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EINLEITUNG

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Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag. Der jüdische Kalender, der ein Lunisolarkalender ist, d. h. 12 Mond-Monate umfasst und zur Angleichung an das Sonnen-Jahr alle drei Jahre einen dreizehnten Mond-Monat einfügt, legt das Datum des Versöhnungsfestes auf den 10. Tag des Monats Tischri fest. Im Jahr 2019 war dies der 9. Oktober. Der als strenger Ruhe- und Fastentag begangene Jom Kippur bildet Höhepunkt wie Abschluss der sogenannten „zehn Tage der Reue und Umkehr“. Gebete, Fasten, Wohltätigkeit oder Selbstreflexion füllen den Tag aus, der auch von nicht-religiösen Juden begangen wird.

Am 9. Oktober 2019 befinden sich gegen Mittag 51 Personen in der Synagoge in Halle, als der 1992 in Eisleben geborene Stephan Balliet, welcher der Tat bezichtigt wird, diese mit der Absicht erreicht, sich mit Waffengewalt Zugang zur Synagoge zu verschaffen und einen Massenmord an den dort versammelten Juden zu begehen. Die antisemitischen Motive für seine Tat hatte er eine Woche zuvor in einem in Englisch verfassten Bekennerschreiben im Internet bekannt gegeben. Dort heißt es: »Geh rein und töte alles … Improvisiere, wenn etwas schief geht. Fahr weg. Töte noch mehr. Wiederhole, bis alle Juden tot sind …«

Das Pamphlet von Balliet steht in der Tradition der „Fourteen Words“, eines vor allem in den USA weitverbreiteten Bekenntnisses von Neonazis sowie von weißen Rassisten. Die vierzehn Wörter lauten auf Englisch: »We must secure the existence of our people and a future for White children.« Als Erfinder der „14 Wörter“, die der rechten Szene auch als Zahlencode dienen, gilt der US-amerikanische Rechtsextremist David Eden Lane (1938–2007), der an der Ermordung des jüdischen Radiomoderators Alan Berg (1934–1984) im Juni 1984 beteiligt war. Der liberal gesinnte Berg, den die rechtsextreme Szene hasste, wurde von der neonazistischen Terrorgruppe „The Order“ vor seinem Haus erschossen. Die Terrororganisation „The Order“, der Lane angehörte, teilte die Ideologie der White Supremacy-Bewegung, raubte Banken sowie Geldtransporter aus und verübte einen Bombenanschlag auf eine Synagoge. „The Order“ erstellte Todeslisten, auf denen auch Berg stand. Gründungsmitglieder von „The Order“ wie Lane, der im Alter von 68 Jahren in einem US-amerikanischen Staatsgefängnis im Jahr 2007 starb, werden bis heute von der White-Power-Bewegung als Helden verehrt. Lane, der 1981 der „Aryan Nations“ beitrat, machte 1983 das politische Schlagwort von den USA als „Zionist Occupied Government“ (ZOG) in rechtsextremen Kreisen populär. ZOG-Graffitis sind bis heute an US-amerikanischen Garagen- wie Häuserwänden zu erblicken. Die Erzählstruktur der zugrundeliegenden antisemitischen Pamphlete ist dabei stets die gleiche geblieben. In verschwörungstheoretischer Manier wird die Behauptung von einer angeblich von Juden kontrollierten US-amerikanischen Regierung aufgestellt, ist von einer jüdischen Weltverschwörung die Rede, welche die Absicht verfolge, ein Waffenverbot in den USA durchzusetzen, um „Weiße“ wehrlos zu machen und um so den „Tod der weißen Rasse“ zu bewirken. Terrorismus erscheint auf diese Weise als adäquates Gegenmittel, als legitimer Akt der Notwehr, um die USA von ihrer „jüdischen Regierung“ zu befreien und den Sieg der „arischen Rasse“ einzuleiten, die in den „14 Words“ als »our people« bezeichnet wird. Zwar sei die „weiße Rasse“ allen anderen überlegen, befände sich indes in einem Überlebenskampf gegen die „Rasse“ der Juden, welche die „Rasse“ der Schwarzen und der Latinos instrumentalisiere, um die Weißen von ihrem angestammten Platz („White Supremacy“) zu vertreiben und zu vernichten.

