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1.4Die „Rassenlehre“ und der Manichäismus

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Versteht man den Antisemitismus als Form des Rassismus, so erübrigt sich damit nicht die Antwortsuche nach dem Wesen seiner Spezifik. Die Besonderheit der Judenfeindschaft liegt im mörderischen Agieren des Antisemiten, was im 11. Jh. bereits die Kreuzzugsbewegung offenbarte. Fragen ließe sich diesbezüglich, ob der Kern der antisemitischen Ideologie vom ideologischen Gehalt anderer Spielarten des Rassismus abweicht, inwieweit der spezifische Gehalt der antisemitischen Ideologie mit dazu beitrug, dass es immer wieder zu gewalttätigen Exzessen im Verlauf der Historie kam, die auf singuläre Weise in der Shoah kulminierten. Zwar ist die Substanz der antisemitischen Ideologie qualitativen Änderungsprozessen unterworfen, essentielle Grundzüge blieben indes über Jahrhunderte hinweg unverändert. Dieser konstante Charakter der antisemitischen Ideologie lässt sich als Manichäismus bezeichnen und verleiht dieser den Charakter einer Weltanschauung.

Unter Manichäismus zu verstehen ist nicht einfach nur ein dualistisches System von „Licht-“ und „Schattengestalt“, insofern der konstruierte Antagonismus zwischen Wir-Gruppe und Fremdgruppe allen Rassismen zu eigen ist, sondern ein binäres System, welches sich dadurch auszeichnet, dass sich die Prinzipien des Lichts („Arier“) und der Finsternis („Semiten“) in einem permanenten Kampf miteinander befinden.

»Das Menschengeschlecht aber teilte sich bald in zwei gegensätzliche Parteien, weil die einen die Sakramente des Teufels, die anderen aber die Sakramente Christi annahmen. Es bildeten sich zwei Familien, Christi Familie und die Familie des Teufels.« (Hugo von St. Viktor: De sacramentis, Sp. 312B, zitiert nach Althoff 1998: 207)

Dieser immerwährende Kampf wird erst in einer heilsgeschichtlich als Erlösung der Menschheit wie des einzelnen Individuums gedachten Endzeit überwunden. Die Vernichtung der Essenz des „Fremden“ – sei diese religiös, kulturell, ethnisch oder physisch konstruiert – gilt im manichäistischen Diskurs als unumgänglich. Im Konzept des Manichäismus stehen sich folglich nicht nur zwei Kräfte unversöhnlich gegenüber, sondern sind die binären Größen vielmehr auf Leben und Tod eschatologisch miteinander verbunden, sodass die Vollendung der gesamten Schöpfung an die Extermination des Prinzips der Finsternis gekoppelt ist. Ohne die endgültige Überwindung des Gegenpols ist der Anbruch einer besseren Welt blockiert.

»So gibt es zwei Staaten oder Städte, Jerusalem und Babylon, zwei Völker, die Gott liebenden Bürger Jerusalems und die die Welt liebenden Bürger Babylons, und zwei Könige, Christus als König Jerusalems und den Teufel als König Babylons. Zwischen diesen beiden Staaten und zwischen den beiden Völkern und Königen aber herrscht immerfort Krieg, Zwietracht und Kampf; und jeder der beiden kennzeichnet seine Soldaten, Christus die Seinen und der Teufel die Seinen, damit jeder seinen König erkennt und von ihm erkannt wird. […] Die Soldaten Christi aber folgen ihrem König, und die Soldaten des Teufels folgen ihrem König.« (Hugo von St. Viktor: Miscellanea, Sp. 496A, zitiert nach Althoff 1998: 208)

Das manichäische System umfasst das Motiv einer totalitären Deutung der Welt sowie die heilsgeschichtliche Maxime eines mörderischen Kampfes gegen das Prinzip der Finsternis. Im Vortrag des Hofpredigers Adolf Stöcker mit dem Titel Der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis, der Charakter und die Aufgabe der Gegenwart aus dem Jahr 1880 heißt es:

»Der Kampf zwischen Licht und Finsternis wird nicht an einem Abend oder in einem Jahre ausgekämpft, er dauert so lange, bis wir die müden Augen zur Ruhe senken; wer ein tapferer Kämpfer sein will, der muss sich geloben, getreu zu sein bis in den Tod, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen, bis ihm beigelegt wird die Krone der Gerechtigkeit. Für das Licht kämpfen ist nicht leicht, denn die Finsternis ist schlecht, aber schon das Bewusstsein, für die gute Sache zu streiten und hin und wieder doch einen Sieg zu gewinnen, erhebt und begeistert.« (Stöcker 1890: 101)

