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1.6„Die Linke“ und „die Juden“

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Am 27. Oktober 1893 hielt August Bebel auf dem Kölner Parteitag der Sozialdemokratischen Partei ein Grundsatzreferat, welches das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Antisemitismus klären sollte. Seit drei Jahren war das Sozialistengesetz, das zwischen 1878 und 1890 galt und sozialdemokratische bzw. sozialistische Vereine, Versammlungen und Schriften verbot, nicht mehr in Kraft. Am 15. Juni 1893 war der Reichstag gewählt worden und der vom Sozialistengesetz befreiten Sozialdemokratischen Partei war es gelungen, 23,3% der Stimmen zu erzielen, womit sie einen Stimmengewinn verbuchen konnte und nach Stimmenanteil stärkste Partei war. Zulegen konnten auch die antisemitischen Parteien, die zwar nur auf 3,7% der Stimmen kamen, was einem Plus von 2,7% entsprach, doch mit 16 Abgeordneten (SPD: 44) alles andere als unbedeutend waren, zumal der Antisemitismus keineswegs auf die Antisemitenparteien beschränkt war, so vertrat etwa auch die Deutschkonservative Partei (DKP) antisemitische Positionen. Die DKP hatte bereits bei früheren Reichstagswahlen auf antisemitische Ressentiments gesetzt und stellte im Jahr 1893 mit 72 Abgeordneten die stärkste Fraktion. Als sich gegen Ende der 1880er-Jahre im dt. Kaiserreich eine zweite Welle des Antisemitismus abzeichnete, reagierten auf diese Entwicklung liberal- und humangesinnte Personen, die 1890 den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ gründeten.

Auch die deutsche Sozialdemokratie erkannte nunmehr die Bedeutung des Antisemitismus, sodass im Vorfeld des Kölner Parteitags der Parteivorstand den Punkt „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ auf die Tagesordnung setzte. Das von August Bebel gehaltene Grundsatzreferat stellte die erste offizielle Beschäftigung der Sozialdemokraten mit der Thematik dar und lässt sich als konfuser Mix aus antirassistischen, antisemitischen wie philosemitischen Positionen bezeichnen, der die Relevanz des Antisemitismus gründlich unterschätzte. Der Vortrag Bebels dürfte zur Klärung der Thematik kaum etwas beigetragen haben, zumal eine Debatte über das Referat per Abstimmung verhindert wurde, was weniger dem Zeitregime des Parteitags als vielmehr der Befürchtung geschuldet war, die Diskussion könne höchst unterschiedliche Positionen offenbaren. Bebel definierte Antisemitismus als »Feindschaft gegen die Juden mit dem Ziel ihrer Vernichtung oder wenigstens ihrer Vertreibung«, die eine »mehr als anderthalbtausend Jahre« alte Erscheinung sei. Der aktuelle Judenhass müsse ernst genommen werden, da er »Widerhall in den Massen« finde, und sei auf seine Ursachen hin zu untersuchen. Die Problematik der Ausführungen des Parteivorsitzenden tritt spätestens bei der affirmativen Übernahme des um 1890 allgegenwärtigen Rassebegriffs zutage:

»Dazu kommt die Abneigung, die zwischen Menschen verschiedener Rasse, namentlich bei Menschen auf niedriger Kulturstufe, allgemein vorhanden ist. Und eine Verschiedenheit der Rasse besteht zwischen den Juden und der übrigen Bevölkerung. Wir sehen ja, wie noch heute der Nationalhass, der milder als der Rassenhass ist, von der Bourgeoisie geschürt, tief eingewurzelt ist, da begreift sich umso leichter das Vorhandensein des Rassenhasses. Es handelt sich eben um zwei in ihrem Charakter und ihrem ganzen Wesen grundverschiedene Rassen, deren Grundverschiedenheit durch 2.000 Jahre hindurch bis heute aufrechterhalten worden ist. Hat denn gar der unter einem anderen Volke lebende Jude das Malheur, durch sein Äußeres aufzufallen, so dass man ihm gewissermaßen schon an der Nase ansieht, dass er ein Jude ist (Heiterkeit), also im bösen Sinne des Wortes als ein Gekennzeichneter angesehen wird, so begünstigt dies noch die Rassenfeindschaft.« (Parteitagsprotokoll des Kölner SPD-Parteitags von 1893, S. 226/227)

