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1.7Pangermanismus in Österreich

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Jahrelang dauerte die Debatte um die Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in Wien. Nicht zuletzt die Universität Wien wünschte eine Änderung ihrer Adresse angesichts des historisch belasteten Namens. Im Jahr 2012, drei Jahre vor der 650-Jahr-Feier der Alma Mater, war es soweit. Der Abschnitt der Ringstraße, an dem die Universität wie das Burgtheater liegen, wurde in Universitätsring umbenannt. Eine Umbenennung erfuhr ebenso die Dr.-Karl-Lueger-Gedächtniskirche auf dem Wiener Zentralfriedhof (Friedhofskirche zum heiligen Karl Borromäus). Bestehen blieben indes der Dr.-Karl-Lueger-Platz sowie mehrere Gedenktafeln des ehemaligen österreichischen Politikers und Wiener Bürgermeisters von 1897 bis 1910.

Der als Rechtsanwalt tätige Karl Lueger (1844–1910) entschied sich bereits früh für die Politik. Als Mitglied des Wiener Gemeinderats gab er sich den Gestus eines Kämpfers für die Interessen der „kleinen Leute“. Im Jahr 1893 etablierte sich in Österreich die von Lueger angeführte Christlichsoziale Partei, die um das Kleinbürgertum sowie um das durch die Hochindustrialisierung verunsicherte mittlere Bürgertum warb, wobei die Christlichsozialen die soziale Frage rhetorisch mit der vermeintlichen „Judenfrage“ verbanden. Antikapitalistische Rhetorik verknüpfte sich mit antisemitischer Agitation zu einem höchst populären Gemisch, das relevante Wählermassen zu mobilisieren vermochte. Der Antisemitismus stellte eine gezielte politische Strategie dar, mit der die Christlichsozialen im multikulturellen Wien der Jahrhundertwende die verschiedenen Ethnien sowie Migrantengruppen gegeneinander ausspielten sowie Sozialneid auf Kosten der Juden entfachten. In den Hetzreden Luegers erschienen die Juden in generalisierender Weise als skrupellose soziale Aufsteiger, die ihren Wohlstand auf den Rücken einfacher Handwerker erworben hätten und die in systematischer Weise gesellschaftliche Schlüsselstellungen eroberten, um die mit ehrlicher Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienende katholische Bevölkerung zu unterjochen. Das Großkapital stellte Lueger als eine „jüdische Erfindung“ dar, die das Kleinbürgertum zu Bettlern mache und das mittlere Bürgertum in den Ruin treibe.

Bei der Nationalratswahl 1920 zeigte das Wahlplakat der Christlichsozialen Partei das Staatswappen der Ersten Republik (1919–1934), d. h. den schwarzen „Bundesadler“ mit den Emblemen Hammer und Sichel, der von einer blutroten Schlange erdrosselt wird, deren Kopf mit sogenannter „Judennase“, Schläfenlocken und Kippa sowie einer gespaltenen Zunge zum Juden konstruiert ist. Das Plakat propagiert die Losung: »Deutsche Christen – Rettet Österreich!« „Der Jude“ beherrsche das arbeitende christliche Volk, das von der Herrschaft des jüdischen Großkapitals befreit werden müsse, so die Message. Anklänge zur antisemitischen Propaganda der NSDAP der 1920er-Jahre sind alles andere als zufälliger Natur, zumal es das Wien Luegers war, das den jungen Adolf Hitler politisierte, der sich im Jahr 1910 in die endlosen Schlangen derjenigen einreihte, die dem Wiener Bürgermeister die letzte Ehre erwiesen. In Hitlers Mein Kampf heißt es wenige Jahre später: »Heute sehe ich in dem Manne mehr noch als früher den gewaltigsten Bürgermeister aller Zeiten.« Im Jahr 1926 wurde für Karl Lueger, der neben Georg von Schönerer (1842–1921) und Karl Hermann Wolf (1862–1941) den österreichischen Antisemitismus prägte, an der Wiener Ringstraße ein übergroßes Denkmal enthüllt, das im Jahr 2016 mit einer Informationstafel versehen wurde, um auf den Antisemitismus des Führers der Christlichsozialen hinzuweisen.

