Читать книгу Am Ende sterben wir sowieso - Adam Silvera - Страница 6

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Dad duscht immer heiß, um runterzukommen, wenn er wütend oder enttäuscht von sich ist. Ungefähr mit dreizehn habe ich angefangen, ihm das nachzumachen, weil damals viele verwirrende Mateo-Gedanken aufgetaucht sind und ich massenhaft Mateo-Zeit brauchte, um sie zu sortieren. Auch jetzt dusche ich, denn ich fühle mich schuldig, weil ich darauf hoffe, dass die Welt – oder zumindest ein Teil davon, abgesehen von Lidia und meinem Dad – traurig sein wird, wenn ich weg bin. Weil ich es versäumt habe, mich an all den Tagen, als der Todesbote noch nicht angerufen hatte, voll und ganz ins Leben zu stürzen. Weil ich meine gesamte Vergangenheit verschwendet habe und es jetzt keine Zukunft mehr für mich gibt.

Ich werde es niemandem sagen. Außer Dad, aber der ist nicht bei Bewusstsein, deshalb zählt das nicht. Ich will mich an meinem letzten Tag nicht dauernd fragen müssen, ob die Leute es ernst meinen, wenn sie mir traurige Worte schenken. Niemand sollte seine letzten Stunden damit zubringen müssen, die wahren Beweggründe der Menschen herauszufinden.

Aber ich muss hinaus in die Welt und mir einreden, dass heute ein ganz normaler Tag ist. Ich muss Dad im Krankenhaus besuchen und zum ersten Mal seit meiner Kindheit seine Hand halten, was gleichzeitig auch das letzte Mal sein wird … puh, das allerletzte Mal.

Ich werde weg sein, bevor ich mich an den Gedanken meiner Sterblichkeit gewöhnen konnte.

Auch Lidia und ihre einjährige Tochter Penny muss ich besuchen. Lidia hat mich bei der Geburt gefragt, ob ich Pennys Pate sein will, und es ist echt ätzend, dass ausgerechnet ich derjenige bin, der sich eigentlich um Penny kümmern soll, falls Lidia etwas zustößt, da Lidias Freund Christian vor gut einem Jahr gestorben ist. Nur wie soll sich ein Achtzehnjähriger ohne eigenes Einkommen um ein Baby kümmern? Kurze Antwort: Gar nicht. Aber ich hätte älter werden, Penny Geschichten über ihre weltrettende Mutter und ihren coolen Vater erzählen können und sie zu mir nach Hause einladen, sobald ich finanziell abgesichert und emotional in der Lage dazu gewesen wäre. Jetzt werde ich aus ihrem Leben gerissen, bevor ich mehr bin als irgendein Typ in einem Fotoalbum, über den Lidia Geschichten erzählt, bei denen Penny mit dem Kopf nickt und sich vielleicht über meine Brille lustig macht, aber dann schnell die Seite umblättert, um zu Familienmitgliedern zu kommen, die sie wirklich kennt und die ihr wichtig sind. Ich werde für sie nicht einmal ein Geist sein. Aber das ist kein Grund, sie nicht noch ein letztes Mal zu kitzeln, ihr Kürbis oder Erbsen aus dem Gesicht zu wischen oder Lidia eine kurze Pause zu verschaffen, damit sie für ihren Schulabschluss lernen, sich die Zähne putzen, die Haare kämmen oder ein wenig schlafen kann.

Anschließend werde ich mich irgendwie von meiner besten Freundin und ihrer Tochter losreißen und gezwungenermaßen endlich leben.

Ich stelle das Wasser ab und es prasselt nicht mehr länger auf mich herunter. Heute ist kein Tag für stundenlanges Duschen. Ich nehme meine Brille vom Waschbecken und setze sie auf. Dann steige ich aus der Wanne und rutsche in einer Pfütze aus. Während ich nach hinten falle, warte ich schon darauf, zu erfahren, ob es tatsächlich stimmt, dass das ganze Leben noch einmal an einem vorbeizieht. Doch dann bekomme ich die Handtuchstange zu fassen und kann mich festhalten. Ich atme ein paarmal tief durch, denn ausgerechnet so zu sterben wäre ein extrem unglücklicher Abgang. Irgendjemand würde mich auf die Liste »K.o. in der Dusche« setzen – auf dem Blog Törichte Todesfälle, eine viel besuchte Seite, die ich aus den unterschiedlichsten Gründen widerlich finde.

Ich muss hier raus und leben – aber zuerst muss ich es heil aus der Wohnung schaffen.

Am Ende sterben wir sowieso

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