst du, Lysana erinnert sich an den Wolf? Und hängen diese Briefe mit dem Vorfall zusammen?“

„Ich habe keine Ahnung“, war alles, was mir dazu einfiel. Dann fügte ich mit einem Seufzer hinzu: „Lösen wir erst mal das schriftliche Problem vor uns, vielleicht können wir anschließend mehr sagen. Welches Stück sollen wir uns zuerst vornehmen?“

„Ich denke, meines ist am konkretesten formuliert. Also schön, von vorne ... Angesprochen ist ein toter Spender von Energie. Irgendwelche Ideen?“

„Nicht wirklich. Wir sollten erst einmal Informationen suchen über das Du. Es wird gehalten von etwas, aber nie berührt davon ... Geht das überhaupt?“ Ich stockte, bevor ich richtig angefangen hatte.

Tran zuckte ratlos mit den Schultern und machte weiter. „Und es wird mit Leben versorgt, kann also nicht selbst leben und wurde nicht wahrgenommen ... Wie soll das gehen? Wie kann jemand mit etwas versorgt werden, ohne wahrgenommen zu werden?“

„Vielleicht ein Dieb. Wenn man einen einlädt zum Beispiel und der dann etwas mitgehen lässt, dann wurde er versorgt, ohne dass diese Versorgung wahrgenommen wurde.“

„Denke ich nicht. Du vergisst, es muss außerdem ein Spender von Energie sein und von jemandem gehalten werden, ohne von diesem berührt zu werden.“

„Warte mal, da steht die Vergangenheitsform, also wird er jetzt nicht mehr mit Leben versorgt oder gehalten ...“ Plötzlich sprang Tran triumphierend auf und führte einen kurzen Freudentanz zu einem Lied, das im Hintergrund im Radio lief, auf.

Verwirrt sah ich ihr zu. „Verrätst du mir, was los ist? Du hast es gelöst? Dann sag es mir!“ Sie schaute mich an, strahlend und grinsend, und sagte: „Nein, habe ich nicht, aber das ist eines meiner Lieblingslieder und ich wusste nicht mehr, wie es heißt.“ Enttäuscht ließ ich den Kopf hängen, als ich sie lachen hörte. „Du bist so leicht in die Irre zu führen. Natürlich ist das eines meiner Lieblingslieder, aber ich weiß auch, wer mit du gemeint ist. Es ist ein totes Blatt! Wurzeln halten den Baum und der wiederum die Blätter, aber ein Blatt berührt die Wurzel im Normalfall nicht. Es betreibt Fotosynthese, die den Baum am Leben erhält, und der versorgt im Gegenzug die Blätter mit Wasser, nimmt aber nicht jedes richtig wahr. Fertig!“ Sie lachte und dieses Mal konnte ich einstimmen. Ihre Lösung stimmte perfekt mit den notierten Kriterien überein.

Als wir uns beruhigt hatten, sagte ich: „Dann mal weiter. Dieses Blatt muss also auf einer Wurzel liegen, höher als die anderen abgefallenen Blätter. Allerdings ist jetzt Sommer und da gibt es nur halb oder ganz zersetzte Blätter.“

„Ja, aber es muss das erste Blatt sein, das herunterfällt, denn danach folgen seine Geschwister. Es passt, denn dieses Blatt könnte man rein theoretisch wirklich als Anführer der Blätter ansehen, obwohl es eigentlich allem untergeordnet ist.“

„Stimmt. Aber was das mit der Behüterin soll ... Ein Baum kann nirgends hinkommen und ansonsten wüsste ich nicht, wer als Blattbehüterin dienen könnte.“

Auch Transca schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich auf das Rätsel. „Wir müssen noch rausbekommen, was mit Leben, Geschichten, Gut, Böse, Wahrheit und Lüge gemeint sein soll. Und wie kann ein Blatt etwas offenbaren? Und wie wieder lebendig werden, wenn es auf einer Wurzel liegt?“

Wir saßen noch einige Minuten grübelnd da, bevor ich frustriert den Kopf schüttelte und sagte: „Lass uns mit meinem Rätsel weitermachen. Das ist das längste, vielleicht bekommen wir dadurch auch die meisten Informationen. Also, an wen ist es gerichtet?“

„Ich denke, am Anfang an keinen und am Ende an dich, oder? Kommt dir das plausibel vor?“