Die Berliner Illustrierte Zeitung druckte am 5. März 1942 auf ihrem Cover ein Foto des Schauspielers Rudolf Förster in seiner Rolle als Dr. Karl Lueger ab und schrieb dazu: »Der Film ›Wien 1910‹ wird von dem mutigen Kampf dieses großen Mannes um die Lösung sozialer Probleme erzählen.« Zur Besetzung des 1943 erschienenen NS-Propagandafilms gehörten ebenso Lil Dagover und O. W. Fischer, den österreichischen Antisemiten Georg Ritter von Schönerer spielte Heinrich George. Die Handlung des Films setzt wenige Tage vor dem Tod Luegers ein. Die in Wien kursierende Nachricht vom bevorstehenden Ableben des Bürgermeisters kommentieren die Juden der Stadt mit klammheimlicher Freude. Der Film präsentiert Lueger als Person, die sich selbstlos wie aufopferungsvoll für das Gemeinwohl einsetzt. Lueger erscheint als Kämpfer gegen profitgierige Kapitalisten, die dem einfachen Volk durch ihre Spekulationen schaden, wie gegen die mit ihnen verbündeten Juden. Um das Ableben Luegers zu beschleunigen, schließt sich Kommerzialrat Lechner mit dem jüdischen Chefredakteur Dr. Victor Adler zusammen, der das Versprechen abgibt, einen Leitartikel zu schreiben, der Lueger „den Rest geben“ werde. Über die Schlagzeilen des folgenden Tags gerät nicht nur Lueger sich körperlich gefährdend in Rage, sondern ebenso der „gesunde Volkszorn“. Die aufgebrachte Wiener Bevölkerung verwüstet daraufhin die Redaktion der jüdischen Zeitung. Angesichts der Zerstörung schwört Adler abgrundtiefe Rache zu nehmen. Zwar huldigt der Film Lueger als dem einstigen Idol Hitlers, attackiert den Zeichen der Zeit entsprechend den Wiener Bürgermeister indes ebenso aus dem Blickwinkel eines noch radikaleren Antisemitismus, der von Georg Ritter von Schönerer verkörpert wird. Schönerer wirft Lueger vor, dem »morschen Gebilde« der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn die Treue gehalten zu haben. Lueger habe seine wahre Mission verfehlt, die Schönerer mit den prophetischen Worten »Es wird einmal ein Reich sein aller Deutschen« beschreibt. Die Zeit, so verkündet der dt. Schauspieler George, »ist reif, überreif, wer sich ihr entgegenstellt wie Vieh, der hat die Opfer zu verantworten, die unnötig fallen.« Der Antisemitismus Schönerers war dem dt. Nationalsozialismus insofern adäquater, als er sich radikaler gebärdete als der Luegers sowie mit ausgeprägten biologistisch-rassistischen Positionen einherging. So heißt es beispielsweise in einer Rede Schönerers im österreichischen Reichsrat:

»Unser Antisemitismus richtet sich nicht gegen die Religion, sondern gegen die Rasseneigentümlichkeiten der Juden, die sich weder unter dem früheren Drucke, noch unter der jetzigen Freiheit geändert haben; vielmehr zeigen sich die Juden bekanntlich seit der Emanzipation übermütiger, hartherziger, ausbeutungssüchtiger und schadenfroher als je, und überall sehen wir sie im Kampfe gegen die bestehenden staatlichen Ordnungen, überall im Bunde mit den Elementen des Umsturzes und bemerkenswerterweise auch in jenen Ländern, wo sie es zu einem enorm schnellen materiellen Emporblühen gebracht haben.« (Oomen 1978: 109)

Schönerer beeinflusste Hitler in der Wiener Zeit in erheblichem Maße, sodass die cineastische Huldigung des Führers der Deutschnationalen sowie der späteren Gallionsfigur der Alldeutschen Vereinigung die des Wiener Bürgermeisters im „Lueger-Film“ noch übertrifft.