Offensichtliches Vorbild für den Attentäter auf die Synagoge von Halle war der Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (15. März 2019) gut ein halbes Jahr zuvor. Der Australier Brenton Tarrant, welcher der Tat bezichtigt wird, veröffentlichte gleichfalls ein Manifest im Internet und versah sein Pamphlet mit dem Titel The Great Replacement. Tarrant und Balliet wie auch der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik teilen den Verschwörungsmythos vom „Großen Austausch“, der ein zentrales Schlüsseltheorem der neuen Rechten darstellt und sich in ausgeprägter Weise ebenso in Reden des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán (vgl. Kap. 4.4) findet. Der verschwörungstheoretische Mythos vom „Bevölkerungsaustausch“ unterstellt die Existenz eines geheimen Plans, um in den USA sowie in Europa die weiße Mehrheitsbevölkerung gegen nichtweiße, migrantische Einwanderer auszutauschen. Das rassifizierende Konstrukt vom vermeintlich „mächtigen Juden“ sowie die Langlebigkeit der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion (vgl. Kap. 1.9) machen sich in diesem Kontext dahingehend bemerkbar, dass zumeist „die Juden“ für den bevölkerungspolitischen Geheimplan des „Großen Austausches“ als Urheber ausfindig gemacht werden. Bei Victor Orbán ist dies der in Ungarn geborene US-amerikanische Philanthrop George Soros. „Die Juden“, welche angeblich „die Globalisierung“ und „die Wirtschaft“ steuerten sowie den Gedanken des Multikulturalismus propagierten, verfolgten mittels ihres Einflusses auf Parteien, die Europäische Union sowie die Vereinten Nationen unerbittlich das Konzept des „großen Genozids“, welches den Untergang von „White America“, „White Europe“ sowie der „White People“ intendiere. Ideologische Bezüge zum dt. Nationalsozialismus sowie zu „rassentheoretischen“ Werken eines Madison Grant (1865–1937) und dessen Hauptwerk The Passing of the Great Race (1916) – von Adolf Hitler als »seine Bibel« bezeichnet – sowie zu Lothrop Stoddard (1883–1950) und dessen Standardwerk The Rising Tide of Color Against White World-Supremacy (1920) sind unübersehbar und offenbaren die lange Tradition rechtsextremistischen Gedankenguts. Nicht zuletzt das Attentat von Halle verdeutlicht den Sachverhalt, dass der „klassische Antisemitismus“ nach 1945 nie verschwunden war und diesbezügliche Annahmen sich nunmehr als reine Illusion erweisen.

Wie stark der Attentäter von Halle judenfeindliches US-amerikanisches Gedankengut adaptierte, wird auch daran ersichtlich, dass er sich englischsprachiger Termini bediente, die hierzulande eher unbekannt sind, indes auf neonazistischen Seiten im Internet Verwendung finden. So benutzte er in seinem Hasspamphlet an mehreren Stellen für Juden den Terminus „Kikes“, ein Wort, das in den USA zu Beginn des 20. Jh.s als diffamierender Begriff für Juden aufkam und vermutlich auf der Insel Ellis Island entstand, die als Sitz der Einreisebehörde sowie als zentrale Sammelstelle für Einwanderer in die USA diente. Jüdische Einwanderer, die Analphabeten oder der lateinischen Buchstaben nicht mächtig waren, sollen sich dort geweigert haben, Formulare mit dem üblichen „X“ zu zeichnen, weil sie dies für ein christliches Kreuz hielten, und stattdessen mit einem Kreis signiert haben, sodass das jiddische Wort „kikel“ für Kreis in diskriminierender Absicht für Juden benutzt wurde. Vermutlich handelt es sich bei dieser Erklärung indes eher um eine antisemitische Legende im Kontext christlicher Judenfeindschaft als um eine ernsthafte Klärung der Herkunft des Wortes. Etymologisch wahrscheinlicher dürfte es sein, dass der Terminus benutzt wurde, um im Sinne eines rassistischen Rankings deutsche Juden von osteuropäischen Juden zu unterscheiden und letztere mit dem Terminus als „das Allerletzte“ zu kennzeichnen, wobei man hierfür an die bei osteuropäischen Namen geläufige Endung -ki bzw. -ky anknüpfte. Unabhängig von der ungesicherten etymologischen Herkunft des Wortes, benutzt der Attentäter von Halle den Terminus, um deutlich zu machen, dass Juden für ihn Nicht-Deutsche sind, Einwanderer, die hier nicht hingehören, ungebildete Menschen, um sich so seiner „eigenen Höherwertigkeit“ als „weißer Mann“ im Kontext der Verarbeitung eigener Minderwertigkeitskomplexe zu vergewissern.