„Nicht wirklich, aber mir ist gerade etwas eingefallen. Als ich im Wald war, habe ich auch so ein Rätsel aufbekommen und darin war von einer Nacht, die Mendelssohn-Bartholdy vertont hat, die Rede. Ich denke, er ist mit dem Komponisten gemeint. Das Lied hab ich gegoogelt, es ist ein Sommernachtstraum.“

„Also musst du das Lied abspielen, wenn was ist? Da steht etwas von einem, der sein vollstes Licht entfalten und seinen höchsten Punkt erreichen soll, der die Fluten anstacheln kann. Keine Ahnung, was das bedeuten soll.“

„Für mich kann das nur der Mond sein, ich nehme an, der Vollmond. Der kann das Meer ja regelrecht antreiben. Und vollstes Licht hört sich für mich ebenfalls danach an. Und geht es nicht in Büchern auch immer um den Vollmond?“

„Stimmt, das hört sich stimmig an. Also weiter.“ Transca wirkte aufgekratzt wie ein kleines Kind, was mich unwillkürlich zum Schmunzeln brachte.

„Wie willst du weitermachen, von dem Rest verstehe ich rein gar nichts mehr.“

„Stimmt auch wieder. Sollen wir uns an Lysanas Rätsel machen oder damit warten, bis sie wiederkommt?“

Unerwartet ertönte da am Eingang des Wohnwagens ihre Stimme: „Nun braucht ihr nicht länger zu warten, ich bin wieder da.“ Wir drehten uns auf unseren Stühlen um und sahen tatsächlich Ana in der Tür stehen. Sie kam herein und ließ sich auf den dritten Stuhl fallen. „Was habt ihr bisher rausbekommen?“, erkundigte sie sich und mir war ihre Stimme eine Spur zu geschäftig, als ob das Ganze nur eine unangenehme Pflicht für sie sei.

„Wieso hast du dich dazu entschlossen, zurückzukommen?“, antwortete ich mit einer Gegenfrage.

Sie verdrehte genervt die Augen. „Nur weil ich blond bin, heißt das nicht, dass ich blöd bin.“

Ich konnte mir nicht verkneifen zu murmeln: „Das ist ja mal was ganz Neues!“

Sie warf mir einen bitterbösen Blick zu, fuhr aber ansonsten ungerührt fort: „Mir ist durchaus klar, dass ich dazugehöre und irgendwie mithelfen muss. Und ich dachte mir, dass ihr mit meinem Rätsel bis zum Ende warten würdet, also hab ich mich vorher einfach noch eine Weile entspannt. Wieso sollte ich auch die ganze Zeit dabeisitzen? Ich frage noch einmal, was habt ihr bisher rausgefunden?“

Ich rollte unglücklich mit den Augen, denn ich hasste Leute mit so einer egoistischen Einstellung. Während ich mich also noch über Ana aufregte, fasste Tran für sie unsere Vermutungen zusammen und berichtete, wie wir draufgekommen waren. Ana nickte anerkennend und stimmte uns zu. Dann nahmen wir uns ihr Rätsel vor.

„Also mit dem Du am Ende bin ich gemeint, da bin ich mir ziemlich sicher“, begann Ana.

„Wieso wirst du als Opfer des Kultes bezeichnet? Weißt du irgendetwas von einem Kult, der einmal in deiner Nähe seine Religion ausgeübt hat?“

„Nein, ich bin in einer perfekt katholischen Umgebung aufgewachsen, da gab es keine seltsamen Kulte.“

Also war dies offenbar eine der Aussagen, mit denen wir nichts anfangen konnten. Ich wandte mich gedanklich jenen beschriebenen Lebenssäften zu und erinnerte mich daran, dass irgendein griechischer oder römischer Philosoph und Arzt propagierte, wir bestünden aus vier verschiedenen Körpersäften. Vielleicht war davon ja die Rede. Soweit ich wusste, handelte es sich seiner Ansicht nach – wie hieß er denn noch mal? ‒ um weiße und schwarze Galle, Eiter und Blut. Oder waren es doch andere gewesen? Verärgert über mein schlechtes Gehirn runzelte ich die Stirn. Da bemerkte ich, dass die anderen das Thema gewechselt hatten, und ich hörte ihnen genauer zu.

