Читать книгу Kollateraldesaster - A.B. Exner - Страница 10
Saarbrücken, sechs Tage später
ОглавлениеInternet ist doch was Fantastisches.
„www.waffenhq.de“ - und du findest alles, was du über ein Gewehr wissen musst. Und bei „YouTube“ stellen diese waffenverrückten Amis sogar Videos rein, in denen das Gewehr genau beschrieben wird. Sogar, wie man damit schießt und es auseinander zu nehmen hat.
Am wahnsinnigsten war der Gedanke, dass er seit Rostock, im Zug, auf dem Bahnsteig, im Bus und wo er sich überall rumgetrieben hatte, die Waffe nicht einmal gesichert hatte. Er transportierte das schwere Teil einfach so, wie er es eine Woche vorher gefunden hatte. Wie leicht hätte sich ein Schuss lösen können. Aber gut, er hatte eben keine Erfahrung mit Waffen. Doch im Internet fand man alles, was man brauchte. Auch die entsprechenden Angaben zum Visier, zur Munition, zur Reinigung. Er hatte sich etwas Waffenöl gekauft. Nicht das er sich wirklich zugetraut hätte, die Waffe auseinander zu nehmen. Aber den Gehäusedeckel hatte er abgemacht und mit einem Zerstäuber etwas Öl hinein gesprüht. Der Zerstäuber war von seiner Mutter. Eigentlich sollte in diesen, wie nannte seine Mutter das Ding, Öldosierer, genau, das war das Wort, Öldosierer, also da sollte so ein Öl rein, was sie sich immer auf ihren Mozzarella machte. Er mochte den doofen Käse nicht und seine Mutter besuchte ihn schon seit Jahren nicht mehr.
Er war jetzt 33, an den Rollstuhl gefesselt und hatte endlich seinen alten Peiniger wieder gefunden. Nichts war ihm so verhasst, wie das Internat, in das seine Eltern ihn gesteckt hatten.
In der Eifel, Junge, da ist es schön. Wunderbare Lehrer. Ein ganz neues Gebäude. Da kannst du sogar reiten. Und lernst neue Leute kennen. Da bist du so ein bisschen auch dein eigener Herr.
Seinen Vater interessierte nur, wie er das Geld für das Internat auftreiben sollte. Grundsätzlich war er schon für eine höhere Schulform. Aber weshalb in die Eifel? Der Vater wünschte es eigentlich anders. Frankreich war gleich um die Ecke von Baden-Baden. In Strasbourg würde der Junge nicht nur zweisprachig aufwachsen, sondern auch noch an einem sportorientierten, internationalen Gymnasium lernen können. Freitagabends in den Bus - und keine fünfzig Minuten später zu Haus in Baden-Baden.
Das wäre nicht nur näher dran, sondern auch billiger.
Letztlich setzte sich Mutter durch. Also Privatschule in der Eifel. Drei Jahre später starb sein Vater von einem Tag auf den anderen. Gehirnschlag. Einfach so.
Und Mutter hatte kein Geld mehr für das Internat. Sie ging ja nie arbeiten. Das Geld hatte Vater ran geschafft. Und nicht wenig. Als die Lehrer mitbekamen, dass er am Ende des Schuljahres gehen würde, beantragten sie sogar eine Art Stipendium für ihn. Es sollte nichts helfen. Antrag abgelehnt.
Keinem war die Situation angenehm.
Nur einer war sehr traurig, als Marc die Schule verließ.
Holger Baum. Der mieseste, unberechenbarste Mensch, der Marc in seinem jungen Leben begegnet ist. Intrigant und Wohltäter. Schaf und Wolf.
Holger Baum, dieses miese Schwein, wollte immer Lehrer werden und hatte ganz konkrete Vorstellungen von großdeutscher Erziehung im Stile der Schulen der 30-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. So würde er lehren wollen. Aber vorher musste er noch seine Experimente beenden. Experimente an Mitschülern. Marc Hüter war eines seiner Lieblingsopfer. Bittere vier Jahre lang glaubte ihm kein Mensch, ob Eltern oder Lehrer, dass Holger ein sadistisches Schwein war, welches die ausgeklügeltesten Methoden entwickelte, um Andere zu quälen ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Es fing damit an, dass eines Morgens Marcs Bett nass war. Nicht nur Wasser. Nein, alle mussten denken er sei ein Bettnässer. Unmissverständlich sagte Holger ihm, nachdem praktisch jeder in der Schule von der Bettnässerei wusste, dass er selbst es gewesen war und dass er noch ganz andere Sachen anstellen würde, wenn Holger nicht an Marcs Taschengeld beteiligt würde.
