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1.3Der Berliner Antisemitismusstreit

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Der den Berliner Antisemitismusstreit (1879–1881) eröffnende Artikel Heinrich von Treitschkes mit dem Titel Unsere Aussichten kam einem Frontalangriff auf die dt. Juden gleich. Für den preußischen Historiker bildeten die Juden das Haupthindernis auf dem Weg der »inneren Reichsgründung«, welche sich durch ein »gekräftigtes Nationalgefühl« auszuzeichnen habe. Der Zorn des Volkes auf die Juden sei mehr als verständlich, zumal zu berücksichtigen sei, dass sich im Unterschied zu anderen westeuropäischen Ländern Deutschland aufgrund der quantitativen Größe der Einwanderung einer realen Gefahr ausgesetzt sehe:

»Über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können.« (Treitschke 1929: 479)

Der Text des Artikels ist geprägt von einer aggressiven Assimilationsaufforderung, die sich stets der antagonistischen Gegenüberstellung einer Wir-Gruppe und einer Fremdgruppe im Geiste des Satzes „Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben“ bedient. Den Juden wird in kollektivierender Weise unterstellt, dass sie sich nicht recht als Deutsche fühlen, überheblich seien, in »verstockter Verachtung« auf Christen herabblickten, »an der frechen Gier des Gründer-Unwesens einen großen Anteil« hätten, »eine schwere Mitschuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage« trügen, die Presse beherrschten, das Christentum journalistisch schmähten und lästerten sowie ein »fremdes Element« bildeten, das »einen allzu breiten Raum« eingenommen habe. Die Juden stellten, so Treitschke, eine »schwere Gefahr« dar, von ihnen drohe ein »hochbedenklicher Schaden des neuen deutschen Lebens«:

»Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!« (Treitschke 1929: 481)

Die Art und Weise der Präsentation des Schlüsselsatzes »Die Juden sind unser Unglück!« weist auf den Stil des Artikels hin, das sich Verstecken hinter der öffentlichen Meinung, das sich Inszenieren als Tabubrecher, als der Einzige, der es wage, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Treitschke stellt sich als Person dar, die dem »erwachten Gewissen des Volkes« eine Stimme verleiht. Außer dem Motiv der Fremdheit der Juden, welches in dem Satz gipfelt »es wird immer Juden geben, die nichts sind als deutsch redende Orientalen«, der Behauptung ihrer Schädlichkeit für den nationalen Einigungsprozess sowie dem Schüren von Ängsten vor einer massenhaften Einwanderung aus dem Osten, bedient sich Treitschke ebenso der klassischen Stereotype des Wuchers, der gesellschaftlichen Machtübernahme des Judentums sowie des vermeintlichen Christenhasses der Juden. Das Perfide des Artikels besteht darin, dass Treitschke sich immer wieder als „Judenfreund“ stilisiert, so heißt es etwa:

»Von einer Zurücknahme oder auch nur einer Schmälerung der vollzogenen Emancipation kann unter Verständigen gar nicht die Rede sein; sie wäre ein offenbares Unrecht, ein Abfall von den guten Traditionen unseres Staates und würde den nationalen Gegensatz, der uns peinigt, eher verschärfen als mildern.« (Treitschke 1929: 481)

Das scheinbar „Judenfreundliche“ diente Treitschke als Stilmittel, damit er die judenfeindliche Attacke umso schärfer fahren konnte; so bejahte Treitschke verbal die Emanzipationsgesetzgebung, was indes lediglich vorgetäuscht war. Treitschkes Aufsatz erlangte hohe Beachtung und rasch erschienen Gegenstellungnahmen u. a. vom Rabbiner Manuel Joël (1826–1890), vom liberalen Politiker Ludwig Bamberger, vom Mediävisten Harry Breßlau (1848–1926) sowie vom Historiker Heinrich Graetz (1817–1891). In der ersten Phase des Berliner Antisemitismusstreits handelte es sich bei den Antagonisten indes fast ausnahmslos um Gegenreden jüdischer Personen.

