Читать книгу Kollateraldesaster - A.B. Exner - Страница 11

Saarbrücken, Mecklenburger Ring 72, 10. Etage, ein Etagenhaushaltsraum

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Glücklicherweise hatte er seinen alten Kassenrollstuhl wieder. Dieses elektrische Mistding aus der Rehaklinik hätte nicht durch die Tür gepasst. Er hatte das Fenster geöffnet. Das vierte Schulklingeln heute schon. Noch zweimal. Dann würde er ans Fenster rollen und die Waffe aufnehmen, anlegen und schießen. Er hatte gelernt, die Waffe zu laden, zu sichern, zu entsichern und sie ordentlich in die Schulter einzuziehen. Der Rückschlag sollte enorm sein. Egal, er war jetzt, nach der Reha, sehr gut trainiert. Doch mit der Visiereinrichtung des Gewehrs hatte er so seine Probleme. Die Entfernungsbestimmung war im Internet umständlich erklärt; war ja auch nicht das Originalvisier. Na und? Wozu war er Vermesser? Er hatte einen Laserdisto in seiner Wohnung.

Vorgestern, als er den Raum schon ausgekundschaftet hatte, hielt er den Distomaten aus dem Fenster, zielte auf das Fahrzeug vor dem Eingang der Rostocker Straße 87 und löste den Laser aus. Eine Sekunde später wusste er es genau. 142 Meter Luftlinie würde Holger Baum von ihm entfernt sein.

Rostocker Straße, das fiel ihm jetzt erst auf. Das musste Schicksal sein.

Rostock brachte ihm wohl doch noch Glück, oder was?

Die Schwalben hatten sich fein gemacht. In größerer Höhe sammelten sich Tauben. Hunderte Tauben. Der Himmel war durchbrochen von feinen, leuchtenden Streifen. Die Vögel reagierten auf etwas für Marc nicht Erkennbares. Langsam entschwanden die Tiere in Richtung des Parks aus seinem Sichtfeld. Eine Wolke verdunkelte kurz, durch einen langen Schatten, die Bäume am Rande des Parks. Ein Pärchen sah einem tobenden Hundepaar zu. Marc nahm den Geruch erst wahr, als er auch die dezenten Rauchschwaden sah. Der Hackbraten, in einer Küche unter ihm, war mit Sicherheit angebrannt. In der Ferne schrillten die Sirenen eines Krankenwagens. Und da war noch ein anderes Geräusch.

Ja, es klingelte schon wieder. Die Schulklingel. War er wirklich so lange seinen Tagträumen erlegen? Langsam rollte er ans Fenster. Die Sonne blendete etwas. Jetzt erst sah Marc die ganze Schule und den Parkeingang dahinter. Einige Boule-Spieler waren zu erkennen. Die Kinder würden genau wie gestern auch aus der Schule rennen. Auf dem Parkplatz vor der Schule, der gleichzeitig das Ende der Sackgasse Rostocker Straße war, würden wieder die Autos der Eltern warten und wenig später würde der Verbrecher die Schule verlassen, zu seinem Citroën treten und sterben. Die Kinder waren dann schon lange weg.


Dann würde Marc die Handschuhe ausziehen, die Plastikhaube vom Schirm seines Basecaps abnehmen und in den alten Pullover einrollen. Genauso wie die Plane, die er auf dem Schoß hatte. Den Rest übernahm Heino. So dürften eigentlich keine Schmauchspuren an ihm zu finden sein. Hoffentlich trifft er auch gleich. Er hatte noch nie geschossen. Auf dem Rummel mit seinem Vater hatte ihn vielmehr der Autoskooter interessiert. Am liebsten war ihm, wenn er allen anderen geschickt ausweichen konnte, ohne eine Berührung. Nicht dass er Angst gehabt hätte, nein, aber draufhalten, das konnten alle. Seinem Vater imponierte das sehr. Wie er seinen Vater vermisste. Würde der jetzt auch schießen? Er wusste es nicht und würde es auch nie erfahren. Er aber würde es tun.

Marc sah auf die Uhr. In vier Minuten würde es zum letzten Mal an diesem Tag in der Schule und vor allem zum letzten Mal für Holger Baum klingeln.

Er fuhr zum Fenster, nahm das Gewehr, ein russisches SVD Dragunow, wie er im Internet erfahren hatte, und steckte das Magazin in die Öffnung. Er hatte sogar die Munition einmal rausgenommen und sich angesehen. Er hatte Respekt vor den Projektilen. Acht der Patronen hatte er wieder in das Magazin getan. Eine Patrone mit einem grünen Punkt auf der Spitze hatte er zu Hause versteckt. Die würden ihn sowieso nicht finden.

Eine Patrone als Trophäe.

Nach dieser Aktion würde er ein Mörder sein, ein anderer Mensch.

Aber einer, der ruhiger leben können würde als vorher.

Er entsicherte mit dem Hebel auf der rechten Seite. Langsam zog er den Spannhebel nach hinten und ließ los. Jetzt, so wusste er inzwischen, war eine Patrone im Lauf. Er legte den Gurt um den Unterarm, so wie auf der Zeichnung im Internet. Ob Heino schon wartete? Bestimmt.