So ging es immer weiter. Prügel, Verbrennungen, eiskalte Duschen, Drogen in seinem Bettzeug, Kot in seinen Schuhen. Einmal war Marcs ganzer Schrank leer. Holger half scheinheilig beim Suchen.
Später kassierte er nicht mehr, er wollte „Erfahrungen mit Jungs sammeln“. Genau so drückte er sich aus. Marc, drei Jahre jünger, damals gerade elf Jahre alt, wurde gezwungen, sich einen Pornofilm anzuschauen. Dabei sollte er sich selbst befriedigen. Holger war stärker, größer, gemeiner, fieser und heimtückischer. Er hatte die Macht. Und, er hatte ein Video davon, wie Marc sich im Bibliotheksraum der Schule einen runterholte.
Damit war Marc völlig in Holgers Händen. Er wollte nur noch raus. Seine Leistungen gingen den Bach runter. Er schlief oft nicht in seinem Bett, sondern im Gewächshaus. Verdrückte sich, wo er konnte. Ein gebrochener junger Mensch von zwölf Jahren. Alle Gespräche mit Eltern und Lehrern gingen ins Leere.
Er durfte doch nichts sagen. Holger würde das Video irgendeinem Lehrer vor das Büro legen. Holger war auf dem Video nicht zu sehen. Nur Marc und ein Porno und seine Selbstbefriedigung.
Niemand könnte Holger damit belasten, niemand könnte helfen. Marc wurde dreizehn und sein Vater starb. So traurig er war, so dankbar war er. Jetzt endlich konnte er dieser Schule den Rücken kehren.
Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er in Baden-Baden Ruhe. Dann kam der Tag als plötzlich die Hölle auf Erden an seiner Tür klingelte. Er stand vor ihm, nicht nüchtern, und sagte nur: „Ich brauche Geld!“
Marc brach sofort zusammen. Er hatte gehofft, gefleht, ja sogar gebetet, dass dieses Monster längst tot sei oder wenigstens ausgewandert. Er war sofort jeglicher Ansätze seines gerade erst gewachsenen Selbstbewusstseins beraubt. Holger Baum sehen und augenblicklich zusammenknicken, war die einzige Reaktion.
War er wirklich dazu verurteilt diesem Vieh ausgeliefert zu sein?
„Gib mir Geld!“
Schon hatte er Marc am Kragen und drang in die Wohnung ein. Seine Schwester müsste gleich kommen er müsste nur durchhalten.
„Ich bin von der Schule gegangen, weil wir kein Geld hatten. Ich hab jetzt auch kein Geld.“ Marcs Antwort kam zögerlicher, als er selbst erwartet hatte. Würde er ihm glauben oder ihn schlagen?
Nichts tat Holger. Er schritt durch die Wohnung und sah sich um. Er schmiedete Pläne, dass kannte Marc. Er konnte es spüren. Gleich würde wieder etwas aus seinem kranken Hirn erwachsen.
Da lag die Vase schon kaputt auf dem Boden. „Oh, das tut mir leid. Ich bin sicher, deine Supermutter wird das verstehen. Aber dieser Fernseher, ob sie das auch verstehen wird?“ Marc war wieder allein, er hatte wieder keine Zeugen. Er war ihm, wie immer, ausgeliefert. Er war in allem stärker, auch, und vor allem, mental.
„Nicht den Fernseher. Ich hole Geld.“ Er ging in sein Zimmer und holte alles Geld was er hatte. Etwa 120 Mark. Wortlos drückte er Holger das Geld in die Hand. „Geh jetzt bitte.“
„Ich komme wieder. Das bisschen reicht nicht. Ich brauche mehr. Viel mehr. Wir sehen uns.“
Im Hinausgehen warf er noch das Telefon von der Kommode. Die Tür fiel ins Schloss.
Marc ging kontrollieren ob er wirklich weg war. Der Flur war leer. Er ging in die Knie und fing an zu weinen. Räumte das Telefon wieder auf die Kommode und holte seinen Basketball aus dem Zimmer. Damit würde er sich entschuldigen.