Wie die völkische Rechte, so definiert auch Bebel die Juden als biologische „Rasse“, was durch den Tatbestand der sich anschließenden rassifizierenden Physiognomisierung (»Judennase«) noch verstärkt wird, die rassistische Lacher (»Heiterkeit«) erzeugte. Die Imagination Bebels von zwei antagonistischen Rassen, deren Eigenschaften unveränderbar seien, da sie in ihrem Wesen ruhten, sowie von den Juden als kulturell niedrigstehender „Rasse“ könnte durchaus auch der Rede eines völkischen Politikers entstammen. Rassistische Lacher des Parteitags vermerkt das Protokoll ebenso bei der folgenden philosemitisch gehaltenen Passage:

»Ich gestehe, ich kann eine gewisse Bewunderung nicht unterdrücken für eine Rasse, die trotz all dieser furchtbaren Verfolgungen sich dennoch in ihrer Art weiter entwickelt und selbständig erhalten hat; eine Erscheinung, die außer bei den Juden nur noch bei einem Volke in der Geschichte, den Zigeunern, sich zeigte (Heiterkeit).« (Parteitagsprotokoll des Kölner SPD-Parteitags von 1893, S. 227)

Nachdem Bebel die jahrhundertewährende Entrechtung der Juden geschildert sowie die Aufhebung der staatsbürgerlichen Beschränkungen für die Juden begrüßt hat, charakterisiert er die antisemitische Bewegung als Reflex auf die ökonomische Krise und den Börsencrash von 1873. Zwar erkennt Bebel ökonomische wie soziale Ursachen für das Aufkommen des Antisemitismus, verbindet diese Ansicht jedoch mit der fatalen These, die antisemitische Bewegung werde revolutionierende Effekte zeitigen, da sich diese letztendlich gegen das Kapital wenden müsse und dann »die Stunde der Ernte« für die Sozialdemokratie käme. In der vom Parteitag angenommenen Resolution heißt es gar, trotz ihres reaktionären Charakters werde die antisemitische Bewegung gegen ihren Willen revolutionär wirken. Betont wird zwar, dass die Sozialdemokratie den Antisemitismus bekämpfe, doch da die Lösung aller Probleme in der Aufhebung des Kapitalismus gesehen wird, wodurch der Antisemitismus absterben würde, bleibt das Postulat wirkungslos, insofern eine Eigenständigkeit des Kampfes gegen den Antisemitismus auf diese Weise de facto negiert wird. In dieser Negation lag eine fatale Unterschätzung des Antisemitismus seitens „der Linken“, die dessen weiteren Siegeslauf mit ermöglichte.

Das von Bebel adaptierte Rassendenken führt im weiteren Verlauf seines Vortrags dazu, dass der sozialdemokratische Parteiführer sich der rassistischen Markierung bedient, sodass es fortwährend „der Jude“ heißt. Auch für Bebel ist „der Jude“ so „der Fremde“, dessen prozentualer Anteil auf wichtigen ökonomischen wie kulturellen Feldern zu erfassen sei und dessen anteilige Relevanz zur Ursache des Antisemitismus wird, wenn es heißt:

»Wenn heute der Bauer seine Produkte verkauft, Kartoffeln, Getreide, Hopfen, Tabak, Wein, wer sind seine Käufer? Juden. Wer leiht ihm die Kapitalien, wer kauft und verkauft sein Vieh? Juden. […] Und nun tritt auch auf dem Gebiet der Industrie der Jude in Konkurrenz. Die fabrikmäßige Schuhmacherei, die Schneiderei, der Handel mit Kleidern, neuen und alten, die Tuchfabriken etc. liegen mehr oder weniger in den Händen der Juden. Der Jude, der als Großhandelstreibender eine Menge kleiner Handwerker beschäftigt, der als Kapitalist en gros, als Ausbeuter auch auf diesem Gebiete auftritt, muss natürlich auch unter seinen Konkurrenten den Antisemitismus hervorrufen.« (Parteitagsprotokoll des Kölner SPD-Parteitags von 1893, S. 227)

Einmal in die Falle des Rassenkonstrukts und der damit verbundenen rassistischen Markierung getappt, generiert „der Jude“ bei Bebel immer mehr zum eigentlichen Verursacher des Antisemitismus. Während beim Geldverleih der „Wucherjude“ die Schuld trägt, ist es an den Universitäten im Geiste eines philosemitischen Konstrukts der fleißige, strebsame jüdische Student, der nicht bummelt und nicht säuft, der den Neid seiner Kommilitonen entfacht.