Der Lauf des Gewehres lag auf dem Fensterbrett auf. Es klingelte. Er nahm die Schutzhülle von der Optik. Sein Kopf näherte sich der Gummikappe des Visiers. Die Kappe hatte er umgestülpt, damit er mit seiner Plastikfensterkonstruktion vor den Augen überhaupt nah genug an das Okular kam.

Jetzt sah er einwandfrei. Die Sonne störte nicht. Der Wind, so stand im Internet, sei bei Entfernungen unter 250 m zu vernachlässigen. Durch die Rasanz des Geschosses würde der Wind keine Probleme machen. Und dann stand da noch was von der Entfernung des direkten Schusses. Das hatte er so verstanden, dass er bei seinem Schuss nichts zu beachten hätte, als genau auf die Zielmitte zu halten. Und dann stand da noch, er solle nicht durchreißen. Oder durchziehen? Er wusste es nicht mehr so genau.

Egal, er war so nah dran, dass er die Beschriftungen der T-Shirts der Kinder lesen konnte. Die ersten Autos fuhren kindergefüllt los. Andere Kinder gingen nach Hause, durch den Park, an den Boule-Spielern vorbei. Einige liefen auch in seine Richtung, aber sie konnten ihn nicht sehen. Weitere Autos fuhren vor. Kinder sprangen hinein und schon waren die Autos wieder weg.

Der Citroën Picasso stand immer noch. Er nahm die Fahrertür ins Visier.

Seine Gedanken sprachen mit ihm. Wie so oft.

„Komm Holger, du hast nur Mittagspause. Danach geht dein Sporttraining los, ohne Trainer.“

Eine brünette, angenehme Erscheinung verließ das Schulgebäude und ging zum Citroën, zu Holgers Picasso. Wollte sie jetzt damit fahren? Sie ging auf die Beifahrerseite. Also, doch nicht. Dann würde sie erleben, wie Holger starb. Pech gehabt. Ihr Trauma nach diesem Erlebnis würde auch nicht schlimmer sein können, als Marcs Trauma, seit ihm dieser Typ im Alter von neun Jahren zum ersten Mal begegnet war.

Holger kam. Er winkte der Wartenden zu. Suchte seinen Autoschlüssel, fand diesen, drückte auf den Knopf der Fernbedienung. Die Blinker zeigten an, dass die Türen offen waren. Die Frau stieg ein. Holger Baum näherte sich. Fasste die Tür an. Der Kopf war genau im Visier.

Marc spannte alle Muskeln an und zog den Abzug durch. Scheiße, war das laut. Die Sperre des Rollstuhls hätte er wohl mal besser auch fest gemacht. Er konnte nicht mehr aus dem Fenster sehen. Musste sich erst wieder dorthin schieben. Er nahm die Waffe neu auf und schaute durch die Optik.

Holger kniete neben seinem Auto. Er hielt sich die rechte Schulter. Die war rot.

Die Schulter, aha das meinten die im Internet also mit Abkommen. Abkommen vom eigentlich angestrebten Ziel, weil man zu sehr verkrampft. Also, noch mal.

Wie war das jetzt gleich: Einatmen, Luft anhalten, von unten in das Ziel visieren und langsam durchziehen. Holger Baum, verletzt, mit leerem Gesicht und ohne jedes Verständnis für das Geschehene, drehte sich um.

Der Schuss brach. Die enormen Kräfte, die Marc sich antrainiert hatte, ließen die Waffe nicht erneut zittern. Jetzt wusste er um den Rückstoß und den Knall. Holger Baum schaute zu dem Haus, in dem der Schütze saß. Marc schaute in das Visier.

Es war so eine Patrone mit einem kleinen grünen Punkt auf der Spitze. Jetzt.

Das Projektil schlug genau in Holgers Nase ein.

Marc musste weg hier. Er hatte Angst. Er war seit einigen Sekunden ein Mörder.

Hoffentlich war Heino schon da.

Er ließ die Waffe fallen. Riss sich den Plastikschutz vom Basecap, zog den alten Pullover aus und rollte seinen mobilen Stuhl aus dem Raum. Heino stand bereit. Sie fuhren mit dem Aufzug gemeinsam nach unten. Heino nahm auch die Handschuhe an sich und die große Folie, die Marc auf dem Schoss hatte. Heino stieg als erster im Erdgeschoss aus.

„Und jetzt schubs mich und lauf, lauf.“ Heino griff den Rollstuhl und schob diesen mit Gewalt gegen die Wand neben den Briefkästen. Marc stürzte aus dem Rollstuhl robbte sich noch ein bisschen die Treppen hinunter und blieb liegen.

Na klar hatte er den Täter gesehen. Von hinten. Der hatte ihn ja hier die Treppe runter gestoßen.

Das würde seine Aussage sein. Von hinten, nur von hinten.

Heino entsorgte Handschuhe, Folie und Plastikvisier im Container. Sollten die Ermittler doch ruhig Spuren finden. Ein vom Tatort weg Rennender, der Utensilien mit Schmauchspuren hinterlässt, ist das beste Alibi für Marc.

Er wusste, dass jetzt ein neuer Tag angebrochen war. Sein Tag.


Kollateraldesaster

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