„Mama, mir ist der Ball runtergefallen und dann hat er die Vase…“
Ja, er hatte gelernt sich zu entschuldigen, sich zu verstecken und einzuigeln. Blöderweise musste Holger Baum, dieser elende Tyrann, zum Bund und das genau in der Nähe von Baden-Baden. Immer wieder fuhr er zu Marc. Am liebsten, wenn er nicht mehr ganz nüchtern war. Dann machte es dem Sadisten am meisten Freude, Marc bis aufs Blut zu demütigen. Später konnte Mutter die große Wohnung in dem wohl situierten Viertel nicht mehr halten. Sie zogen zu seiner Tante nach Homburg.
Dort begann er seine Lehre als Vermesser. Die Ausbildung machte Spaß und er war weit weg von Holger, wo immer der auch war. Er wurde volljährig und beendete die Lehre als Bester seines Jahrgangs. Der Stolz mischte sich mit der Ernüchterung. Der Ministerpräsident des Saarlandes überreichte die Gesellenbriefe in diesem Jahr persönlich.
Und das stand dummerweise in der Zeitung.
Keine Woche später, klopfte der Student auf Lehramt, Holger Baum, seinem Opfer auf die Schulter und gratulierte. Das sollte gefeiert werden. Wer bezahlen musste war klar. Selbst in Homburg also trieb er ihn auf. Das Geld, das beide an dem Abend versoffen, war eigentlich sein Mietanteil an der kleinen Wohnung, in der auch noch seine Schwester mit wohnte.
Marc erzählte alles seiner Mutter, seine Schwester saß daneben und flennte. Sie glaubte ihm. Die Mutter nicht. Marc besorgte sich einen Job in Heidelberg und pflegte nur noch den Kontakt zu seiner Schwester, die ihm versprechen musste, der Mutter nicht zu verraten, wo er hinging. Zwei Jahre später sah er Holger Baum in einem Zeitungsartikel. Ein gern gesehener Lehrer. Sport und Geschichte. Viele freiwillige Aktivitäten an der Schule. Verheiratet, 2 Kinder. Vorbild für die Kollegen.
Ihm platzte der Kragen.
Durch wirkliche Freunde und seine Schwester immer wieder mit seiner Jugend konfrontiert, fand Marc zu einem Selbstbewusstsein. Er war jemand. Er hatte viel erreicht.
Kein Holger Baum würde ihm jemals wieder etwas antun können. Und das wollte er sich selbst beweisen.
Er fuhr also nach Saarbrücken, zu dieser Schule. Stellte sich davor und wartete. Er würde so lange stehen bleiben, bis der Scheißkerl die Schule verließ. Er würde sich vor ihm aufbauen und ihm ins Gesicht spucken. Vor seinen Schülern, vor all den Eltern und dann würde er einfach gehen. Dieses Kapitel wäre dann für ihn abgeschlossen. Er würde sich befreien. Und genau so kam es.
Holger trat aus dem Schulportal. Marc ging auf ihn zu, nahm keinen Meter vor dem Peiniger sein Basecap ab. Der erkannte ihn sofort und realisierte schnell, dass er Marc, seinen Prügelknaben und Spielball, jetzt nicht ansprechen sollte.
Die Luft zwischen den beiden brannte. Marc Hüter fixierte die Augen seines persönlichen Teufels. Diese grünen, schwachen Augen. Er atmete tief durch. Dann rotzte er sich all seinen Frust aus Hals und Nase und spuckte dem Vernichter seiner Jugend ins Gesicht.
Holger Baum, schockiert, stierte die umstehenden Eltern und deren Kinder an. Er griff zu einem Taschentuch, das eine Kollegin ihm reichte. Wischte sich das Gesicht ab.
„Das so ein Verbrecher, so ein Sadist, so eine Sau wie du Lehrer werden konnte…?“
Marc drehte sich einfach um und ging.
Hinter sich hörte er keinen Holger kommen oder fluchen, nein, nur die Stimmen der Anderen.
Er ging weiter. Er hatte es getan. Er war frei. Er hatte sich befreit von seinem Trauma.
Der Tag öffnete sein Herz und schenkte Marc einen Sonnenstrahl. Die Wärme umfing Marc wie ein Mantel aus Belobigung. Einer Belobigung einer imaginären Macht.
Glück macht keine Vertreterbesuche. Glück, solches Glück findet man nur auf dem Weg, den man zu beschreiten bereit ist.
Die Rache ließ keine Woche auf sich warten.
Seine Mutter hätte Besuch gehabt von so einem netten jungen Mann, der fragte, ob denn der Marc in einer sicheren Stellung sei. Er habe von Marcs Ausbilder in Homburg erfahren, dass Marc jetzt nicht mehr in Homburg wohnte und würde dem Jungen so gern eine Stellung anbieten.