Die säkulare Adaption des Manichäismus führt zu einer Pseudoreligion, welche die Erlösung der Welt durch die Vernichtung des „Fremden“ verheißt. Der Manichäismus potenziert die im rassistischen Verständnis angelegten Dualismen in ein mörderisches System, welches nur noch das Überleben oder den Untergang kennt. Die Historie durchläuft im manichäistischen Weltbild drei Phasen: Im Anfangszustand sind die Prinzipien der Finsternis und des Lichts vollständig getrennt, im Lauf der Geschichte befinden sie sich in einem ununterbrochen währenden Kampf miteinander, während die Endzeit auf eine endgültige Trennung per Vernichtung des Fremden hinausläuft.

»Am Ende aber werden die Bürger Jerusalems mit ihrem König am himmlischen Hof triumphieren, die Bürger Babylons aber werden mit ihrem König im Gefängnis der Hölle mit ewigen Strafen gemartert.« (Honorius Augustodunensis: Speculum, Sp. 1093 D, zitiert nach Althoff 1998: 208)

Überdeutlich erkennbar ist der Manichäismus beim pangermanistischen Historiker und Schriftsteller Ewald Banse (1883–1953), welcher der NSDAP 1933 beitrat und dessen Publikationen wie das im Jahr 1926 erschienene Werk Abendland und Morgenland dem nationalsozialistischen Rassismus den Weg ebnen halfen. Gleich zu Beginn heißt es hier:

»Tragik in jedem Menschenleben ist, dass Gut und Böse, helles und dunkles Prinzip, […] mit einem Worte: Gott und Teufel gegeneinander zu Felde liegen und um die Oberhand ringen. […] Gut sein, das heißt, das Böse abtöten. Schlecht werden, heißt das Böse nicht überwinden können. […] Diese Unterscheidung […] findet sich wieder zwischen Rasse und Rasse. Es gibt gute und es gibt schlechte Rassen. Die guten, d. h. schöpferischen Rassen sind die hellen, insbesondere die nordische oder germanische; die schlechten, d. h. nur empfangenden Rassen sind die farbigen, am meisten die schwarze. Nirgends aber auf Erden tritt das Gegenspiel zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Schaffen und Nachahmen so auffallend, so fesselnd und so lehrreich zutage wie in den beiden Nachbar-Erdteilen Abendland und Morgenland. Beide sind Gegensätze und einander feindselig seit Jahrtausenden. […] So sind Abendland und Morgenland mehr als zwei geographische Begriffe – sie sind schicksalhaft aneinander gefesselt und suchen einander zu überwinden. Es ist der lautlose Kampf von Rasse gegen Rasse, zwischen Herr und Knecht, zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Weiß und Schwarz, zwischen Gut und Böse – nun eben zwischen Gott und Teufel.« (Banse 1926: 7/8)

Die antisemitische Ideologie adaptierte das manichäistische System nicht erst in den Schriften des dt. Nationalsozialismus, sondern bereits im 4. Jh. nach Christi in Gestalt der Konzeption des Antichristen, der das Prinzip der Finsternis bzw. der Antigöttlichkeit verkörpert, für dessen Existenz die Ermordung Christi verantwortlich gemacht wurde. In der Vorstellungswelt der mittelalterlichen Judenfeindschaft bekämpfte der Antichrist als apokalyptische Figur gemeinsam mit den „roten Juden“ als den Mächten der Finsternis Christus bei dessen Wiederkunft. Erst der Sieg Christi beendet die weltliche Gemengelage von Gut und Böse und führt schließlich zur Verheißung.

In Abrede gestellt werden soll damit nicht, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s der Antisemitismus seinen ideologischen Charakter, seine politischen Erscheinungsformen, seine Träger als auch seine Funktionalität veränderte, aber es ist bemerkenswert, dass die moderne Rassenideologie dem manichäistischen Weltbild verhaftet blieb und der „Rassenkampf“ als Endzeitkampf zwischen dem Prinzip des Bösen in der Person des „Semiten“ und dem Prinzip des Guten in Gestalt des „Ariers“ im Mittelpunkt der pseudobiologisch gestützten nationalsozialistischen Weltanschauung und ihres Vernichtungsantisemitismus stand. An die Stelle von Christus trat nunmehr der „Arier“ als Lichtgestalt, als Weltenretter, der die Menschheit vom „Semiten“ erlöst.