Die höchst problematische Beziehung zwischen „der Linken“ und „den Juden“ war indes schon älter als Bebels Rede, die als gedruckte Broschüre stark rezipiert wurde. Wirkung auf sozialdemokratische Intellektuelle hatte ebenso die im Jahr 1844 veröffentlichte Schrift Zur Judenfrage von Karl Marx. Die antisemitischen Töne, Stereotype wie Intentionen des Verfassers sind in dieser Abhandlung unverkennbar und veranlassten bereits Hannah Arendt dazu, von einer Schrift zu sprechen, die für den »Antisemitismus der Linken« als »klassisch« gelten könne. Deutlicher noch als bei Bebel kommt bei Marx der antisemitische Kern zum Ausdruck, der die sozialistischen Debatten bezüglich der „Judenfrage“ im 19. Jh. prägte. Für den Sozialisten Marx besitzt das Judentum keine perspektivische Existenzberechtigung und zwar weder als Religion, noch als Volk bzw. Nation. Die Lösung der „Judenfrage“ besteht hier im Sozialismus, mit dem das Judentum verschwände und zugleich der Antisemitismus absterbe, so Marx und dessen Epigonen. Derweil der Antisemitismus indes noch nicht verschwunden ist, reproduziert auch Marx dessen Pejorativ, d. h. abwertenden Stereotype, nach Kräften, so heißt es etwa:

»Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. […] Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muss. Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum. […] Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.« (MEW Bd. 1, Berlin 1977, S. 372/373)

Die antijüdische Assoziierung von Geld und Judentum wird bei Marx in einer Weise betrieben, dass „der Jude“ kausal für die Globalisierung des Geldverkehrs verantwortlich gemacht wird. „Der Jude“ mutiert bei Marx zum Protokapitalisten, sein Finanzgebaren, sein ihm wesensmäßiger Schachergeist hätten die „christlichen Völker“ infiziert und aus dem Christen den „Geldbesessenen“ gemacht. Mit dem „christlichen Kapitalisten“ müsse folglich auch der „jüdische Protokapitalist“ verschwinden. Angesichts der Schärfe der Passagen, die dem Judentum offen seine Existenzberechtigung absprechen, ist es verharmlosend, wenn betont wird, Marx sei lediglich ein Antisemit des Wortes aber nicht der Tat gewesen. Es ist schlicht Hass, wenn Juden in generalisierender Weise bei Marx als Personen charakterisiert werden, die nicht davor zurückschreckten, das eigene Weib zu verschachern. Der Übergang vom Wort zur diskriminierenden Tat ist zumal fließend, wenn Marx seinen Kontrahenten Ferdinand Lassalle als »jüdischen Nigger« bezeichnet, als »Jüdel Braun«, »Ephraim Gescheit« und »Itzig«. Die rassistische Markierung auf die Spitze treibend, schreibt Marx über Lassalle 1862 in einem Brief an Friedrich Engels:

»Der jüdische Nigger Lassalle, der glücklicherweise Ende dieser Woche abreist, hat glücklich wieder 5000 Taler in einer falschen Spekulation verloren […] Es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen (wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem Nigger kreuzten). Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.« (Marx an Engels im Jahr 1862, MEW Bd. 30, S. 257)

Gleichwohl dürfen die Unterschiede zwischen Marx und Bruno Bauer, auf dessen 1843 erschienene Schrift Die Judenfrage sich die Marx’sche Abhandlung bezog, nicht übersehen werden. Während Bauer mit linkshegelianisch-sektiererischen Argumenten die Judenemanzipation im christlichen Staat ablehnte, schrieb Marx in einem Brief an Arnold Ruge am 13. März 1843:

»Soeben kömmt der Vorsteher der hiesigen Israeliten zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag, und ich will’s tun. So widerlich mir der israelitische Glaube ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt. Es gilt so viel Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, soviel an uns, einzuschmuggeln. Das muß man wenigstens versuchen – und die Erbitterung wächst mit jeder Petition, die mit Protest abgewiesen wird.« (MEW Bd. 27, S. 418)

Marx unterstützte also die Petition der jüdischen Gemeinde, wenngleich seine Aversion auch hier im Terminus »widerlich« zum Ausdruck kommt und seine Unterstützung weniger grundsätzlicher als vielmehr taktischer Natur ist.

Bereits der Historiker Edmund Silberner wies darauf hin, dass der von Marx diskriminierte Lassalle seinerseits ebenso nicht mit judenfeindlichen Bemerkungen sparte und sich bei nahezu allen sozialistischen wie anarchistischen Stammvätern des 19. Jh.s erschreckende Passagen finden lassen, so u. a. bei Charles Fourier, Pierre-Joseph Proudhon, Johann Baptist von Schweizer, Beatrice Webb und Michael Bakunin.

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