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1.2Von der konservativen Wende bis zum Ersten Weltkrieg
ОглавлениеDie wirtschaftliche Depression sowie die konservative Wende Bismarcks in den Jahren 1878/79 veränderten die Konstellationen des Antisemitismus in entscheidendem Maß. Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) kündigte das Bündnis mit den Nationalliberalen, suchte den Schulterschluss mit den Konservativen sowie der katholischen Zentrumspartei und setzte auf protektionistische Schutzzollpolitik wie auf innerstaatliche Repression in Gestalt des Sozialistengesetzes. Diese sogenannte „innere Reichsgründung“ stärkte autoritäre Kräfte, die Macht Preußens innerhalb des dt. Staatsgebildes sowie die Rolle der Schwerindustrie und des ostelbischen Agrarkapitals. Da der Antisemitismus u. a. als ideologische Waffe gegen den Liberalismus wie den Freihandel diente, stärkte die konservativ-reaktionäre Wende Bismarcks zugleich auch die antisemitischen Kräfte. Es ist folglich kein Zufall, dass der dt. Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) den Terminus „Antisemitismus“ erst um 1879 populär machte. Marrs Schrift Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet kam im Erscheinungsjahr 1879 bereits auf zwölf Auflagen. Wie ihr Untertitel verdeutlicht, leistete die Propagandaschrift einen entscheidenden Beitrag zur Transformation des christlichen Antisemitismus in den „Rassenantisemitismus“. Marr steht für einen Paradigmenwechsel in der antisemitischen Ideologie, da er als einer der ersten Schriftsteller gelten kann, der die bislang üblichen Differenzkriterien „Religion“ und „Volk“ durch den Rassebegriff ersetzte. In der Propagandaschrift heißt es:
»Gerade darin besteht ja die ›Gloire‹ des Judenthums, dass es 1800 Jahre lang der abendländischen Welt den siegreichsten Widerstand leistete. Alle übrigen Einwanderungen in Deutschland sind spurlos im Germanenthum aufgegangen. Wenden und Slaven sind im germanischen Element verschwunden. Die semitische Race, stärker und zäher, hat sie Alle überlebt.« (Marr 1879a: 25)
Israel sei eine Weltmacht allerersten Ranges geworden und habe, so Marrs Kernthese, einen endgültigen und unumkehrbaren Sieg über das Germanentum davongetragen. Der deutsche Staat und seine Institutionen seien hoffnungslos „verjudet“, kritische Stimmen seien durch die Allmacht des Judentums in der Presse verstummt. Nach einem jahrhundertelangen Kampf hätten die Juden in Deutschland unumstößlich die Macht übernommen, das Ende Germaniens sei das Unvermeidliche, in das sich die Deutschen schicken müssten. Während dem Germanentum die Vergangenheit und das Sterben blieben, gehöre dem Judentum die Zukunft und das Leben. Den schicksalhaften Erfolg der »zersetzenden Mission« des Judentums führt Marr auf die Effekte der Judenemanzipation zurück sowie auf den »ersten großen Sieg des Judentums« in Gestalt der 1848er Revolution. „Die Judenfrage“ sei zur sozialen Kernfrage der Zeit geworden, da sich das Judentum zum sozialpolitischen Diktator über Deutschland aufgeschwungen habe. Immer wieder betont Marr, die Juden seien für ihren welthistorischen Triumph nicht verantwortlich zu machen. Die diesbezüglichen Ausführungen des Journalisten sollten indes keineswegs die Juden in Schutz nehmen, sondern umso stärker die Existenz ihrer „rassischen Wesenszüge“ untermauern. „Der Jude“ agiert bei Marr so, wie es seinem vermeintlichen Wesen entspricht. Die Aussage, dass kein Volk etwas für seine Spezialitäten könne, diente ebenso dazu, „das Germanentum“ zu attackieren, das laut Marr wenig »geistige Widerstandskraft« gegen die »Verjudung« an den Tag gelegt habe. Das Bild des »deutschen Michel« bemühend beabsichtigte Marr, die nichtjüdische Bevölkerung gegen die Juden aufzustacheln. Der „Semitismus“ habe leichtes Spiel gehabt, so dass der »jüdische Geist in alle Poren« der Gesellschaft eingedrungen sei. Millionen Juden würden denken: »Dem Semiten gehört die Weltherrschaft«.