Die Kontinuität derlei manichäistischer Denkmuster auf säkularer Grundlage verdeutlicht das klassische Werk des „Rassenantisemitismus“ nämlich Eugen Dührings im Jahr 1881 erschienene Schrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Erst dem dt. Nationalsozialismus und Autoren wie Hitler und Rosenberg gelang es, Dührings Manichäismus noch zu steigern, insofern in ihren Schriften „der Jude“ als Sinnbild alles nur erdenklich Bösen sowie als »Urstoff alles Negativen« erscheint. Der 1833 geborene Berliner Philosoph Dühring war zu Lebzeiten einer der einflussreichsten Antisemiten des Wilhelminischen Kaiserreichs. Die sogenannte „Judenfrage“ stellte sich für Dühring als Eigenheit eines elementaren Rassengegensatzes dar, der aus dem Tatbestand resultiere, dass es sich beim Judentum um den Feind aller Kulturvölker handele. Bereits bei Dühring stellen die Juden das „Prinzip der Finsternis“ dar, gegen das sich alle anderen Völker, die das „Prinzip des Lichts“ verkörpern, zu wehren hätten. Bei Dühring handelt es sich um einen endzeitlichen Kampf, der über Untergang oder Überleben entscheidet. Die „jüdische Rasse“ verfolge die Absicht, die Weltherrschaft zu erobern, alle anderen Völker zu unterdrücken wie auszubeuten und sei ein schädlicher „Parasit“, dessen „Wirt“ auf absehbare Zeit absterben werde, wenn es ihm nicht gelinge, den Überlebenskampf aufzunehmen und sich des tödlichen Feindes mittels eines Notwehraktes zu erwehren. Der Manichäismus liegt bei Dühring in aller Klarheit vor, obwohl dieser die Definition des Judentums als einer Religion für irrig hielt. Der Berliner Philosoph sah die jüdische Religion vielmehr als Ausdruck »jüdischer Rasseeigenschaften« und verstand den Monotheismus in antichristlich gewendeter Intention als Eigenheit »jüdischer Intoleranz«. Da der Rassebegriff bei Dühring zentral ist, lehnte dieser folglich eine Taufe bzw. die Konversion entschieden ab, da es so zur »Rassenmischung« komme.

Das »praktische Programm« Dührings sah die »völkerrechtliche Internierung« der Juden vor, die »Ausgliederung« von Juden sowie ihre »Deportation« bei Landesverrat, die Kontrolle ihres Vermögens sowie die Beseitigung ihres Einflusses auf dem Gebiet des Staatsapparats, der Presse und der Erziehung sowie ein Verbot von Mischehen. Als Endziel der von ihm gewünschten Politik bezeichnete Dühring explizit die »Ausscheidung des Judentums«, so heißt es etwa:

»Darum kann auch für die bis jetzt absehbaren Verhältnisse nicht auf die Anwendung jenes leitenden Grundsatzes verzichtet werden, Ausnahmeschädlichkeiten auch mit Ausnahmemitteln zu behandeln. […] Der allgemeine Weg zu einer nicht halben, sondern ganzen Lösung der Judenfrage […] kann kein blos geistiges Princip und auch kein Princip der Judenbesserung sein. Er muss in Einschränkungen von Ausnahmenatur bestehen, die allein für die Angehörigen des Judenstammes gültig sind. […] Der letzte Erfolg systematischer Einschränkungsmassregeln muss nothwendig das verhältnissmässige Zusammenschrumpfen des Judenwesens in Bevölkerungszahl und Reichthum sowie überhaupt in der Theilnahme an Staat und Gesellschaft sein.« (Dühring 1892: 136/137)

Dühring ist als einer der maßgeblichen Propheten des dt. Nationalsozialismus zu bezeichnen, insofern bei ihm der Rassenantisemitismus ganz und gar im Vordergrund steht und selbst die jüdische Religion als solche nur noch als Ausdruck von Rasseeigenschaften erscheint.