Gerade sagte Tran: „Wenn man es so sieht, dann könntest du recht haben. Ja, ich denke, das würde passen, aber es bedeutet wahrscheinlich auch, dass wir die anderen Opfer sind, die erwähnt werden. Und mich würde wirklich mal interessieren, was wir opfern sollen.“

Verwirrt fragte ich dazwischen: „Moment mal, ich kann euch nicht folgen momentan, was ist das denn jetzt für ein Kult oder wovon redet ihr bitte?“ Ich sah, wie Ana verächtlich den Mund verzog, und konnte beinahe hören, wie sie dachte: „Na, wer ist jetzt blond?“

Bevor ich sie jedoch für ihre Gedanken anschnauzen konnte, sagte Tran: „Ana ist auf die Idee gekommen, dass damit der Kult gemeint sein könnte, der anscheinend hier in der Gegend am Werk ist, also, dass sie eines der Opfer ist, die im ersten Satz erwähnt werden. Dann wären wir wahrscheinlich die anderen beiden Opfer und ich hab mich gefragt ...“

„... was wir opfern müssen, so viel hab ich mitbekommen. Ja, ich denke, das könnte wirklich stimmen. Und ich hab mir was zu diesen Lebenssäften überlegt. Es gab doch mal diesen griechischen oder römischen Arzt und Philosophen, keine Ahnung, wie er hieß, der diese Theorie mit den Körpersäften hatte, weiße und schwarze Galle, Schleim oder Eiter und Blut. Vielleicht sind die ja damit gemeint.“ Die anderen starrten mich verständnislos an. Sie schienen keine Ahnung zu haben, wovon ich redete. „Habt ihr das nicht in der Schule gemacht?“, fragte ich sie unsicher.

Da brauste Transca auf, ich hatte offensichtlich einen empfindlichen Nerv getroffen. „Wie könnte ich so etwas hier auf der Schule lernen? Wir haben nur wichtige, wirklich wichtige Sachen beigebracht bekommen und nicht, was irgendein antiker Arzt mal gesagt hat. Wofür braucht man denn so ein Wissen? Und ich bezweifle, dass das damit gemeint ist, schließlich ist hier nur von zwei Lebenssäften die Rede.“

Verdutzt starrte ich sie an. Solche Gefühlsausbrüche war ich überhaupt nicht von ihr gewohnt. Hilfe suchend schaute ich zu Ana, die Tran genauso verwundert musterte.

Dann fing sie meinen Blick auf und beeilte sich zu sagen: „Mir kommt das entfernt bekannt vor, aber wieso sollte ich in der Schule aufpassen? Wie du schon gesagt hast, lernt man dort kaum was Nützliches. Aber die Idee, dass vielleicht zwei dieser Lebenssäfte gemeint sein könnten, hat schon was. Und wenn man das mit den Gegensätzen bedenkt, die keine sind, fällt mir sofort die weiße und schwarze Galle auf. Schließlich scheinen Weiß und Schwarz immer Gegensätze zu sein, sind es jedoch gar nicht.“

„Aber dann erklär mir doch bitte, wie man Galle aus dem größten Ort mit Leben entnehmen kann. Und wie willst du uns, also den Opfern, Galle abzapfen? Da finde ich es wahrscheinlicher, dass Blut gemeint ist. Es hat schon immer mehr Bedeutung gehabt als irgendwelche seltsame Galle.“ Damit hatte Tran natürlich recht. Aber wenn sie Blut sagte, wie wäre es dann mit ...

„Ich hab’s! Der zweite Lebenssaft ist Wasser ... aus dem Meer entnommen. Blut und Wasser sind auch Gegensätze, gehören aber trotzdem irgendwie zusammen.“

Die beiden nickten zustimmend, Tran zögerlich, Ana überzeugt.

„Gut, dann müssen wir noch klären, wer Midjis ist. Jemand eine Idee?“

Allgemeines Kopfschütteln folgte, bis Ana jedoch bekannte: „Von Midjis habe ich keine Ahnung, aber Nykra habe ich schon einmal gehört. Ich hatte einen verrückten Traum.“

Tran und ich sahen uns bedeutungsvoll an. Wir schienen wirklich die drei auserwählten Träumerinnen zu sein.