Wie offenkundig Treitschke die Lehre von der Existenz vermeintlicher „Rassen“ vertrat, verdeutlichen seine Politik-Vorlesungen an der Universität zu Berlin, in denen „Rassen“, Stämme und Nationen die Schlüsselbegriffe bilden:

»Die gelbe und rothe Rasse sind am letzten Ende Geschwister. Ihnen gegenüber steht die weiße Rasse, die in zwei Klassen zerfällt, die arischen Völker und die Semiten. Das sind ungeheuer scharfe und tiefe Gegensätze. […] Wenn aber die Natur die Differenzierung einmal vollzogen hat, so will sie bekanntlich nicht, daß eine Rückbildung erfolgt. Sie rächt sich, indem sie die Vermischung verschiedener Arten bestraft damit daß die höhere herabgedrückt wird durch die niedere. Wie aus der Vermischung von Pferd und Esel ein Geschöpf hervorgeht, das die Eigenschaften der niederen Art an sich trägt, so bei den Menschen.« (Treitschke 1899: 274)

In den Jahren 1880/1881 initiierten der Publizist Max Liebermann von Sonnenberg, der Agitator Ludwig Bernhard Förster (1843–1889) sowie der Politiker Ernst Henrici (1854–1915) die sog. Antisemitenpetition. Zu den Erstunterzeichnern der Petition zählte der Berliner Hofprediger Adolf Stöcker. Die „zweite Version“ der „Antisemitenpetition“ wurde am 16. November 1880 im Reichsboten veröffentlicht, der als Tageszeitung den konservativen Mittelstand sowie pastorale Kreise ansprach. Der Text der Petition ist im Stil des völkischen Rassismus gehalten und stellt dem »deutschen Volk«, das explizit als christlich charakterisiert wird, „die Juden“ gegenüber, bei denen es sich um einen »fremden Stamm« handele, um ein »semitisches Element«, welches »uns aber seinem Fühlen und Denken nach ferner steht, als irgend ein Volk der gesamten arischen Welt«. In antagonisierender Weise werden »Arier« und »Semiten« kontrastiert und letztere als eine ernste Gefahr »für unser Volkstum« bezeichnet. Während die »Arier« schwer körperlich arbeiteten, eigneten sich die »Semiten« die Früchte ihrer dienstbaren Arbeit an und wohnten in den »stolzesten Palästen« der Großstädte. Der Sozialneid wird verkoppelt mit dystopischen Szenarien, die mit den Worten »Überwuchern des jüdischen Elementes« sowie »massenhaftes Eindringen semitischer Elemente in allen Stellungen« beschrieben werden. Das »semitische Element« erobere systematisch alle Positionen, die mit Macht und Herrschaft verbunden seien. Dem müsse auf der Stelle Einhalt geboten werden. Um der »Gefahr im Verzuge« zu begegnen, lauten die Forderungen der Petition:

»1.dass die Einwanderung ausländischer Juden, wenn nicht gänzlich verhindert, so doch wenigstens eingeschränkt werde;

2.dass die Juden von allen obrigkeitlichen (autoritativen) Stellungen ausgeschlossen werden und dass ihre Verwendung im Justizdienste – namentlich als Einzelrichter – eine angemessene Beschränkung erfahre;

3.dass der christliche Charakter der Volksschule, auch wenn dieselbe von jüdischen Schülern besucht wird, streng bewahrt bleibe und in derselben nur christliche Lehrer zugelassen werden, dass in allen übrigen Schulen aber jüdische Lehrer nur in besonders motivierten Ausnahmefällen Anstellung erlangen;

4.dass die Wiederaufnahme der amtlichen Statistik über die jüdische Bevölkerung angeordnet werde.« (Reichsbote Nr. 269, 16. November 1880)

Am 20. und 22. November 1880 wurde die Antisemitenpetition im Preußischen Abgeordnetenhaus debattiert. Der Antrag stammte von den Linksliberalen, von denen Rudolf Virchow (1821–1902) eine diesbezügliche Grundsatzrede hielt, in der er die Kampagne mit den Worten tadelte:

»Wir, meine Herren, wir glauben allerdings, dass für uns der Augenblick eingetreten ist, hindernd einzutreten, wenn unmittelbar an die Regierung gegangen wird, wenn eine Bewegung im Lande inszeniert wird, welche darauf ausgeht, nicht nur die schwer erworbenen Grundlagen unserer Verfassung zu alterieren, sondern auch Gesetze, welche schon vor derselben bestanden. […] Es handelt sich gar nicht mehr bloß um die Rechte, welche durch die Verfassung erworben sind, es handelt sich gegenwärtig auch schon darum, dass man Rechte in Frage stellt, welche durch die Gesetzgebung des Jahres 1812 für die Juden gewonnen worden sind. Ich habe das Gesetz vom 11. März 1812 vor mir, in welchem die Juden für Einländer und preußische Staatsbürger erklärt werden und in welchem genau festgestellt worden ist, was ihnen zusteht; das steht schon in § 8, dass sie ›akademische Lehr-, Schul- und Gemeindeämter, zu welchen sie sich geschickt gemacht haben, verwalten können‹, und im § 9 ›inwiefern die Juden zu anderen öffentlichen Verwaltungs- und Staatsämtern zugelassen werden können, behalten wir uns vor, gesetzlich zu bestimmen.‹ Das war ein bestimmtes Versprechen, und wenn noch eine so lange Zeit vergangen ist, von 1812 bis 1848, ehe das Wort eingelöst hat, so müssen Sie doch nicht sagen, dass das ein besonderes Entgegenkommen gewesen ist, und dass nun die Juden in Folge dieses Entgegenkommens nach mehr als zwei Menschenaltern in tiefste Bescheidenheit sich zurückziehen sollten. […] Wie kann man jetzt dahin kommen, den Juden vorzuhalten: euch sind im Jahre 1848 Rechte gegeben worden, ihr solltet euch wohl hüten, diese Rechte voll anzuwenden?« (Protokoll der Sitzung des Preußischen Landtags vom 20. November 1880. Sonderdruck: Die Judenfrage vor dem preußischen Landtage, Berlin 1880, S. 26/27)

Virchows Agieren im Abgeordnetenhaus brachte die Antisemiten auf den Plan, die ihn in ihren Flugblättern nunmehr als »Jude Virchow« bezeichneten, was fälschlicherweise auch in einem medizinhistorischen Werk aus dem Jahr 1931 übernommen wurde. Zu den Befürwortern der antisemitischen Petition gehörte auch der Kulturwissenschaftler Jacob Burckhardt (1818–1897), in dessen Briefen an seinen Freund Friedrich Adolf Philipp Karl von Preen es heißt:

»Dem Semiten würde ich gegenwärtig große Klugheit und Mäßigung anraten und glaube selbst dann nicht mehr, dass die gegenwärtige Agitation wieder einschlafen werde. […] Dass aber diejenigen neun Zehntel der deutschen Presse, welche von Juden produziert werden, laut über unser Referendum schimpften, ist sehr begreiflich, denn wenn es im Deutschen Reich zu einem solchen Referendum über Weiterexistenz der Juden käme, so garantiere ich dafür, dass eine noch viel größere Stimmenquote als die unsrige […] für Austreibung der Juden stimmen würde.« (Burckhardt 1934: 89/90)

Bereits unmittelbar vor der Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus war in der Berliner Presse die von 75 Personen gezeichnete Notablen-Erklärung erschienen, welche von der Wiederbelebung eines alten Wahns sprach, der die gesellschaftlichen Verhältnisse vergifte. Die Notablen-Erklärung endete mit einem Aufruf zur Gegenwehr der Zivilgesellschaft:

»Noch ist es Zeit, der Verwirrung entgegen zu treten und nationale Schmach abzuwenden; noch kann die künstlich angefachte Leidenschaft der Menge gebrochen werden durch den Widerstand besonnener Männer. […] Vertheidiget in öffentlicher Erklärung und ruhiger Belehrung den Boden unseres gemeinsamen Lebens: Achtung jedes Bekenntnisses, gleiches Recht, gleiche Sonne im Wettkampf, gleiche Anerkennung tüchtigen Strebens für Christen und Juden.« (Rickert 1890: 20)

Erstunterzeichner der Notablen-Erklärung waren u. a. der Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884), der Pathologe Rudolf Virchow und der Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903). Mommsen hatte Treitschke bereits zuvor in einer Akademierede kritisiert ohne ihn namentlich zu erwähnen. Nach Veröffentlichung der Notablen-Erklärung wurde die Debatte „Mommsen contra Treitschke“ zunächst in Gestalt diverser Leserbriefe in Berliner Zeitungen geführt, bevor Mommsen im Dezember 1880 mit seinem Aufsatz Auch ein Wort über unser Judentum unmittelbar eingriff. Treitschke, der seine Stellung als Universitätsprofessor dafür missbrauchte, Studenten zum Unterschreiben der Antisemitenpetition zu bewegen, dementierte auf Nachfrage Mommsens diese unterzeichnet zu haben, was zur „Treitschke-Dulon-Affäre“ führte, da der Leipziger Jurastudent und Organisator des Komitees zur Verbreitung der Petition unter der Studentenschaft Paul Dulon dies als Falschaussage bezeichnete.

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