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1.1Von der Reichsgründung 1871 bis zur konservativen Wende
ОглавлениеIn den 1860er-Jahren wurde den Juden in den ersten dt. Staaten die uneingeschränkte Gleichberechtigung gewährt. Das Großherzogtum Baden, welches von 1806 bis 1871 ein souveräner Staat war, erließ am 4. Oktober 1862 ein Gesetz zur bürgerlichen Gleichstellung der Israeliten. Der Erlass verwirklichte erstmals die volle Emanzipation auf allen Ebenen. Den Juden wurden die volle Niederlassungsfreiheit sowie die volle Berufswahl einschließlich des Rechts gewährt, Beamte und Lehrer zu werden. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der im Jahr 1867 erfolgten Umwandlung des Kaisertums Österreich in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn sahen gleichfalls die rechtliche Gleichstellung der Juden vor. Der unter der Führung Preußens stehende Norddeutsche Bund, der von 1866 bis 1871 alle dt. Staaten nördlich der Mainlinie umfasste, stellte im Jahr 1869 das Judentum weitgehend mit allen anderen Konfessionen gleich. Mit der Reichsgründung des Jahres 1871 erhielt das Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung gesamtdeutsche Gültigkeit. Zwar schloss die Reichsverfassung von 1871 den rechtlichen Prozess der Gleichstellung ab, gleichwohl verschärfte sich der Antisemitismus. Die Antisemiten gedachten nicht nur die Umsetzung des Verfassungsrechts in Verfassungswirklichkeit zu behindern, sondern ebenso die gesellschaftliche Akzeptanz der 512 000 Juden im Deutschen Reich zu obstruieren. Nach der Reichsgründung beschwor der antisemitische Diskurs die Gefahr einer „jüdischen Allmacht“ und lamentierte über die vermeintliche Dominanz der Juden in allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen wie kulturellen Sektoren, obwohl diese nur 1,25 % der Gesamtbevölkerung ausmachten.
Bedingt durch eine Spekulationsblase, hervorgerufen durch den wirtschaftlichen Optimismus der Gründerzeit, löste der Wiener Börsencrash 1873 eine wahre Kettenreaktion aus. Der 9. Mai 1873 erwies sich als „Schwarzer Freitag“ der Wiener Börse, die gegen Mittag schließen musste. Insolvenzen in großer Zahl ließen sich nicht mehr verhindern, die sich ausweitende Wirtschaftskrise nahm ihren Lauf und stürzte zahllose Menschen ins Elend. Die Losung »Die sociale Frage ist die Judenfrage«, die Gleichsetzung von Wucher, Ausbeutung und Judentum, von moderner kapitalistischer Wirtschaft und „jüdischen Börsenspekulanten“, die sich auf Kosten des schaffenden, arbeitenden Menschen selbstsüchtig bereicherten, machte der Journalist Otto Glagau (1834–1892) im Kontext des Gründerkrachs populär. In der zu seiner Zeit viel gelesenen Illustrierten Die Gartenlaube veröffentlichte Glagau Ende 1874 eine Artikelserie, die zwei Jahre darauf in erweiterter Fassung unter dem Titel Der Börsen- und Gründerschwindel in Berlin in Buchform erschien. Der Berliner Journalist bediente sich der Methode rassistischer Markierung. Immer dann, wenn es sich bei einem der Beteiligten am Börsencrash um einen Juden handelte, wurde dieser als »jüdischer Spekulant« bezeichnet, während bei einem „christlichen Spekulanten“ die Markierung selbstredend unterblieb, sodass systematisch der Eindruck erweckt wurde, die Börse sei eine „jüdische Erfindung“, die „das Judentum“ ausgeheckt habe, um sich die Werte der „schaffenden Bevölkerung“ anzueignen. Glagau führte so die vom dt. Nationalsozialismus propagierte Unterscheidung zwischen dem „schaffenden“ und dem „raffenden Kapital“ ein und kreierte die Figur des „Börsenjuden“, der aus materialistischer Gier nur am eigenen Wohlstand interessiert sei, von Profitsucht getrieben Wirtschaft wie Gesellschaft ruiniere sowie durch Spekulationen zahllose Familien ins Elend stürze. Glagau schwadronierte von den miteinander verschworenen Juden, die einen Börsenkrach billigend in Kauf nehmen, da „der Jude“ am Elend verdiene, während „der schaffende Mensch“ leide.