Seine Tat streamte der Attentäter von Halle; der Massenmord sollte in Echtzeit im Internet zu sehen sein. »Hello my name is anon [gemeint ist anonymous, d. Verf.], and I think the holocaust never happened.« Antisemitische Verschwörungstheorien mischen sich so mit Holocaustleugnung, antimigrantischem Rassismus sowie dem seit Friedrich Hollaenders Couplet »An Allem sind die Juden schuld« bekannten Wahn, im Juden den Schuldigen an einfach allem zu erblicken, an gesellschaftlichen Umbrüchen, prekären sozialen Lagen ebenso wie an rein privaten Problemen. Nur durch ein Wunder gelang es dem Angreifer nicht, die Tür der Synagoge aufzuschießen bzw. aufzusprengen. Wie ernst es ihm bei seinen Mordabsichten indes war, wird nicht zuletzt daran ersichtlich, wie kaltblütig er zwei unbeteiligte Personen aus purer Wut, da er nicht in die Synagoge gelangte, erschoss, um seinen Blutrausch ersatzweise zu befriedigen.

Unverzüglich nach der Tat wird vom »Täter aus dem Nichts« gesprochen, von »nichtvorhersehbar«, es sei schwer für die Polizei, einen solchen »Einzelgänger«, der sich einzig und allein im Netz radikalisiert habe, auf dem Schirm zu haben. Die Tat wird deklariert als eine, die von ungefähr gekommen sei. In Maybrit Illners Talkshow Anschlag in Halle – tödlicher Judenhass in Deutschland vom 10. Oktober 2019 bemühte sich Rainer Erich Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, nach Kräften darum, das Attentat von Halle zu externalisieren. Als Ursachen machte er die Gamer-Szene aus sowie das Darknet, mit dem der „gute Bürger“ nicht in Verbindung zu bringen sei. Die Tat kommt auf diese Weise nicht mehr aus der Mitte der Gesellschaft – in der Antisemitismus sowie weitere Varianten des Rassismus beängstigend angestiegen sind, was Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, noch unmittelbar vor Halle bestätigte –, sondern aus dem „Dunklen Netz“, dem „Ort des Bösen“. Statt sich dem gesellschaftlichen Problem Antisemitismus zu stellen, wird nach Halle eine Nach-Außen-Verlagerung, eine Abwälzung auf das Internet betrieben, so als wenn dieses nicht Teil unserer Gesellschaft wäre. Die Tat kommt indes alles andere als von ungefähr.

Zu klären ist nicht zuletzt, warum das Anwachsen des Antisemitismus in den letzten Jahren derart unterschätzt wurde. Zu konstatieren ist, dass das Geschwafel vom „vergessen sie den guten, alten Antisemitismus“, da dieser angeblich tot und unbedeutend geworden sei, eine höchstgefährliche, naive Einschätzung war, die davon abgelenkt hat, dass die Polizeistatistik eine eindeutige Sprache spricht und die Täter antisemitischer Taten in Deutschland noch immer überwiegend der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind. Zu debattieren ist darüber, dass die aus der Mitte der dt. Gesellschaft entsprungene deutsche Beschneidungsdebatte (vgl. Kap. 4.4) viel mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Sinne des sekundären Antisemitismus (vgl. Kap. 4) zu tun hatte wie mit dem „guten, alten Antisemitismus“, insofern ein Verbot der Beschneidung ein religiöses Ritual kriminalisiert hätte, welches auf eine lange Tradition als Zielscheibe der Judenfeindschaft zurückblicken kann.

Der Rechtsextremist, der einen antisemitischen Terroranschlag durchführt, stellt dergestalt betrachtet nur die Spitze des gesellschaftlichen Problems dar und dies reicht von unbelehrbaren Altlinken und ihrem israelbezogenen Antisemitismus, der sogenannten Schlussstrich-Debatte, des sich Verweigerns eines Großteils der dt. Historiker angesichts der Goldhagen-Debatte, der nach wie vor existenten Bereitschaft in großen Teilen der dt. Bevölkerung sich die NS-Zeit „schön zu reden“ und die Zahl der Mörder niedrig zu schätzen, über die mit antisemitischen Untertönen randvoll bestückte Beschneidungsdebatte, den zu geringen Aktivitäten von Islamverbänden angesichts des Antisemitismus von Muslimen, dem Weghören von Lehrkräften bei judenfeindlichen antisemitischen Sprüchen ihrer Schüler (»Ex oder Jude«), dem Wegsehen gar beim Mobbing gegen jüdische Kinder bis hin zur AfD sowie der derzeit hohen Willigkeit, einer Partei seine Stimme zu geben, die tagtäglich Hass schürt und in entscheidendem Maß mit dazu beiträgt, unmittelbar gewaltbereite rechtsextremistische Täter zur Tat anzustacheln.