Marr betont dabei, dass seine dystopische Sichtweise alles andere als ironisch gemeint sei, vielmehr vertrete er ernsthaft die Überzeugung, dass der »Sieg des Judentums« eine vollendete Tatsache darstelle. Folglich sei Resignation die einzig mögliche Haltung, da diese den irreversiblen Sieg der Juden in ihrem dauerhaften Kampf gegen alle Nichtjuden akzeptiere. Eine Interpretation der Schrift, welche die pessimistische Grundhaltung des Textes für die Sichtweise des Autors hält, leitet indes in die Irre. Der resignative Tenor diente Marr lediglich als literarisches Stilmittel, um den aufwallenden Hass seiner Leser noch zu steigern und diese zum Krieg für die „Germanenemanzipation“ aufzurufen. Der vorgetäuschte Pessimismus zielte darauf ab, die Wirkung des indirekten Appells zu erhöhen, das Szenario des Pamphlets nie und nimmer Wirklichkeit werden zu lassen. Anders ließe es sich auch nicht erklären, warum Marr noch im selben Jahr die Antisemitenliga gründete. Die Interpretation der Schrift als agitatorischer Appell, der sich eines dystopisch-resignativen Szenarios bedient, wird durch die noch im selben Jahr erschienene Pendantschrift Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum gestützt, in der Marr unmissverständlich zum »Kampf« aufruft:
»So muss der Kampf gegen die Verjudung der Gesellschaft […] weiter geführt werden. Möge uns Gott und das Christenthum dann helfen, die Verjudung der Gesellschaft weiter zu bekämpfen.« (Marr 1880b: 48)
Ein konkretes politisches Programm entwickelte Marr indes auch in dieser Schrift nicht. Entsprechend der zeitgleich erfolgten Gründung der Antisemitenpartei lautet die Losung seiner zweiten Schrift:
»Also muthig in den offenen socialpolitischen Parteikampf hinein, in den ›frischen, fröhlichen Krieg‹ einer wahrhaft deutschen Überzeugung mit der Losung: Wählen wir keinen Juden, weder in unsere Vereins- noch Communal-, Land- und Reichstagsvertretungen.« (Marr 1880b: 6)
Zwar war Marr mit der Gründung der „Antisemitenliga“ kein Erfolg beschieden, insofern sich diese kaum gegründet bereits Ende 1880 wieder auflöste, doch seine Propagandaschriften waren von nachhaltiger Wirkung. Der dt. Nationalsozialismus übernahm Marrs dehumanisierende Sprache, die Bezeichnung der Juden als »Ratten«, wie etwa in dessen Schrift Goldene Ratten und rothe Mäuse aus dem Jahr 1880, in der Marr die Juden gleichfalls als »Vampyre« bezeichnete und die Juden bezichtigte, die »schwerwiegendste Mehrzahl der Vampyre der dt. Gesellschaft« zu stellen. Schule machte gleichfalls die benutzte Wortwahl von der »roten« und der »goldenen Internationale«. Mit »roter Internationale« meinte Marr die »Socialdemocratie«, mit »goldener Internationale« bezeichnete er die »Alliance israélite«, die nichts anderes im Sinn habe, als durch »fürchterlichen Wucher« ein »neues Jerusalem« zu errichten und alle Nichtjuden zu unterdrücken. Der politische Journalist benutzte bereits die vom dt. Nationalsozialismus in dessen Propaganda bemühte Gleichsetzung von Judentum und Kapitalismus sowie von Judentum und Sozialdemokratie bzw. Kommunismus.