Die eigentlichen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Verhältnisse gerieten so völlig aus dem Blickfeld, für ein komplexes Wirtschaftsgeschehen, welches der Einzelne nicht mehr zu durchschauen vermochte und dem er sich hilflos ausgeliefert fühlte, bot Glagau einfache Erklärungen an und nannte zugleich den vermeintlich Schuldigen. Der „Börsenjude“ war schlicht der „Börsenschwindler“ und dieser trug die Hauptschuld an der Krise des Jahres 1873, so die Botschaft Glagaus in einer turbulenten Zeit, die nach einfachen Antworten nur so verlangte. In für jedermann verständlichen Worten hetzte Glagau:
»Das Judenthum ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchesterthum. Es kennt nur noch den Handel, und davon auch nur den Schacher und Wucher. Es arbeitet nicht selber, sondern lässt Andere für sich arbeiten, es handelt und speculirt mit den Arbeits- und Geistesproducten Anderer. Sein Centrum ist die Börse […]. Das Judenthum gedeiht am besten bei Krieg, Misswachs, Seuchen und anderen Calamitäten, sowie in armen Ländern. Es hält, selbst noch bei gesegneten Ernten, die Preise hoch, es vertheuert durch Speculation und Zwischenhandel alle Waren und Lebensmittel. Das Judenthum treibt beständig, in den verschiedensten Formen, Gründerei und Jobberei. Als ein fremder Stamm steht es dem Deutschen Volke gegenüber und saugt ihm das Mark aus. Die sociale Frage ist wesentlich Judenfrage, alles Uebrige ist Schwindel!« (Glagau 1878: 71)
Das Narrativ vom „mächtigen Juden“ bildete bei Glagau in Verbindung mit dem Schüren von Sozialneid ein zentrales Motiv. Die Juden, so heißt es, vermehrten sich in Berlin heftig und seien durchgehend wohlhabende und reiche Leute, ihnen gehörten die schönsten Häuser und Villen in Berlin. Die Weltgeschichte kenne kein zweites Beispiel, »dass ein heimatloses Volk, eine physisch entschieden degenerirte Race, blos durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher, über den Erdkreis gebietet.« Die Methode rassifizierender Kollektivierung („der Jude“), in Verbindung mit der Zuschreibung negativer Eigenschaften, findet sich bei Glagau bereits in dessen Skizzen Littauen und die Littauer aus dem Jahr 1869. Von einer Schiffsreise berichtet Glagau, das judenfeindliche Narrativ des „Ostjuden“ bedienend, wie folgt:
»Die Passagiere bestanden größtentheils aus polnischen Juden […]. Das Hauptkleidungsstück der Juden war eine Art von Kaftan, und was sie darunter verbargen, sollte mir bald klar werden, als einer von ihnen ein Stück Zeug hervorholte und davon mitten auf dem Verdeck sich eine Hose zu schneidern begann. Er hatte sein Werk binnen kaum einer Stunde vollendet, aber es war auch das einfachste Beinkleid, das ich je gesehen. […] Weit mehr [als andere Passagiere, d. Verf.] machten die Juden den Capitän zu schaffen. Er schwur, daß Gott sie nur zu seiner Qual habe geboren werden lassen und daß sie ihn noch zu Tode ärgern würden. […] Jetzt begann er das Passagiergeld zu kassiren. Ein Jude nach dem andern suchte sich darum zu drücken, indem sie unter das Deck oder zwischen die Frachtgüter krochen oder doch beständig ihren Platz wechselten. Der Capitän, der ihre Manöver merkte und ihre Kniffe aus Erfahrung kannte, rannte hinter ihnen her; da ihm etliche aber wie Schlangen immer wieder zu entschlüpfen wußten, ward er wüthend und bot die Schiffsmannschaft zu seiner Hilfe auf. Eine allgemeine Treibjagd ging in Scene, die widerwilligen Juden wurden aus allen Winkeln hervorgeholt und gleich einer Heerde Schafe in eine Ecke zusammengetrieben, wo sie dann wohl oder übel den Beutel ziehen mußten.« (Glagau 1869: 45–47)
Vergleicht man die beiden Textpassagen Glagaus, so wird deutlich, dass der Antisemit den reichen Juden hasst, weil er reich ist und den armen Juden, weil er arm ist. Glagaus Hetze gegen den „assimilierten Westjuden“ wie gegen den „Ostjuden“ illustriert, dass der Antisemit den Juden hasst, „weil er Jude ist“, einzig und allein deshalb, weil er existiert, unabhängig von den Eigenschaften und dem Agieren der konkreten Person, in welcher er „den Juden“ sieht.
Das Motiv des „raffgierigen Juden“ avancierte zu einem weitverbreiteten Topos und stützte sich auf das bereits bei Luther auftauchende Pejorativum vom „Wucherjuden“ sowie auf Konstrukte des „betrügerischen Juden“, der als Sujet im literarischen Antisemitismus kursierte. In der Erzählung De Stadtreis von Fritz Reuter (1810–1874) überlistet „der Jude“ einen Bauern zu einer Wette, bei der ihm ein Geldstück zum ergaunerten Sieg verhelfen soll: »Smitts Du den Kopp, heww ick gewunnen, / Smittst Du de Schrift, hast du verluren.«
Das Bild vom „Wucherjuden“ sowie das Narrativ vom einzig und allein am eigenen Vorteil und Gewinn orientierten Juden waren längst vor Glagau verbreitet, der Konnex zwischen dem Kapitalismus als aufstrebender Wirtschaftsordnung und dem Judentum stellt jedoch einen neuartigen Aspekt dar, dessen Verankerung in den nachfolgenden Jahrzehnten dafür sorgte, dass sämtliche modernen Erscheinungen des Kapitalismus wie die Börse, die Deregulierung der Märkte, Unternehmensverbindungen in Gestalt großer Konzerne, Warenhausketten etc. mit „dem Juden“ in Verbindung gebracht wurden, um so von den wahren Ursachen und Triebkräften des Wirtschaftsgeschehens in Zeiten des Hochkapitalismus abzulenken. Existenzängste des Kleinbürgertums wie des Mittelstandes ließen sich so in gezielter Weise antisemitisch kanalisieren.