Der Täter von Halle war nicht allein, er war kein „einsamer Wolf“, er hat u. a. virtuelle Kontakte gehabt, er hat mit konkreten Personen und nicht mit Sprachrobotern im Internet kommuniziert, die ihn durch ihre Ansichten weiter radikalisiert haben, er hat sich durch das Attentat in Neuseeland inspirieren lassen, dessen Täter zuvor in Österreich den Kontakt zur dortigen identitären Bewegung suchte und vermutlich auch fand. Ein Attentäter nimmt vor seiner Mordtat auf vielfältige Weise Signale der Gesellschaft auf, welche diese ihm vermittelt. In einer Gesellschaft, in der dt. Politiker noch immer weitgehend ungeächtet sagen dürfen „Mutter aller Probleme ist die Migration“, sieht sich ein Attentäter auf dem Weg seiner weiteren Radikalisierung bestätigt. Am Ende eines längeren Prozesses lesen wir schließlich in seinem Bekennerschreiben: »Zum Sterben auserwählt. Töte einen Juden«, »Anudda Shoa. Töte 6 Juden«, »Gleichstellung der Geschlechter. Töte eine Jüdin«, »Warum nicht beides? Töte einen Moslem und einen Juden«, »Das Feuer erhebt sich. Brenne eine Synagoge nieder«, »Krustiger Kebab. Brenne eine Moschee nieder«, »Kulturelle Aneignung. Stich Sie in einen Moslem ab«, »Mitternachts-Völkermord. Töte 3 Nigger zwischen 23 und 1 Uhr«, »Blau-gescreent. Töte einen ZOG-Bot.« Es ist an der Zeit für eine neue Antisemitismusdebatte, die das Maß der Bedrohung für Juden und Jüdinnen zur Kenntnis nimmt, für die Entwicklung effektiver, gesamtgesellschaftlicher Konzeptionen gegen den Antisemitismus wie gegen jegliche Spielart des Rassismus. Es ist Zeit, entschieden Widerstand zu leisten.

Das erste Kapitel des Buchs widmet sich dem Antisemitismus von der Mitte des 19. Jh.s bis 1918. Es ist die Hochzeit der „modernen Rassenlehren“, die wie der Philosoph Eugen Dühring zumeist „die Juden“ als „Gegenrasse“ zur „germanischen oder arischen Rasse“ konstruierten sowie in der „Rassenvermischung“ einen „Rassezerfall“ der „qualitativ höherwertigeren Rasse“ sahen. Zwar sind „Rassen“ nichts als die Erfindung des Rassisten und konnten sich diverse Rassetheoretiker noch nicht einmal auf die Anzahl der vermeintlichen „Hauptrassen“ verständigen, gleichwohl veränderte die Judenfeindschaft dadurch ihre Gestalt. Der Antisemitismus biologisierte sich indes nicht nur, er politisierte sich auch, insofern sich im Wilhelminischen Kaiserreich diverse Parteien im Kampf um Wählerstimmen des Antisemitismus bedienten. Das Jahr 1903 kann als das Ursprungsjahr moderner Verschwörungstheorien gelten, denen sich in ideologischer Hinsicht auch der Täter von Halle bediente, insofern im Russischen Kaiserreich erstmals eine Version der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion erschien, die „das Weltjudentum“ bezichtigte, in geheimen Treffen einen Plan für die Eroberung der Weltherrschaft erarbeitet zu haben, um ein kommendes „jüdisches Weltreich“ zu errichten. In seiner Wirkung bezüglich des Antisemitismus nicht zu unterschätzen ist ebenso der Erste Weltkrieg, der sich als eine Art Katalysator eines sich radikalisierenden Antisemitismus bezeichnen lässt. Die durch den Ersten Weltkrieg in Gang gesetzte Brutalisierung des Antisemitismus verdeutlichen nicht zuletzt die Morde an Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Walther Rathenau.