Im Jahr 1878 gründete der Hofprediger Adolf Stöcker (1835–1909) in Berlin die Christlich-soziale Arbeiterpartei, die sich in der Arbeiterschaft indes nicht verankerte, ihre Wähler vielmehr aus der verunsicherten Mittelschicht sowie dem Kleinbürgertum gewann. Ein Jahr darauf hielt Stöcker die programmatische Rede Unsere Forderungen an das moderne Judenthum. Stöckers Rede illustriert, wie hochgradig der Rassebegriff Ende der 1870er-Jahre bereits den antisemitischen Diskurs bestimmte. So betonte Stöcker immer wieder, dass es sich bei den Juden »doch gewiss um eine fremde Race« handele und unterstrich, dass dieser Aspekt bei der „Judenfrage“ keinesfalls übersehen werden dürfe. Israel sei ein fremdes Volk, welches »nie mit uns eins werden kann, außer wenn es sich zum Christenthum bekehrt«. Man dürfe nicht verkennen, dass Israel den Deutschen über den Kopf wachse. Es stehe »Race gegen Race«, es sei ein »Racestreit« entbrannt, der aufgrund der Positionen der Juden in der Wirtschaft eine große Gefahr darstelle. Stöcker knüpft in seiner Rede an Marr und Glagau an, insofern er gleich zu Beginn bekräftigt: »Die sociale Frage ist die Judenfrage.«
Die Schärfe der Rede Stöckers offenbart die Verwendung der antijüdischen Pathologisierung. Der protestantische Prediger spricht von »Krankheitssymptomen«, die den gesamten »Volkskörper in allen Gliedern« erfasst hätten sowie von einem »Krebsschaden«, der sich immer weiter fresse und »unsere Zukunft bedroht«. »Ehe diese Giftquellen nicht gereinigt sind«, so Stöcker, »ist an eine Besserung unserer Zustände nicht zu denken.« Der Hofprediger macht dabei unmissverständlich klar, dass er mit »Krebsschaden« das moderne Judentum meint. Verantwortlich für die drohende Gefährdung sei der »jüdische Mammonsgeist«, der das Volk verderbe sowie die Intoleranz der »Judenpresse«, welche gegen das Christentum hetze und die relevante Existenz der „Judenfrage“ mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht verschweige. Die Anzahl von 45 000 Juden in Berlin sei schlicht und einfach zu viel, das Judentum stelle »eine große Gefahr für das deutsche Volksleben« dar:
»Wenn sie wirklich mit uns verbunden wären, hätte die Zahl nichts Bedenkliches. Aber da jenes halbe Hunderttausend eine in sich geschlossene Gemeinschaft bildet, in guten Verhältnissen, in steigender Macht, mit einer sehr profitablen Verstandeskraft ausgerüstet, ohne Theilnahme für unsere christlich-germanischen Interessen, so liegt darin eine wirkliche Gefahr […] In ihrem Besitz sind die Geldadern, Bank und Handel; in ihren Händen ist die Presse und unverhältnismäßig drängen sie sich zu den höheren Bildungsanstalten.« (Stöcker 1880: 17)
Wie Marr, so entwirft auch Stöcker, um Sozialneid wie soziale Verdrängungsängste zu schüren, das Bild vom „allmächtigen Juden“, der die Wirtschaft beherrscht und die Arbeit des »schaffenden Arbeiters« ausbeute, betont indes im Unterschied zu Marrs erster Schrift stets, dass Deutschland noch nicht verloren, das Ende noch nicht gekommen sei. Im Unterschied zu Marr skizziert Stöcker ein Programm, das sich unmittelbar an den Gesetzgeber richtet, der dafür Sorge zu tragen habe, dass dem »jüdischen Capital« der »nötige Zaum angelegt« werde. Stöcker fordert diesbezüglich die Beseitigung des Hypothekenwesens im Grundbesitz sowie:
»Eine Aenderung des Creditsystems, welche den Geschäftsmann von der Willkür des großen Capitals befreit; Aenderung des Börsen- und Aktienwesens; Wiedereinführung der confessionellen Statistik, damit das Mißverhältnis zwischen jüdischem Vermögen und christlicher Arbeit festgestellt werden kann; Einschränkung der Anstellung jüdischer Richter auf die Verhältniszahl der Bevölkerung; Entfernung der jüdischen Lehrer aus unseren Volksschulen, zu dem Allen Kräftigung des christlich-germanischen Geistes.« (Stöcker 1880: 20)