„Ich stand in einem Wald und die Vögel riefen sich etwas über den Weltuntergang zu, dann stürzte mitten im Wald eine riesige Welle auf mich zu, überrollte mich, aber ich ertrank nicht, sondern fühlte mich im Wasser wohl, und da hörte ich den Namen Nykra. Was schaut ihr so? Ich bin nicht verrückt!“

Schnell warf ich ein: „Das sagt auch keiner. Es ist nur so, dass auch wir seltsame Träume und Erscheinungen hatten. Mir wurde gesagt, dass drei Träumer zusammenkommen müssten, um etwas zu retten. Und ich denke, wir sind diese drei. Ich habe außerdem von einer Toúta geträumt, die in Blut untergeht, wenn wir ihr nicht helfen. In dem Traum wurde mir gesagt, wenn das passierte, sei es meine Schuld, weil ich mich auf Vorurteile gestützt und nicht zugehört hätte. Und mir wurde auch ein Name genannt: Blawde.“ Ich brach ab, weil ich erneut den Raben vor meinen Füßen liegen sah und mir seltsamerweise die Augen brannten. Zum Glück sprach Tran weiter, erzählte von ihren Träumen und Erscheinungen und von dem Namen, der ihr genannt worden war: Billingra.

Doch all diese Namen halfen uns nicht weiter. Es war zwar interessant zu wissen, dass wir alle einen anderen vernommen hatten in unseren Träumen, die anscheinend vom Untergang einer Kultur oder etwas Ähnlichem handelten, aber was hatte das mit uns zu tun? Wieso sollten gerade wir sie retten?

Ana brach das Schweigen, indem sie sagte: „Lasst uns erst mal weiterschauen, was es in den Rätseln noch für Infos gibt. Da steht was von Leuten, die dem Regenbogen abgeschworen haben. Vielleicht sind das die Feinde unserer Toúta. Ich habe das ungute Gefühl, wir müssen erst diese Toúta finden, um Näheres zu erfahren. Aber wie sollen wir das machen?“

„Wahrscheinlich weisen diese Rätsel uns den Weg dorthin. Lasst uns mal schauen, was wir insgesamt haben. Wir müssen in ein abgefallenes Blatt von einem Baum, auch der Blutende genannt, Wasser und Blut füllen. Blut, das wir ‒ tja, womit eigentlich? ‒ von uns abzapfen. Darum haben wir uns noch überhaupt nicht gekümmert. Bruchstücke einer Seele sollen verletzen. Aber wie können wir dadurch anfangen zu bluten?“ Ich stockte und suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, dass sich das logischer anhörte.

Mit einem Mal kam Tran eine Idee. „Was ist, wenn es keine zwei Lebenssäfte sind, sondern etwas anderes? Was ist, wenn Tränen gemeint sind? Eine Seele, die in Trümmern liegt, kann einen so sehr verletzen, dass man anfängt zu weinen. Diese Wunde ist innerlich und schließt sich auch nicht so schnell.“

Irgendetwas an dieser Auslegung störte mich, aber ich konnte nicht sagen, was es war, schließlich hörte sie sich sehr logisch an. „Glaubst du das wirklich? Kommt es dir nicht seltsam vor? Ich habe dabei nämlich kein gutes Gefühl“, gab ich zu bedenken, einfach um sicherzugehen.

„Okay, dann zurück zu deiner Frage, wie kann eine Seele körperlich verletzen?“

„Nicht ein Bruchstück einer Seele, sondern etwas, das dafür steht. Und was dachten früher die Leute, was die Seele symbolisiert?“, mischte sich nun Ana ein. Wir wussten es nicht. „Ein Spiegel! Deshalb sollen Vampire auch kein Spiegelbild haben, weil sie keine Seele besitzen. Lest ihr keine Vampirbücher? Na ja, auf jeden Fall, wenn einer zerbricht, dann haben wir Bruchstücke einer Seele, deshalb soll man Spiegelscherben auch nicht sofort aufheben, dem Aberglauben zufolge.“ Triumphierend schaute sie uns an und allmählich begriffen wir.