Die Mutter, naiv wie sie ihr Leben lang gewesen war, verwies ihn an ihre Tochter. Nur die wusste, wo Marc war.
Marcs Schwester hatte die Tür noch nicht einmal richtig geöffnet, als sie die erste Ohrfeige bekam, danach einen gezielten Schlag in den Magen, und sie ging in die Knie.
Er schlug genauso, wie ihr Bruder, Marc, es beschrieben hatte. Keine Spuren hinterlassend. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam und Holgers Grinsen wahrnahm, war ihr Wille gebrochen.
Sie verriet ihm alles. Die Anschrift, die Telefonnummer, die Arbeitsstelle, die Farbe seines kleinen Renaults... Alles. Alles was dafür sorgen würde, dass dieses brutale Arschloch ihren Bruder finden konnte.
Holger Baum ging einfach. Er stand auf und ging einfach. Sie rief sofort Marc an, der mit ihrem Freund Heino beim Einkaufen war.
Und Heino drehte durch. Baute diesen bekloppten Unfall. Na klar wollte er schnell zu seiner Freundin, aber deshalb völlig auszuticken, nur weil ein anderer ihm die Vorfahrt nahm? Und das keine hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt? Seine Schwester brauchte sie beide und beide lagen dann im Krankenhaus. Sie wollte Anzeige erstatten. Die Polizisten fragten freundlich nach Spuren der Schläge. Was sollten sie machen? Sie nahmen die Anzeige auf und gingen unverrichteter Dinge.
Heino konnte schon wieder an Krücken laufen. Marc Hüter aber wartete auf den Beginn seiner Reha.
Es war noch nicht vorbei.
Marc bekam einen Anruf von seinem Kollegen. Ob er wisse, dass ein Film von ihm im Internet aufgetaucht sei. Auf mehreren Websites könne man zusehen, wie er sich einen runterholte. Danach rief eine Kollegin von seiner ehemaligen Lehrfirma an. Sie hätten einen Brief erhalten, in dem explizit auf diese Internetseiten hingewiesen wurde. Weshalb er denn so etwas gemacht hätte?
Kollegen, ehemalige Klassenkameraden, Freunde, Nachbarn, Kumpels aus dem Bowlingclub, und natürlich seine Mutter, alle wurden anonym informiert. Nur seine Schwester nicht. Sie war die Einzige, die ihm jetzt, nach dem Überfall durch Holger Baum, vorbehaltlos Glauben schenkte.
Wie Holger die ganzen Anschriften herausbekommen hatte, blieb ihm ein Rätsel. Er hatte an alle gedacht. Auch an die ehemaligen Lehrer. Jedoch niemand von denen, die ihm Auskunft geben wollten und ihm glaubten, konnte nachweisen, woher die Briefe kamen.
Alles perfekt anonym.
Hatte Holger Marc wieder das Rückgrat seines gerade erwachten Selbstbewusstseins gebrochen? Ihm wieder die Seele und die Selbstachtung genommen?
Marc zog sich in die Reha zurück und trainierte. Er kämpfte wie ein Wahnsinniger um sich selbst. Übte auch in der Freizeit, wo immer es ging. Im Rollstuhl sitzend, spannte er die Muskulatur an beiden Beinen immer abwechselnd an, solange er es eben aushielt. Sein Oberkörper nahm in den drei Monaten beachtliche Ausmaße an. Er floh in den Trainingsraum und kam erst wieder heraus, wenn er rausgeworfen wurde. Und dann empfahl man ihm Frau Dr. Barz. Eine absolute Expertin für den unteren Bewegungsapparat und die Motorikschulungen von Rekonvaleszenten. Allerdings war Dr. Barz solch eine Koryphäe, dass jeder, der etwas von ihr wollte, auch zu ihr kommen musste. An die Ostsee. Nach Heiligendamm. Die Kuranträge für Marc wurden bestätigt und er nahm sich vor, seine Oma im Osten zu besuchen. Und bei eben diesem Besuch, nach Beendigung der Behandlung durch die attraktive Frau Doktor, bei seinem letzten Ausflug, machte Marc die Erfahrung, dass Schicksal auch bedeuten kann, dass er einmal Oberwasser bekommt. Er hatte eine Waffe.
Jetzt war es soweit. Kein Mensch wusste von ihm. Er hatte auch keine Anzeige wegen des Videos erstattet. Keiner würde auf Holger kommen, denn der hatte beim Einstellen des Videos ins Internet definitiv keine Spuren hinterlassen.