Von 1848 bis zu seinem Tod im Jahr 1916 herrschte in Österreich-Ungarn Franz Joseph I. (1830–1916). Alles andere als frei von Antisemitismus, war dem Kaiser gleichwohl der „Radau-Antisemitismus“ eines Lueger zuwider, sodass er dessen Ernennung zum Wiener Bürgermeister mehrfach verhinderte. In der komplexen Konstellation der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie setzten die Gegner der Liberalen – der Bismarck’schen Wende von 1878/79 vergleichbar – auf den Antisemitismus, den sie erfolgreich als politische Waffe im Kontext der Nationalitätenprobleme in der Doppelmonarchie benutzten.

In Prag entfachte August Rohling (1839–1931), der an der dortigen Universität eine Professur für Theologie bekleidete, seine Hetze gegen den jüdischen Talmud, wobei er sich maßgeblich auf das Werk Das enthüllte Judentum von Eisenmenger stützte. Stets aufs Neue betonte Rohling, »die von Eisenmenger aus klassischen jüdischen Schriftstellern gelieferten Auszüge« seien mit einer Treue geliefert und übersetzt, »die jede Probe aushält.« In seinem im Jahr 1871 erschienenen Werk Der Talmudjude behauptete Rohling, der Talmud lege allen Juden auf, Nichtjuden zu schädigen und wenn möglich diese gar zu töten. Das Gesetz »Du sollst nicht stehlen«, so der Prager Kanonikus, bezöge sich einzig und allein auf das jüdische Eigentum, das Besitztum der Christen gelte den Juden hingegen als verlassenes Gut, »als der Sand im Meer«, dessen erster Besitzergreifer der wahre Eigentümer sei. Rohlings Behauptung, die jüdische Religion gestatte es dem Juden, den Christen nach Herzenslust zu bestehlen, geht mit antijüdischer Kriminalisierung Hand in Hand, wenn es heißt: »Unter 12 Diebstählen oder Betrügereien, welche zu Leipzig abgeurtheilt wurden, waren 11 von Juden begangen.« Das Volk Gottes, so Rohling, sei eine »parasitische Pflanze«, die auf den anderen Völkern und ihrem Boden schmarotzend gedeihe. Der Prager Professor für katholische Theologie stellte gleichfalls die Behauptung auf, das Gebot »Du sollst nicht töten« bezöge sich nur auf Juden. Der Talmud, so Rohling, lehre den Juden, dass es rechtens sei, den Nichtjuden umzubringen. Derjenige Jude, der das Blut eines Nichtjuden vergösse, bringe aus der Sicht des Talmuds Gott ein Opfer dar; so heißt es in der Schrift Der Talmudjude hetzerisch:

»Es ist Recht, sagt der Talmud, den Minaeer d. i. Ketzer mit den Händen umzubringen. Wer das Blut der Gottlosen (d. h. der Nichtjuden) vergießt, sagten die Rabbiner, bringt Gott ein Opfer dar. […] Das Gebot, du sollst nicht tödten […] bedeutet, daß man keinen Menschen von Israel tödte: - Gojim […] und Ketzer sind aber keine Israeliten. Wer aber eine Seele aus Israel umbringt, sagt der Talmud, dem wird es angerechnet, als ob er die ganze Welt umgebracht hätte; und wer eine israel. Seele erhält, als wenn er die ganze Welt erhalten hätte.« (Rohling 1872: 41)

Im Jahr 1882 trat Rohling in einem ungarischen Ritualmordprozess als Gutachter auf. Der vermeintliche Ritualmord von Tiszaeszlár folgte weitgehend dem klassischen mittelalterlichen Muster. Das Verschwinden eines vierzehnjährigen Bauernmädchens am 1. April 1882 wurde den Juden angelastet. Antisemitische Abgeordnete verbreiteten die Beschuldigung, das Kind sei anlässlich des jüdischen Pessachfestes geopfert worden. Am 19. Juni 1883 schrieb Rohling an den Abgeordneten Geza Onody in Tiszaeszlár:

»Nachdem ich in meinen ›Antworten an die Rabbiner‹ gesagt habe, daß ich im Talmud, soweit wir denselben im Druck kennen, keinen Beweis für den rituellen Mord der Juden gefunden habe, so discutiren die Juden darüber, daß derartiges in ihrer Litteratur überhaupt nicht vorkomme. Ich erachte es für meine Pflicht, jetzt, wo ein solcher Fall gerade vor Gericht verhandelt wird, Euer Hochwohlgeboren zu verständigen, daß ich nach Verfassung meiner obigen Schrift in den Besitz eines durch die Jerusalemer Unternehmung des Moses Montefiore noch im Jahre 1868 hinausgegebenen solchen hebräischen Werkes gelangt bin, auf dessen Seite 156a geschrieben ist, daß das Vergießen des Blutes einer nicht jüdischen Jungfrau für die Juden eine überaus heilige Handlung, daß das so vergossene Blut dem Himmel sehr angenehm und den Juden Gottes Erbarmen verschaffe. Dies ist ein kurzer Auszug der ganzen Stelle, welche ich wortgetreu binnen kurzem der Oeffentlichkeit übergeben werde. Auf die Wahrheit des Obigen bin ich, wenn es nothwendig ist, bereit, hier vor Gericht auch einen Eid zu leisten.« (Kopp 1886: 16)

Eisenmenger blieb für Rohling der große Lehrmeister und so folgte er ihm bedingungslos auch bei dessen mörderischen Anklagen und abscheulichsten Behauptungen, indem er betonte, es sei deshalb so schwer Belege für den „jüdischen Ritualmord“ zu erbringen, da es sich um eine von den Rabbinern mündlich tradierte Geheimlehre handele.

Obwohl die Leiche des Bauernmädchens kurze Zeit darauf im Fluss gefunden und Tod durch Ertrinken diagnostiziert wurde, ließ sich die emotionale Erregung der Volksmassen nicht eindämmen, zumal die Akteure der Kampagne an ihrer Version festhielten, die auf die Vertreibung der örtlichen Juden zielte. Als sämtliche jüdischen Angeklagten im August 1883 freigesprochen wurden, entwickelte sich die „Affäre von Tiszaeszlár“ zu einer „Affäre Rohling“. Der Prager Kanonikus war während des Prozesses von einem Rabbiner der Falschaussage bezüglich des Talmuds sowie des Meineids bezichtigt worden, was Rohling dazu verleitete, Anzeige zu erstatten. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zeigte es sich, dass Rohling das Hebräische nicht beherrschte und außerstande war, den Talmud im Original zu lesen. Rohling verlor daraufhin seine Lehrerlaubnis für katholische Theologie. Seine Bewunderer hielt dies jedoch nicht davon ab, ihm die Treue zu halten. Die „Affäre von Tiszaeszlár“ illustriert, dass der Antisemitismus massenhysterischen Charakter annahm und die Antisemiten sich mitnichten von rationalen Argumenten überzeugen ließen. In Österreich-Ungarn schreckte das Bündnis aus Klerikalen und Konservativen nicht einmal davor zurück, die mittelalterliche Ritualmordlegende zu revitalisieren und zum Gegenstand offizieller Prozesse zu machen. Die antisemitischen Parlamentsabgeordneten, die hinter der Kampagne steckten, wussten sehr wohl, was sie taten, insofern sie die Affäre zur Stärkung ihrer Parlamentsposition zu nutzen gedachten. Nicht nur in der Doppelmonarchie war der Antisemitismus zu einem Instrument geworden, um die Wählergunst zu gewinnen. Der politische Antisemitismus erwies sich zunehmend als gefährliche Spielart im Kontext parlamentarischer Systeme.

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