„Natürlich, das ist es!“, rief ich aus und freute mich kurz wie ein kleines Kind. Ich konnte mich nur mit Mühe zurückhalten, um nicht in die Hände zu klatschen, und musste über mein kindisches Verhalten noch mehr lachen. Die anderen beiden sahen mich verwundert an und fragten sich sicherlich gerade, ob ich einen Schock oder Ähnliches erlitten hatte. Als ich mich beruhigt hatte, fuhr ich fort: „Gut, also Wasser aus dem Meer und Blut von uns, nachdem wir uns an einer Spiegelscherbe geschnitten haben, die beiden Flüssigkeiten werden in dem beschriebenen Blatt zusammengemischt und dann ... was passiert dann? Ansonsten wissen wir nur, dass es in einer Sommernacht und bei Vollmond passieren muss.“

„Zur Blutenden weiß ich noch etwas. Wir haben hier im Wald eine riesige Blutbuche, und zwar nur eine einzige. Dieser Baum ist ziemlich selten, also könnte es doch sein, dass es ein Blatt von dieser Buche sein muss“, erläuterte uns Tran.

Ich nickte zustimmend, als ich bemerkte, dass Ana krampfhaft etwas aufschrieb. Schließlich drehte sie den Zettel so herum, dass wir sehen konnten, was darauf stand.

Seid leise, es schleicht jemand um den Wohnwagen herum und scheint genau zuzuhören! Er hat eine schwarze Kapuze über dem Kopf und hat vorhin durch das Fenster gestarrt.

Wir sahen uns erschrocken an, nicht nur wegen Anas Nachricht, sondern auch, weil es soeben unvermittelt an der Tür geklopft hatte. Mit zitternder Stimme sagte Tran: „Herein“, während ich die Rätsel vom Tisch nahm und schnell in meine Tasche stopfte.

Die Tür schob sich langsam auf und eine verhüllte Gestalt erschien im Eingang. Wir sogen erschrocken die Luft ein und wichen ein Stück zurück. Der Eindringling war ziemlich groß, in einen bodenlangen schwarzen Umhang gehüllt und hatte die schwarze Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er erinnerte mich irgendwie an eine Darstellung des Todes.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?“, fragte Ana angriffslustig, aber ich hörte den verunsicherten Unterton in ihrer Stimme.

Der Fremde verriegelte die Tür hinter sich und kam dann an den Tisch. Er zog sich den letzten Stuhl heran und setzte sich zu uns. Wir rückten ein Stück von ihm ab. Noch immer konnte ich kein Gesicht unter der Kapuze erkennen, obwohl ich ihm gegenübersaß und seinen Blick auf mir ruhen spürte. Dann begann er zu sprechen, seine angenehm tiefe Stimme drang in mich ein und beruhigte mich. Ich schielte zu den anderen und sah, dass auch sie sich unter seinen Worten entspannten.

„Ich bin bestrebt, euch zu helfen. Ihr habt das Rätsel teilweise gelöst, braucht momentan jedoch noch nicht mehr zu wissen, ihr könnt erst übermorgen tun, was in den Texten beschrieben wird. Dann ist zwar kein Vollmond mehr, denn der zeigt sich heute Nacht am Himmel, aber diejenigen, die dem Regenbogen entsagt haben, ziehen nun durch den Wald und würden euch töten. Ihr müsst unbedingt warten, vertraut mir.“

Ich sah ihn scharf an, mein Misstrauen kehrte zurück, und fragte: „Wie können wir Ihnen vertrauen, wenn wir nicht einmal wissen, wer Sie sind und aus welchem Grund Sie uns helfen wollen?“ Ich wusste nicht, ob ich es mir nur einbildete, aber ich glaubte, ihn leise lachen zu hören. Es war ein angenehmes, ruhiges Geräusch.

„Ich kann euch keine Antwort auf eure Fragen geben, es tut mir wirklich leid. Ihr müsst mir wohl oder übel, auch wenn es euch nicht gefällt, einen kleinen Vertrauensvorschuss gewähren. Aber was ich euch noch sagen sollte, bevor ich wieder gehen muss: Erzählt nie jemandem etwas von den Rätseln, von mir oder davon, wo ihr hingeht, verstanden? Es steht viel mehr auf dem Spiel, als ihr euch vorstellen könnt.“

Da sagte Tran mit frostiger Stimme: „Glauben Sie mir, wir wissen, was auf dem Spiel steht, dafür haben unsere Träume schon gesorgt.“

Er neigte den Kopf in ihre Richtung, sagte aber nichts mehr, sondern stand bloß stumm auf und ging zur Tür. Bevor er in die einbrechende Nacht davonhuschte, ermahnte er uns noch einmal: „Denkt daran, niemals jemandem auch nur ein einziges Wort zu sagen!“ Dann war er verschwunden und ließ uns restlos verwirrt zurück.

Waldlichter

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