Das zweite Kapitel des Buchs behandelt die Zwischenkriegszeit zwischen den beiden Weltkriegen. Die Protokolle der Weisen von Zion erlangten in den 1920-er-Jahren internationale Verbreitung und dienten der politischen Reaktion dazu, „die Juden“ zu bezichtigen, Revolutionen wie die Oktoberrevolution in Russland entfacht zu haben, um die „jüdische Weltbeherrschung“ zu verwirklichen. Die Legende vom Weltherrschaftsstreben der Juden in Gestalt der „Protokolle“ verbreiteten in den USA der Autobauer Henry Ford (1863–1947) und in Deutschland der NSDAP-Ideologe Alfred Ernst Rosenberg (1892–1946), der mit seinen Propagandabroschüren auch das antisemitische Ideologem vom angeblich jüdischen Bolschewismus („Judäo-Bolschewismus“) populär machte. Als Auslöser für einen militanter werdenden Antisemitismus dienten in der Zwischenkriegszeit neben der revolutionären Nachkriegskrise ebenso das Trauma der Kriegsniederlage, der erstarkende Nationalismus sowie die Weltwirtschaftskrise.

Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Vernichtungsantisemitismus des dt. Nationalsozialismus, dessen Judenfeindschaft von Anfang an auf die Eliminatorik der dt. Juden zielte. Zwar war der Weg nach Auschwitz im Jahr der Machtübernahme der Nazis nicht vorprogrammiert, gleichwohl als potentielle Option immanent. Bereits mit dem Einmarsch der dt. Wehrmacht in Polen begannen die Massenmorde an den polnischen Juden. Im Jahr der Befreiung vom dt. Nationalsozialismus werden sechs Millionen Jüdinnen und Juden die deutsche Terrorherrschaft mit ihrem Leben bezahlt haben. Die Singularität der Shoah resultiert dabei nicht zuletzt aus der Vielzahl der involvierten Länder, der jüdischen Opfer aus nahezu ganz Europa sowie aus dem Sachverhalt, dass zwar Deutsche die Hauptschuld am Holocaust tragen, das Ausmaß des Genozids des deutschen Haupttäters indes nur durch ein Heer von Mittätern möglich war, durch Kollaboration, Schließen der eigenen Grenzen, Verweigerung der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge, Schweigen der Kirchen sowie internationaler Organisationen und durch aktive Beteiligung an Deportationen mittels Verhaftungen und Bereitstellung von Zügen, die in Richtung der deutschen Vernichtungslager fuhren.

Das vierte Kapitel bespricht die historische Entwicklung des Post-Shoah-Antisemitismus nach 1945 und widmet sich den aktuellen Entwicklungstendenzen der Judenfeindschaft. Der Antisemitismus nach 1945 ist nicht zuletzt im Sinne Sigmund Freuds als Schuldabwehr zu interpretieren, die sich in zahlreichen dt. Debatten in Gestalt der Täter-Opfer-Umkehr, der Solidarisierung mit den Tätern des Völkermords oder gar dem unverhüllten Leugnen der Shoah offenbart. Neuartige Erscheinungen des sogenannten sekundären Antisemitismus mischen sich dabei mit traditionellen Varianten zumal der rechtsextremistische Antisemitismus bis auf die heutigen Tage alles andere als verschwunden ist. Zu den Erscheinungsformen des sekundären Antisemitismus zählt auch der sogenannte „umgelenkte Antisemitismus“, bei dem der antisemitische Akteur dasjenige, was er „dem Juden“ gerne sagen würde, im Kontext abstrakter Sachverhalte äußert oder gegenüber einer dritten Person artikuliert. Hierzu zählen „Wall-Street-Fantasien“, verkürzte Kapitalismuskritiken, Personifizierungen des Kapitalismus, die dt. Beschneidungsdebatte ebenso wie die sogenannte „Israelkritik“, die in jüngster Zeit einen deutlich wachsenden Stellenwert eingenommen hat. Zu den aktuellen Entwicklungstendenzen des Antisemitismus gehören gleichfalls höchst bedenkliche Tendenzen in den osteuropäischen, postkommunistischen Nationalstaaten, allen voran in Ungarn und Polen, der Antisemitismus von Migranten in Frankreich, die Judenfeindschaft von Muslimen und alles andere als zuletzt der Antisemitismus der sich in Deutschland etabliert habenden AfD, die mit dazu beiträgt, unmittelbar gewaltbereite Rechtsextremisten wie in Halle zu ihren mörderischen Taten zu motivieren.

Antisemitismus

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