Gleichfalls zu den Propheten der Nazis zu zählen ist der Theologe und Orientalist Paul de Lagarde (1827–1891). Lagarde propagierte ein völkisches Christentum, welches von allen jüdischen Elementen zu reinigen sei, so etwa in seiner im Jahr 1873 erschienenen politischen Schrift Über das Verhältnis des dt. Staates zu Theologie, Kirche und Religion. Wie bei so manchem Judenfeind, radikalisierte sich auch der Antisemitismus des Kulturphilosophen Lagarde, der im Jahr 1881 zum Schluss gelangte »wer Beschneidung, Speisegesetze, jüdischen Monotheismus und Aehnliches als eine Forderung der Religion ansieht, gehört nach Palästina, aber nicht in den deutschen Staat.« Die Juden bildeten für Lagarde das Haupthindernis auf dem Weg zur »inneren Reichseinheit«. Zwar war die völlige Assimilation der Juden auch vor Lagarde das Ziel antisemitischer Autoren, doch der Berliner Gymnasiallehrer verband diese Sichtweise mit der Forderung nach einer unerbittlichen Aussiedelung der Juden, falls diese nicht »vom Judenthume geheilt werden« könnten. Bereits in einem Vortrag aus dem Jahr 1853 heißt es:

»Bleiben die Juden in Mitteleuropa, so müssen sie ihr Judenthum (auch ihre Religion) so aufgeben, dass sie als Juden gar nicht mehr erkennbar sind. Aber um Gottes willen, ganz herein mit ihnen, oder ganz hinaus.« (Lagarde 1903: 35)

Die fortschreitende Radikalisierung Lagardes wird am Tatbestand deutlich, dass dieser in den kommenden drei Jahrzehnten die Position der Rassentheoretiker übernahm und nunmehr von den Juden als »fremder Rasse« sprach. So heißt es in der Schrift Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate von 1881, die sich der Begrifflichkeit des „Semiten“ bedient und verdeutlicht, warum Lagarde als Prophet des dt. Nationalsozialismus zu betrachten ist:

»Die Alliance Israeélite ist nichts als eine dem Freimaurerthume ähnliche internationale Weltherrschaft, auf semitischem Gebiete dasselbe was der Jesuitenorden auf katholischem ist: ihr bloßes Dasein erhärtet, daß die in Deutschland, Frankreich, England wohnenden Juden nicht Deutsche, Franzosen, Engländer, sondern Juden sind. […] Jeder fremde Körper in einem lebendigen anderen erzeugt Unbehagen, Krankheit oder sogar Eiterung und Tod. […] Die Juden sind als Juden in jedem europäischen Staate Fremde, und als Fremde nichts anderes als Träger der Verwesung.« (Lagarde 1903: 255/256)

In Lagardes Spätschriften wird bereits der Vernichtungsantisemitismus des dt. Nationalsozialismus sichtbar, insofern die Juden hier stets aufs Neue mit Termini wie »Krankheit«, »Eiterung«, »Fieber«, »Bazillen«, »Trichinen« sowie »Ungeziefer« konnotiert werden:

»Ich habe längst […] Haarsträubendes über die Wucherjuden […] gehört. […] Es handelt sich übrigens nicht allein um den Geld- und Kreditwucher, sondern auch um den Viehwucher, den Grundstückswucher, den Warenwucher. Die Praktiken der Wucherer sind überall dieselben […]. Erkunde oder beobachte man doch, wieviel Prozent dieser Wucherer Juden sind! […] Es gehört ein Herz von der Härte einer Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden, und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.« (Lagarde 1924: 209)

Neben überkommenen Motiven des Judenhasses treten hier im Kontext dehumanisierender Pathologisierung der Juden (»Trichinen«, »Bazillen«) die Tötungsfantasien des Autors offen zu Tage. Der manichäistische Antagonismus zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse, zwischen Ordnung und Chaos wird bei Lagarde durch die endgültige Trennung per Vernichtung der Juden gelöst. Binäre Konstrukte, die einen strikten Antagonismus zugrunde legen, gibt es zwar auch bei anderen Spielarten des Rassismus, der Manichäismus besitzt indes in seiner Heilserwartung eine weltweite Dimension, insofern er eine „globale Welterlösung“ propagiert. Dergestalt betrachtet offenbart das Wannsee-Protokoll den manichäistischen Charakter der ideologischen Seite des Antisemitismus, insofern es den spätimperialistischen Weltherrschaftsanspruch des dt. Nationalsozialismus enthüllt, der den finalen Kampf gegen die Finsternis global dimensioniert und einfach alle Juden zu töten beabsichtigt. Das Gerede vom „Weltjudentum“, das die „arische Rasse“ auf dem Weg zur „jüdischen Weltherrschaft“ vernichten wolle, stellt dergestalt betrachtet lediglich eine inversive Projektion der manichäistischen Seite des Antisemitismus auf das Opfer dar.

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