Dies alles, so Stöcker, seien durchaus geeignete Mittel, »um dem Überwuchern des Judentums im germanischen Leben, diesem schlimmsten Wucher, entgegenzutreten.« Wie Marr, so setzte auch Stöcker den »zügellosen Capitalismus« mit dem »modernen Judenthum« gleich, wodurch das reale Wesen der Verhältnisse verschleiert und „der Jude“ zum Sündenbock eines Kapitalismus erklärt wird, dessen Auswüchse in der Epoche des Hochimperialismus zu existentiellen Verunsicherungen führten. Den Anteil der Juden an der Berliner Bevölkerung bezeichnete Stöcker als den »übelsten Faktor des hauptstädtischen Treibens«. Die krude Mischung aus nationalistischen, antikapitalistischen, antifortschrittlichen, antiliberalen wie antisozialistischen Positionen verschaffte der von Stöcker gegründeten „Berliner Bewegung“ in den 1880er-Jahren eine nennenswerte kleinbürgerliche Massenbasis. Die antisemitische Sammlungsbewegung imaginierte den Juden dabei zumeist als mächtige, das ökonomische wie das politische Geschehen steuernde Instanz. Der »gute Berlin Bär« tanze, so heißt es beispielsweise bei Stöcker »bereitwillig nach der Pfeife seiner drei Herren, des Fortschritts, der Sozialdemokratie und des eigentlichen Bärenführers, des Judentums.«
Der politische Einschnitt des Jahres 1879 spiegelte sich im Sachverhalt, dass der preußische Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) im November in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz mit dem Titel Unsere Aussichten veröffentlichte, der den Berliner Antisemitismusstreit eröffnete. Das zeitliche Zusammentreffen der konservativen Wende Bismarcks und des Aufsatzes von Treitschke war keineswegs zufälliger Natur. Vielmehr beabsichtigte Treitschke mit seinen antisemitischen Attacken offensiv für den Kurswechsel des Kanzlers Partei zu beziehen. Bismarck sollte dazu ermutigt werden, am Projekt der „inneren Reichsgründung“ festzuhalten. Treitschke, der gemeinsam mit Eduard Lasker (1829–1884) und Ludwig Bamberger (1823–1899) zu den führenden Politikern des frühen Nationalliberalismus gehörte, vollzog im Unterschied zu seinen Parteikollegen die konservativreaktionäre Wende Bismarcks mit. Der Riss ging folglich durch die Nationalliberalen, sodass Treitschke ab 1878 als Abgeordneter ohne Parteizugehörigkeit im Reichstag saß. Treitschkes Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern ist folglich auch als Rachefeldzug gegen die jüdischen Abgeordneten Bamberger und Lasker zu werten, die sich der Angriffe Bismarcks auf die Prinzipien des politischen Liberalismus widersetzten. Treitschke verfolgte gewissermaßen die Absicht, den verlorenen politischen Streit bezüglich der Ausrichtung des Nationalliberalismus posthum auf publizistischem Sektor zu gewinnen.
Im Laufe der 1880er-Jahre gelang es dem Antisemitismus, sich in der Parteienlandschaft zu etablieren. Im Jahr 1882 blieb zwar der „Internationale antijüdische Kongress“ in Dresden ohne Ergebnisse wie ebenso der im Jahr darauf folgende Kongress in Chemnitz, doch zog erstmals im Jahr 1887 der Marburger Bibliothekar Otto Böckel (1859–1923) in den Reichstag als Abgeordneter der antisemitischen „Deutschen Reformpartei“ ein, zu der sich die „Deutsche Antisemitische Vereinigung“ des Publizisten und Verlegers Theodor Fritsch (1852–1933) gesellte, dessen 1887 erschienener Antisemiten-Katechismus größere publikatorische Erfolge erzielen konnte (ab 1907 Handbuch der Judenfrage). Während der Hofprediger Stöcker und Max Liebermann von Sonnenberg (1848–1911) im Jahr 1889 die „Deutschsoziale Partei“ gründeten, der sich auch Fritsch anschloss, bildeten Gruppierungen um Otto Böckel ein Jahr darauf die „Antisemitische Volkspartei“. Zusammengenommen gelang es in den 1890er-Jahren den antisemitischen Parteien, 18 Reichstagsmandate zu erobern. Im Jahr 1894 schlossen sich die „Deutsche Reformpartei“ und die „Deutschsoziale Partei“ zur „Deutschsozialen Reformpartei“ zusammen. Zwar war der Anteil der Reichstagsmandate der Antisemitenparteien, der über mehrere Wahlperioden betrachtet die 5 Prozent-Marke nie deutlich überstieg, nicht gerade hoch, doch täuscht dies darüber hinweg, dass es ihnen gelang, eine Art Agenda-Setting zu betreiben, d. h. andere Parteien dazu zu bewegen, ihrerseits antisemitische Programmpunkte aufzunehmen. Übersehen werden darf ebenso nicht, wie hochgradig der Antisemitismus in den 1890er-Jahren in der Vereins- und Verbändestruktur des Wilhelminischen Kaiserreichs etabliert war.